2.253 (mu21p): Nr. 253 Vermerk Ministerialdirektor von Hagenows über das Verhalten der Reichsregierung zu einer Äußerung des Industriellen Thyssen. 13. Juli 1929

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 5). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 253
Vermerk Ministerialdirektor von Hagenows über das Verhalten der Reichsregierung zu einer Äußerung des Industriellen Thyssen. 13. Juli 1929

R 43 I /294 , Bl. 189-192

Am Mittwoch, dem 10. Juli wurde in einzelnen Rechtsblättern, auch in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“, mitgeteilt, daß Herr Dr. Thyssen im Verlauf der Verhandlungen des Reichsausschusses für das deutsche Volksbegehren am Dienstag, den 9. Juli folgende Ausführung gemacht habe1:

1

Zum Reichsausschuß für das Deutsche Volksbegehren siehe Schultheß 1929, S. 154. Der Ausschuß war am 9. 7. im Preußischen Herrenhaus zu einer Arbeitssitzung zusammengetreten. Bei dieser Gelegenheit wurden in den Arbeitsausschuß einstimmig u. a. gewählt: Schiele, Seldte, Düsterberg, General a. D. v. Below, Generalmajor a. D. v. d. Goltz, Hugenberg, v. Winterfeldt, Hitler, Hepp, Claß, Thyssen (MNN, 10.7.29).

„Der Young-Plan sei eine Anerkennung der Kriegschuldlüge, das sei in den Sachverständigen-Verhandlungen, wie Vögler mitgeteilt habe, wiederholt zum Ausdruck gekommen.“

Auf Grund dieser Presse-Mitteilung rief mich am Mittwoch, den 10. Juli Reichsminister Dr. Wirth an und brachte seine Besorgnisse über diese Erklärung Dr. Thyssens zum Ausdruck. Er äußerte hierbei, daß die Erklärung des Dr. Thyssen der erste Auftakt einer großen Propaganda in der Frage der Kriegsschuldlüge sei. Herr Reichsminister Dr. Wirth hielt es für erforderlich, in der Angelegenheit sofort ein Dementi loszulassen, um der Rechtsopposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. In diesem Zusammenhang regte Reichsminister Dr. Wirth an, eine Ministerbesprechung sofort abzuhalten, um zu der Äußerung Thyssens eine Stellungnahme der Reichsminister herbeizuführen.

Ich habe mich daraufhin am gleichen Tage mit Reichsbankpräsident Dr. Schacht in Verbindung gesetzt. Dieser hat mir mitgeteilt, daß die Behauptung Thyssens, wenn sie in dieser Form gefallen sei, vollkommen aus der Luft gegriffen[826] sei. Er könne sich auch nicht vorstellen, daß Vögler zu Dr. Thyssen eine solche oder ähnliche Äußerung gemacht habe. Wenn Dr. Thyssen tatsächlich eine solche Erklärung abgegeben habe, so glaube er, daß er Vögler falsch verstanden habe. Auf meine Frage, ob man die Sache offiziell mit Nachdruck dementieren solle, meinte Präsident Schacht, es sei zweckmäßiger, zunächst einmal abzuwarten, ob die Angelegenheit in den anderen Zeitungen erörtert werde. Sollte aber die Behauptung Dr. Thyssens in der Presse weitere Kreise ziehen, so müsse dementiert werden. Ferner habe ich noch am gleichen Tage mit Exzellenz Groener Fühlung genommen, um seine Stellungnahme zu der Angelegenheit zu erfahren. Exzellenz Groener meinte, daß es ihm zweckmäßig erscheine, daß man zunächst an Vögler schreibe, um zu erfahren, wie der wirkliche Sachverhalt sich zugetragen habe. Auf die Mitteilung, daß Herr Reichsminister Wirth angeregt habe, sofort eine Ministerbesprechung abzuhalten, erwiderte Exzellenz Groener, daß er hiergegen an und für sich keine Bedenken habe und einverstanden sei, wenn die Minister um 4 Uhr zu einer Beratung zusammentreten würden. Von 5 Uhr ab sei er allerdings anderweitig verhindert.

Zwecks Zustandekommens der Ministerbesprechung habe ich mich dann sofort mit Minister Severing in Verbindung gesetzt. Minister Severing meinte, man solle zunächst erst abwarten, wie sich die heutige Abendpresse (Mittwoch-Abendpresse) verhalte. Erst dann könne man zu dem ganzen Fragenkomplex Stellung nehmen. Auf Grund dieser Stellungnahme des Ministers Severing und im Hinblick darauf, daß Minister Wirth um 4 Uhr verhindert war, während Minister Groener von 5 Uhr ab verhindert war, fand eine Ministerbesprechung nicht statt.

