2.116.2 (mu11p): II. Über die derzeitige politische Lage und die Sicherung der Wahlen

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II. Über die derzeitige politische Lage und die Sicherung der Wahlen

sprechen sich Regierungspräsident König-Arnsberg, Regierungspräsident Graf Merveldt-Münster, der Vertreter des Regierungspräsidenten in Düsseldorf, der Oberbürgermeister Dr. Jarres von Duisburg, der Vertreter des Landkreises Essen, der Oberbürgermeister von Hameln [?], der Oberbürgermeister von Mülheim a/Ruhr gleichermaßen dahin aus, daß die Wahlagitation im allgemeinen ruhig verlaufe, daß Ausschreitungen und Unruhen in der Zeit bis zur Wahl aller Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten sind und daß auch die Wahlbehandlung wohl ungestört verlaufen werde, von kleinen örtlichen Putschen vielleicht abgesehen. Über Sicherung der Wahlen werden verschiedene Vorschläge gemacht. Allgemein spricht man sich gegen die Ortswehr aus, einmal weil diese nicht zuverlässig, dann aber auch weil sie zu schwach sei und ihre Waffen im Ernstfall fast stets an die Unruhestifter übergingen. Von einer größeren Anzahl der Anwesenden wird empfohlen, daß die Führer der politischen Parteien durch geeignete Leute die Sicherung der Wahlhandlung selbst vornehmen lassen sollten. Dieser Vorschlag fand im allgemeinen die Zustimmung der Anwesenden, wenn auch Bedenken laut wurden, ob genügend Leute bereit seien, diese doch immerhin gefahrvolle Aufgabe zu übernehmen. Der Oberbürgermeister Dr. Lemcke von Mülheim weist noch auf die Wichtigkeit hin, bei Aufständen den Unruhestiftern rechtzeitig alle Hilfsmittel zu entziehen und bezeichnet als solche

a)

[286]die Insassen der Gefängnisse, die rechtzeitig weggebracht werden sollten,

b)

die Lastkraftwagen, über die die Truppe und Polizei ein genaues Verzeichnis führen sollen, um diese bei bevorstehenden Putschen sofort in Sicherheit zu bringen,

c)

die Straßenbahnen, denen alsbald der Strom entzogen werden sollte, da die Erfahrung gezeigt habe, daß die Straßenbahnen den Aufrührern sehr gute Dienste leisten.

Der Landrat von Dortmund, der Vertreter der Stadt Dortmund und anschließend an deren Ausführungen, der Herr Oberpräsident bitten dringend, in Dortmund Militär zu lassen, da sonst für einen ruhigen Verlauf der Wahlen dort keine Garantie übernommen werden könne. General von Loßberg sagt zu, die Reichswehr jedenfalls bis nach den Wahlen in Dortmund zu belassen6.

6

Magistrat und Landkreis Dortmund wandten sich am 27. 5. in einem gemeinsamen Schreiben an den RK und baten, die Reichswehr wenigstens bis nach den RT-Wahlen in der Stadt zu belassen. Die Stadt und der Landkreis hätten besonders während des Aufruhrs gelitten. Die Reichswehr sei der einzige Schutz, da es keine Sicherheitswehr mehr seit den Märzunruhen gebe. „Wir haben unter Zustimmung aller Fraktionen einmütig als erste der beteiligten Stadt- und Landkreise die Bildung der Sicherheitspolizei beantragt, und es ist uns von allen zuständigen Behörden auf das Bestimmteste zugesichert worden, daß für die Sicherheit der Stadt durch Belassung von Reichswehr so lange hinreichend gesorgt würde, bis die grüne Polizei in der geplanten Stärke hier vorhanden ist. Wir vermögen nicht zu beurteilen, aus welchen Gründen die Sicherheitspolizei trotzdem bisher nicht nach Dortmund, sondern vorher in andere Teile des Industriegebiets gelegt worden ist. Tatsächlich hat sich deshalb jedoch bereits eine allgemeine Mißstimmung der Bevölkerung bemerkbar gemacht, und diese Mißstimmung würde sich zur äußersten Erbitterung steigern, wenn die Stadt nunmehr völlig schutzlos gelassen würde.“ Außerdem wurde in dem Schreiben, auf die Bedeutung eines ausreichenden Schutzes für die Zeit nach den Wahlen hingewiesen: „Die geplante Maßnahme würde gleichzeitig die Sicherung des Wahlergebnisses für den Regierungsbezirk Arnsberg außerordentlich gefährden. Der mitunterzeichnete Landrat des Landkreises Dortmund ist zum Wahlkommissar für den Regierungsbezirk Arnsberg bestellt, und die Feststellung des Wahlergebnisses findet deshalb in dem Kreishause Dortmund statt, wo sich gleichzeitig sämtliche Wahlakten aus dem ganzen Regierungsbezirk befinden. Bei einem bestimmten Ausfall der RT-Wahl muß deshalb mit Bestimmtheit darauf gerechnet werden, daß während der nächsten 14 Tage nach der RT-Wahl die Vernichtung dieser Akten und die Vereitelung der Wahlfeststellungen versucht wird. Schon aus diesem Grunde ist die weitere Belassung der Reichswehr um mindestens 2 Wochen nach Ablauf des 6. 6. dringend erforderlich“ (R 43 I /2718 , Bl. 34 f.).

