1.8 (mu11p): Reichstagswahlen und Rücktritt des Kabinetts

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Das Kabinett Müller IHermann Müller Bild 146-1979-122-28APlakat der SPD zur Reichstagswahl 1920Plak 002-020-002Wahlplakat der DNVP Plak 002-029-006Wahlplakat der DDP Plak 002-027-005

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Reichstagswahlen und Rücktritt des Kabinetts

Eine der Forderungen der Putschisten während der Märztage hatte gelautet: Wahlen zum Reichstag. Diese Forderung entsprach wohl den Buchstaben, nicht aber dem Geist der Verfassung, da bisher die innere Festigung des Verfassungssystems fehlte. Dennoch erklärte der Reichskanzler in seiner Regierungserklärung, daß alsbald Wahlen abgehalten würden269. In der Kabinettssitzung vom 1. April verlangte der Innenminister, daß der Termin noch vor der Ernte liegen solle; da Minister Hermes die gleiche Ansicht vertrat, einigte sich das Kabinett auf den 6. Juni als Wahltag270. Spätere Termine wurden für die Plebiszitgebiete in Ostpreußen, Oberschlesien und Schleswig-Holstein vorgesehen sowie für einen Teil des Kreises Namslau. Die Bevölkerung dieser Reichsteile sollte durch einen Aufruf unterrichtet werden, weshalb sie nicht gemeinsam mit dem übrigen Reich zur Abstimmung gehen könne271. Wegen der Einberufung des ersten republikanischen Reichstags hatte sich der Innenminister mit dem Präsidenten der Nationalversammlung in Verbindung zu setzen. Da die Reichsverfassung keine Bestimmung enthielt, mußte in Analogie zu deren Bestimmungen in den Artikeln 77 und 180 gehandelt werden272.

269

NatVers. Bd. 332, S. 4932 , 4937 .

270

Dok. Nr. 8, P. 3.

271

Dok. Nr. 75, P. 4.

272

Dok. Nr. 97, P. 4.

[LXIII] Über die Stimmung vor den Wahlen ist aus den Akten der Reichskanzlei nur wenig zu ersehen. Graf Zech berichtete aus München, daß die gleichzeitigen Landtagswahlen ein größeres Interesse bei der bayerischen Bevölkerung erregten. Mit Sicherheit würden SPD und DDP Niederlagen hinnehmen müssen und die BVP als Siegerin aus den Wahlen hervorgehen273. Aber auch in Berlin bestand angesichts der inneren politischen Entwicklung und des Drucks der Entente nur wenig Hoffnung, daß die bisherige Koalition im Reich einen Erfolg erringen könne274.

273

Dok. Nr. 110.

274

Dok. Nr. 99; 100.

Der Wahltag, der 6. Juni 1920, gehört zu den entscheidenden Wendepunkten in der Geschichte der Weimarer Republik; denn an diesem Tag entschied sich die Bevölkerung, wie die Regierung befürchtet hatte, gegen die „Weimarer Koalition“, die in der Zusammensetzung von SPD, DDP und Zentrum die Mehrheit in der verfassunggebenden Nationalversammlung besessen hatte. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung hatten diese drei Parteien mit 76,2 Prozent der abgegebenen Stimmen über 329 der 421 Mandate verfügen können. Bei den Reichstagswahlen erhielten sie bloß 43,6 Prozent der Stimmen und verfügten nur noch über 205 von 459 Sitzen. Die rechtsbürgerlichen Parteien DNVP und DVP hatten jetzt 29,1 Prozent statt 14,7 Prozent der Stimmen erhalten und besetzten nun 136 Sitze statt 63 Sitzen in der Nationalversammlung. Die BVP, die seit dem Januar 1920 eine selbständige Partei war, errang 4,2 Prozent der Stimmen und 21 Sitze. Auf dem linken Flügel der Parteien hatte die USPD mit 18 Prozent der Stimmen 84 Sitze errungen, nachdem sie in die Nationalversammlung von 7,6 Prozent der Wähler entsandt worden war und dort 22 Vertreter gehabt hatte. Die KPD zog erstmals mit 4 Abgeordneten in das Parlament ein; nur 2 Prozent der Wähler hatten sich für sie entschieden.