Den Herrn Reichskanzler habe ich noch am 10. Juli durch ein Schreiben über den Sachverhalt in Kenntnis gesetzt.

In der Pressekonferenz vom 11. Juli (Donnerstag) hat Regierungsrat Dr. Wingen auf eine Anfrage zur Äußerung Thyssens folgendes erklärt:

„Ich bin natürlich nicht bei jeder Besprechung dabei gewesen, aber aus der ganzen Atmosphäre der dortigen Verhandlungen glaube ich auf das allerbestimmteste versichern zu können, daß die Kriegsschuldfrage nicht nur keine Rolle gespielt hat, sondern auch sicherlich von keiner Seite in die Debatte geworfen worden ist. (Dr. Strebe: Auch nicht in den ersten Tagen?) auch nicht in den ersten Tagen. Ich möchte noch darauf hinweisen, daß an einer Stelle des Young-Planes, genau wie im Dawes-Plan, konstatiert ist, daß er sich mit den Ursachen, die die deutschen Reparationsverpflichtungen bewirken, nicht beschäftigt hat.“2

2

Siehe Ziffer 21 des Young-Plans (RGBl. 1930 II, S. 408 ).

Auf mein Schreiben vom 10. Juli an den Herrn Reichskanzler hat der Herr Reichskanzler mir unter dem 11. Juli in der Angelegenheit Thyssen folgendes mitgeteilt:

„Was die angebliche Äußerung Thyssens betrifft, der auch meiner Auffassung nach Vögler falsch verstanden haben muß, würde ich es begrüßen, wenn ein Dementi erfolgt. Gerade weil jetzt die Kriegsschuldlüge-Agitation[827] wieder demagogisch in Fluß gebracht werden soll, scheint mir ein Dementi zweckmäßig. Ich bin überzeugt, daß sonst früher oder später die Behauptung Thyssens doch dementiert werden muß.“3

3

Diese beiden Sätze befinden sich in „auszugsweiser Abschrift“ in R 43 I /1929 , gefunden in R 43 I /294 , Bl. 216.

Am Freitag, dem 12. Juli, habe ich mit Herrn von Kaufmann nochmals die Frage eines Dementi eingehend erörtert. Herr von Kaufmann äußerte gegen ein Dementi gewisse Bedenken; er wies hierbei einmal auf die Mitteilung der Pressekonferenz vom 11. Juli hin, sodann brachte er zum Ausdruck, daß die Äußerung Thyssens in den weiteren Tageszeitungen keine Aufnahme gefunden habe, und äußerte fernerhin die Befürchtung, daß durch ein Dementi die ganze Frage wieder erneut von Grund auf aufgerollt würde. Herr von Kaufmann empfahl, die Angelegenheit zunächst auf sich beruhen zu lassen, bis neue Behauptungen aufgestellt würden.

Auf Grund des Wunsches des Herrn Reichskanzlers, ein Dementi zu geben, habe ich am Freitag, dem 12. Juli, versucht, Verbindung mit Dr. Vögler zu bekommen, um von ihm zu hören, daß die Äußerung Thyssens unzutreffend ist. Da Dr. Vögler von Dortmund abwesend war, war es mir nicht möglich, ihn telefonisch zu erreichen. Sodann habe ich am gleichen Tage (Freitag, den 12. Juli) nochmals mit Reichsbankpräsident Dr. Schacht Fühlung genommen und ihm den Wunsch des Herrn Reichskanzlers nach einem Dementi unterbreitet. Reichsbankpräsident Schacht äußerte erneut die Bitte, zunächst von einem Dementi noch Abstand zu nehmen. Er wolle sich aber sofort an Thyssen und Vögler schriftlich wenden, um Klarheit zu schaffen. Sobald die Äußerungen beider Herren vorlägen, würde er mir wegen des Dementis weitere Mitteilung zukommen lassen.

Den Herrn Reichskanzler habe ich mit Schreiben vom 12. Juli d. J. über diesen Sachstand erneut unterrichtet; ich habe ihm mitgeteilt, daß ich bei dieser Sachlage und mit Rücksicht auf die Erklärung des Reichsbankpräsidenten Schacht zunächst heute (Freitag, den 12. Juli) davon Abstand genommen habe, ein Dementi zu bringen. Es wolle mir zweckmäßiger erscheinen, daß man zunächst die Antwort abwarte, die Dr. Schacht der Reichskanzlei auf die an Thyssen und Vögler gerichteten Briefe geben werde.

Die „Deutsche Zeitung“ brachte heute morgen (Sonnabend, den 13. Juli) erneut die Äußerung Thyssens. Mit Herrn von Kaufmann bin ich beim heutigen Morgenvortrag dahin übereingekommen, daß die Erklärung in der Pressekonferenz vom 11. Juli in der heutigen Pressekonferenz – vielleicht in verstärkter Form – wiederholt werde4.