Eingehend wird alsdann noch der Wert und die Brauchbarkeit der Kommunalpolizei besprochen, und man ist ohne Ausnahme einig, daß diese als Kampftruppe wertlos sei.

Von allen Seiten wird der Wunsch geäußert, daß möglichst bald mit der Verstaatlichung der Polizei entsprechend den Vorschlägen des früheren Regierungskommissars, des jetzigen Ministers Severing, begonnen werden. [!] Von mehreren Städteverwaltungen wird auch gebeten, daß die Bestimmung, wonach 50% der Stellen der Polizeibeamten für Militäranwärter und Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten offengehalten werden müssen, beseitigt wird, da sich von diesen Personen niemand melde und die Kommunalpolizei dadurch bis zu 50%, teilweise noch mehr, Freistellen hätte. Der Oberbürgermeister von Düsseldorf weist daraufhin, daß die beginnende wirtschaftliche Krise schon jetzt viele Arbeitslose schaffe; so habe die Stadt Düsseldorf im Mai 1000 Arbeiter entlassen und müsse im Juni noch einmal 1000 Arbeiter entlassen. Er halte[287] die Überführung der Kommunalpolizei in die staatliche für eine der dringendsten Aufgaben. Regierungspräsident König bittet ebenfalls um Beseitigung des Erlasses, wonach 50% der Stellen Militäranwärtern und Flüchtlingen offen gehalten werden müssen. Zum Schlusse faßt der Oberpräsident Dr. Würmeling das Resultat der Besprechung dahin zusammen:

1.

Bis zu den Wahlen sind voraussichtlich Unruhen nicht zu erwarten,

2.

auch am Wahltage sind wohl Störungen größerer Art nicht wahrscheinlich,

3.

örtlichen Störungen sollen durch Organisation der auf dem Boden des allgemeinen Wahlrechts stehenden Parteien unter Leitung von deren Führern entgegengetreten werden,

4.

da möglicherweise in der Zeit nach den Wahlen mit Putschen zu rechnen ist, die umso wahrscheinlicher werden, wenn an anderen Stellen des Reichs Unruhen ausbrechen, hat die Polizei alle Vorsichtsmaßregeln zu treffen, um nicht überrascht zu werden,

5.

eine der wichtigsten Aufgaben ist: möglichst baldige Umwandlung der Kommunalpolizei in staatliche, wobei jedoch nicht nach der Schablone verfahren werden dürfe, sondern die örtlichen Verhältnisse zu berücksichtigen seien,

6.

die Gefangenen seien möglichst in ruhigere Bezirke abzutransportieren, wo dies nicht möglich sei, seien die Gefangenen zu bewachen.

Um 2½ Uhr wurde die Sitzung geschlossen.

Am folgenden Tag fand in Münster eine weitere Besprechung statt, der der Preußische Minister des Innern Severing, ein Vertreter des Reichsjustizministeriums, der Oberlandes[gerichts]präsident von Hamm, Oberst von Caprivi von der Sicherheitswehr, ein Hauptmann als Vertreter der Reichswehr und verschiedene Herren des Oberpräsidiums beiwohnten. Es wurde zunächst festgestellt:

1.

daß Freilassungen zur Zeit täglich erfolgen, daß aber immerhin noch Monate dahingehen könnten, bis alle Fälle geprüft seien, insbesondere festgestellt sei, was die sogenannten Kriegsgefangenen begangen hätten7,

2.

daß über die Frage des „guten Glaubens“ bei den Beteiligungen an den Märzunruhen stets eingehende Verhandlungen erforderlich seien,

3.

daß ein Teil der Kriegsgerichtsräte und ebenso die Richter des außerordentlichen Kriegsgerichts Wesel ihre Arbeit eingestellt hätten, weil sie sich durch eine offizielle Nachricht des Wolffschen Telegraphenbüros vom 19. Mai 1920 beleidigt fühlten8.

7

S. dazu Dok. Nr. 114.

8

Es dürfte sich hier um eine Meldung handeln, die der „Vorwärts“ am 19. 5. (Nr. 255) ohne Quellenangabe druckte. Dort heißt es: „Die Tätigkeit und die Rechtsprechung der im Ruhrgebiet eingesetzten außerordentlichen Kriegsgerichte hat in letzter Zeit einen Umfang und einen Charakter angenommen, die den für ihre Einsetzung maßgebenden Gründen und der Rechtsauffassung der RReg. nicht mehr in vollem Umfang entsprechen.“ Die Tätigkeit der Anklagevertreter solle eingeschränkt, die der außerordentlichen Gerichte neu geregelt werden. Zur Kontrolle sei ein Generalstaatsanwalt eingesetzt worden, dessen Weisungen die Anklagevertreter zu befolgen hätten. Bei nicht gemeingefährlichen Delikten sei eine Strafaussetzung vorgesehen, die 154 Todesurteile von Standgerichten sollten überprüft werden.