Das Wahlergebnis läßt keinen Zweifel an der Meinung der Bevölkerung zu. In ihrer Mehrheit lehnte sie die Parteien ab, die im Kampf gegen Extremismus und Radikalismus von rechts und links nach dem Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschlands eine neue Staatsordnung aufgebaut und einen Friedensvertrag unterzeichnet hatten, dessen Härte der Öffentlichkeit bewußter war als seine Unabwendbarkeit. Doch noch galt die Kritik der Wähler nicht der Reparationspolitik; denn die Reihe der Reparationskonferenzen begann erst im Juli in Spa und der Ausdruck „Erfüllungspolitiker“, von den Rechtsparteien zur Diffamierung gemäßigter Außenpolitiker benutzt, war noch nicht geprägt. Die Wahlen vom 6. Juni galten dem neuen Staatswesen und seinen von Anfang an umkämpften Institutionen.

Die Wähler der rechtsbürgerlichen Parteien betrachteten den Parlamentarismus skeptisch und hielten die Unruhen, die die Republik seit ihrem Bestehen begleiteten, für deren typischen Zustand. Hinzu kam, daß besonders von der DNVP die Staatsumwälzung als Verrat am Volk und „Dolchstoß in den Rücken des Heeres“ bezeichnet wurde. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Februar 1919 hatten solche Parolen nur geringe Resonanz gefunden, da die Erinnerung an die unmittelbare Vergangenheit ihre Unglaubwürdigkeit[LXIV] bewies. Anderthalb Jahre später verfehlten diese Behauptungen unter dem Eindruck des Friedensvertrags und der Anfangsschwierigkeiten der Republik ihre Wirkung nicht275.

275

Bezeichnend für diese Situation sind die Feststellungen Friedrich Meineckes über die Schwächung der Staatsautorität in Deutschland: „Schließlich haben wir, nicht zufrieden mit dem, was die Feinde zu unserer Schwächung und Herabdrückung sich ausgedacht haben, auch noch durch die eigene Verblendung des Parteihasses zu ihr beigetragen. Statt gemeinsam mit den Linksparteien auf dem einzigen uns gebliebenen Wege der Demokratie und der Republik eine neue starke Staatsautorität wieder aufzurichten, haben die Rechtsparteien das Äußerste getan, um die Republik ihren Anhängern zu verekeln“ (Das preußisch-deutsche Problem im Jahr 1921, in: Weltbürger und Nationalstaat, S. 457 f.).

Der Wahlfeldzug der USPD und der KPD, die gleichfalls den Staat der Weimarer Verfassung ablehnten, hatte sich gegen das Ende der revolutionären Bewegung gerichtet. Die Regierungsform, der Beamtenapparat und die Reichswehr riefen bei beiden Parteien und ihren Wählern den Eindruck hervor, daß die staatlichen Institutionen beim Übergang vom Kaiserreich zur Republik eine verhängnisvolle Kontinuität gewahrt hatten, daß die Masse der arbeitenden Bevölkerung von den politischen Entscheidungen ferngehalten werde und ihre Mitbestimmung an den Produktivkräften unterbunden worden sei. Während die KPD sich ausschließlich zur Diktatur des Proletariats bekannte und im Reichstag vornehmlich ein Propagandaforum erblickte, das sie benutzen wollte, um ihren Zielen näher zu kommen, lehnten große Teile der USPD den Parlamentarismus nicht ab, meinten aber, daß auch eine auf dem Rätegedanken aufbauende Staatsform denkbar sei, wenn sie in die Lage gebracht werde, den Volkswillen wiederzuspiegeln. Viele Wähler entschieden sich für die radikale Linke, da sie sich durch den Kapp-Putsch in ihrer Ansicht bestätigt sahen, daß die „Weimarer Parteien“ nicht fähig seien, die restaurativen und reaktionären Kräfte unter Kontrolle zu halten, und daß die Mehrheitssozialdemokraten als stärkste Partei der Weimarer Koalition nach dem Kapp-Putsch nicht die Chance wahrgenommen habe, eine sozialistische Republik zu schaffen.