4

In der Pressekonferenz verwies Vortr.LegR Katzenberger auf die Kapitel 3 und 12 des Sachverständigenplans (RGBl. 1930 II, S. 410  f. und 464 f.) und erklärte: „Sie sehen aus den Mitteilungen, die ich verlesen habe, daß man immer nur an die Zukunft gedacht hat, an die Bereinigung der Verhältnisse in Europa und daß man immer nur davon gesprochen hat, daß die Dinge nur in diesem Geist gefördert werden können. In keinem Fall ist im Young-Plan irgendwann auf die Kriegsschuld Bezug genommen. Die Bemerkungen von Herrn Dr. Fritz Thyssen können also wirklich nicht den Kern der Sache treffen“ (Protokoll der Pressekonferenz; R 43 I /1929 , gefunden in R 43 I /294 , Bl. 193 f.).

Ich habe auch mit Ministerialdirektor Dorn in der Angelegenheit Fühlung aufgenommen. Ministerialdirektor Dorn äußerte hierbei, daß es zur Zeit nicht[828] erwünscht erscheine, ein Dementi zu bringen, bevor die Antworten Vöglers und Thyssens auf den Brief Schachts vorlägen. Im übrigen halte er es nicht für möglich, gegen die Auffassung, die jemand über den Young-Plan und die Kriegsschuldfrage habe, ein Dementi zu geben, da sich ein Dementi nur gegen Tatsachen richten könne, nicht aber gegen Tatsachen, die jemand vertritt. Im übrigen wies Ministerialdirektor Dorn darauf hin, daß es äußerst gefährlich und sinnlos sei, den Young-Plan, mit einer solchen Sache (Kriegsschuld pp.) zu belasten. Im übrigen meinte Ministerialdirektor Dorn, daß Thyssen sich vielleicht dahingehend geäußert habe, daß der Young-Plan eine Anerkennung unserer Zahlungspflicht sei, diese Zahlungspflicht auf der Kriegsschuldlüge beruhe und insofern auch der Young-Plan eine Anerkennung der Kriegsschuldlüge sei. Ich teilte Ministerialdirektor Dorn mit, daß ich mit Herrn von Kaufmann vereinbart habe, die Mitteilung in der Pressekonferenz vom 11. Juli in der heutigen Pressekonferenz (Sonnabend, den 13. Juli) zu wiederholen und bat Ministerialdirektor Dorn, Herrn von Kaufmann seine Auffassung über die Angelegenheit alsbald mitzuteilen, damit sie noch in der heutigen Pressekonferenz Verwertung finden könne. Herr Ministerialdirektor Dorn sagte dies zu.

Mit Herrn Staatssekretär von Schubert habe ich ebenfalls heute am Sonnabend, dem 13. Juli, die Angelegenheit besprochen. Er hielt es auch für erwünscht, ein Dementi erst zu erlassen, wenn die Antwort Vöglers und Thyssens auf die Anfrage Schachts vorlägen. Im übrigen meinte Staatssekretär von Schubert, daß das Dementi nicht von der Reichsregierung aus, sondern von den Sachverständigen (Schacht, Kastl) ergehen müsse, da es Aufgabe der Sachverständigen sei, von Vögler behauptete Unrichtigkeiten der Öffentlichkeit gegenüber zu vertreten.

Herrn Minister Wirth habe ich über diesen Sachstand unterrichtet. Frl. Fuß habe ich ebenfalls verständigt5.

5

Am 13. 7. hatte Thyssen Schacht mitgeteilt, daß er sich an seine Äußerung nicht mehr genau erinnere. „Dem Sinn nach habe ich folgendes ausgeführt: ‚Der Young-Plan ist eine de facto Anerkennung der Kriegsschuldlüge. Der Young-Plan baut sich auf dem Versailler Vertrag auf, der sich wiederum auf der Kriegsschuldlüge aufbaut. Bei den Sachverständigenverhandlungen ist zum Ausdruck gekommen, daß die Forderungen der Alliierten ihre Begründung finden durch das Anerkenntnis Deutschlands, wie es im Versailler Vertrag begründet ist.‘“ Thyssen hatte seine Äußerung begründet mit der Übernahme der alliierten Schulden an die USA durch Deutschland. Schacht, der diese Antwort v. Hagenow übermittelte, nannte sie „kautschukartig“ und bemerkte, daß sie auf nicht zutreffenden Voraussetzungen basiere. Ein Dementi werde keinen großen Wert haben (19. 7.; R 43 I /294 , Bl. 304-306).

H[a]g[enow]

Extras (Fußzeile):