[288] Nachdem Minister Severing davor gewarnt hatte, daß in dieser ernsten Zeit die Richter nicht durch Ungeschicklichkeiten neuen Zündstoff in die Bevölkerung tragen sollten, verteidigte der Oberlandesgerichtspräsident von Hamm die Richter und deren Vorgehen und nimmt sie gegen die Beschimpfungen in der Presse, insbesondere der sozialistischen und der Frankfurter Zeitung in Schutz. Diese Ausführungen des Oberlandesgerichtspräsidenten führten zu einer sehr scharfen Erwiderung des Ministers Severing und im weiteren Verlauf zu erregten Auseinandersetzungen zwischen dem Oberlandes[gerichts]präsidenten und dem Minister Severing. Schließlich kam man dahin überein, daß die Regierung die jetzt dem Herrn Reichspräsidenten vorliegenden Begnadigungen in der Presse bekannt gebe und dabei darauf hinweise, daß gerade diese Begnadigungen, die nach dem Artikel des Wolffschen Telegraphenbüros in Aussicht genommen, Milderungen der Urteile durch die Reichsregierung darstellen, und daß ein Eingreifen in die Selbständigkeit der Gerichte niemals geplant gewesen sei. Es wird festgestellt, daß die Zahl der Gefangenen in Wesel von 6–700 auf 246, die in der Gefangenensammelstelle in Dortmund von 150–200 auf 50 gefallen sei.

Der Herr Oberpräsident bittet um möglichst baldige telegraphische Antwort von Seiten des Reichsministeriums des Innern:

a)

Wer trägt die Kosten der außerordentlichen Gerichte, insbesondere für die Richter und mittleren Beamten,

b)

bei welcher Kasse können die Tagegelder eingefordert werden.

Ferner bittet der Herr Oberpräsident um Überweisung von Mitteln zur Bezahlung von Agenten. Während die in normaler Zeit für Überwachungstätigkeit entfallenen Kosten wohl Kosten der Länder seien, seien diejenigen Kosten, die nach Verhängen des Ausnahmezustandes durch die besonderen Anordnungen des Regierungskommissars entstünden, wohl Reichskosten. Zu regeln wäre dann auch die Frage, welche Stelle die Haftkosten und welche die Transportkosten für die Gefangenen trage.

Sowohl [der] Herr Oberlandesgerichtspräsident wie auch der Herr Oberpräsident treten dafür ein, daß sämtlichen Richtern bei den außerordentlichen Gerichten nicht nur Tagegelder gewährt werden, sondern für ihre Tätigkeit, die sie neben ihrem vollen anderen Dienst ausübten, auch eine Entschädigung gewährt werde. Auch hierüber erbitten sie eine Entscheidung des Reichsministeriums des Innern. Der Herr Erste Staatsanwalt Schwedersky bittet um eine briefliche Bestallungsurkunde, da er außer einem Telegramm nichts in den Händen habe. Während der Sitzung war ein Telegramm des Herrn Preußischen Justizministers eingegangen, wonach ein Abtransport aus den Gefängnissen nicht möglich sei, da alle Gefängnisse überfüllt seien, ferner war an den Kommandeur der Sicherheitspolizei die Nachricht gekommen, daß Remscheid vormittags 9½ Uhr von der Sicherheitspolizei besetzt worden sei, ohne daß sie irgendwelchen Widerstand gefunden hätten9.

9

Noch am 25. 5. hatte StS Freund vom PrIMin. dem RK berichtet: „Die Besetzung von Remscheid muß noch ein paar Tage verschoben werden, da nach Mitteilung des Herrn OPräs. von Westfalen und des Leiters der Operationen dort stark bewaffnete Gruppen sich aufhalten, gegen die alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen. – Bisher ist die Besetzung des Ruhrgebiets vonstatten gegangen, ohne einen Schuß abzugeben und ohne irgendwelche Verluste. Um auch weiterhin in vollster Ruhe die Besetzung und Waffenabgabe durchzuführen, müssen wir mit Remscheid noch 2–3 Tage warten. Wir müssen auf der anderen Seite stark genug sein, um uns keinen Rückschlägen auszusetzen. Aus diesem Grunde wird heute eine weitere Hundertschaft von Berlin zur Unterstützung der Aktion nach Elberfeld transportiert“ (R 43 I /2717 , Bl. 210-212, hier: Bl. 210 f.).

gez. Kuenzer

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