So unterschiedlich auch die Vorwürfe gegen die Architekten des neuen Staates waren, er stand am 6. Juni 1920 fest genug, um die politische Umschichtung ohne Erschütterung zu ertragen. Das dritte Kabinett, das gegenüber der Nationalversammlung die politische Verantwortung getragen hatte, trat am 8. Juni 1920 zurück276, nach einer zehnwöchigen Amtsdauer, in der es nie den Übergangscharakter geleugnet hatte, aber dennoch in der Lage gewesen war, die Ruhe und Ordnung herzustellen, die für die Reichstagswahlen erforderlich waren.

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Hierzu sind in den Akten der Rkei keine Unterlagen enthalten. Zu den Fakten s. Schultheß 1920 I, S. 147 f. Zur Entscheidung der Sozialdemokraten, die neue Regierung nicht zu bilden, s. F. Stampfer, Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik, S. 188 f., sowie ergänzend und korrigierend P.-C. Witt, Friedrich Ebert, S. 55.

Das Wahlergebnis ließ keinen Zweifel daran, daß die bisherige Regierungskoalition durch eine Öffnung nach rechts oder links erweitert oder aber eine neue Parteienkonstellation Vertreter in die Regierung entsenden werde. Weil die Mehrheitssozialdemokraten noch immer die stärkste Fraktion im Parlament bildeten, beauftragte der Reichspräsident den amtierenden Reichskanzler Hermann[LXV] Müller mit der Neubildung eines Kabinetts. Müller suchte die USPD für die Beteiligung an die Regierungsverantwortung zu gewinnen, doch der Vorsitzende der Unabhängigen lehnte jedes Kabinett ab, das nicht rein sozialistisch sei und in dem die USPD nicht über die Mehrheit verfüge. Da Müller keinesfalls mit der DVP zusammenarbeiten konnte und wollte und seine Parteifreunde wünschten, daß die MSPD einen Regenerierungsprozeß durchmache, um sich gegen die politischen Gegner auf der Linken besser zur Wehr setzen zu können, gab der Kanzler den Auftrag zur Regierungsbildung an Ebert zurück. Nachdem auch der Volksparteiler Heinze gescheitert war, gelang es schließlich dem Zentrum ein Kabinett der Mitte unter Einschluß der DVP und ohne die MSPD zu bilden. Diesem Kabinett sicherten die Mehrheitssozialdemokraten Tolerierung der Reparations- und Außenpolitik zu277.

277

Vgl. hierzu die Einleitung und die ersten Dokumente in „das Kabinett Fehrenbach“; s. a. Schultheß 1920 I, S. 155 f.

Über die Einstellung der Bevölkerung während dieses politischen Übergangs veranstaltete die Reichszentrale für Heimatdienst eine Umfrage. Dabei stellte sich heraus, daß die Sozialdemokratie seit der Staatsumwälzung bei ihren bürgerlichen Gegnern Achtung gewonnen hatten und trotz der Wahlniederlage weiterhin als ministrabel angesehen wurden; denn auch rechte Gruppen wandten sich gegen eine bürgerliche Regierung ohne MSPD, um politische Unruhen zu vermeiden. Die Zwangslage, in der die Mehrheitssozialdemokraten durch die Absage der Unabhängigen geraten waren, wurde verstanden und es gab durchaus Stimmen, die meinten, die USPD werde wegen ihres Verhaltens Wähler verlieren. Der Fortbestand der bisherigen Koalition als Provisorium bis zum Herbst wurde für möglich gehalten, während ein Wirtschaftskabinett, das nicht an die Parteien gebunden sei, nur als ultima ratio angesehen wurde. Die Möglichkeit, daß es im Herbst zu einem diktatorischen Regime kommen werde, galt als nicht auszuschließen. Rein politische Aufstände erwartete die Bevölkerung nicht, sondern Unruhen wegen Mangel an Lebensmitteln und Fortdauer der Zwangswirtschaft278. Aber die neue Konstellation, Kabinett ohne Führung bzw. Beteiligung der MSPD, war von Dauer.

278

Dok. Nr. 142.

Das erste Kabinett Hermann Müller hatte durch seine Pazifikationspolitik dazu beigetragen, daß der Weg für das erste bürgerliche Kabinett der Weimarer Republik geebnet war. Die Revolution war abgeschlossen.

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