2.89 (mu11p): Nr. 89 Der Oberpräsident der Provinz Schlesien an den Reichskanzler. Breslau, 10. Mai 1920

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Nr. 89
Der Oberpräsident der Provinz Schlesien an den Reichskanzler. Breslau, 10. Mai 1920

R 43 I /2302 , gefunden in R 43 I /2303 , Bl. 20-23

Betrifft: Bereitstellung von Mitteln zur Abwehr der der Provinz Niederschlesien seitens ihrer Nachbarn drohenden Gefahr.

Durch den Friedensvertrag ist Schlesien in eine ganz besonders ungünstige Lage geraten. Es ist von drei Seiten von fremden, neu erstandenen landgierigen Mächten umgeben – Polen und Tschechen –, die offensichtlich bestrebt und am Werke sind, abgesehen vom Abstimmungsgebiet noch weitere Teile von Schlesien, einschließlich Breslau, in irgend einer Form abzutrennen, oder es auch sonst wirtschaftlich oder politisch für ihre Zwecke zu verwenden.

[214] Die Gefahr ist brennend, denn die Absichten des gefährlichsten Feindes – Polen – werden von Frankreich begünstigt, und der Feind steht nicht nur an den Grenzen, sondern in Gestalt von polnischen Vereinen und Agitatoren und in Gestalt der französischen Mitglieder der Ententeüberwachungskomm. auch schon im Innern der Provinz. Ein plötzlicher militärischer Einmarsch mitten im Frieden – ähnlich dem in Posen – ist nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar nicht unwahrscheinlich, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu bieten sollte.

Angesichts der Schwäche der Reichswehr überhaupt und der Reichswehrtruppenteile in der Provinz im Besondern kann solchen überraschenden Überfällen nur dann mit Aussicht auf Erfolg begegnet werden, wenn die Abwehrmaßnahmen militärisch und politisch von langer Hand vorbereitet werden können1. Die zuständigen Regierungsstellen müssen rechtzeitig und ausreichend über etwaige bzgl. feindliche Maßnahmen oder Vorbereitungen unterrichtet werden. Dringend wichtig ist also ein gut arbeitender Nachrichtendienst, der nicht nur die feindliche Nachrichtenorganisation, Spionage und Propaganda im Innern der Provinz beobachtet, sondern vor allem in Zusammenarbeit mit der Grenzpolizei seine Fäden auch über die Grenze hinaus spinnt. Zur Durchführung eines wirksamen Nachrichtendienstes ist die z. Zt. beim hiesigen Polizeipräsidium befindlichen Nachrichtenabteilung, welche früher dem Oberpräsidium angegliedert war und nach einem Erlasse des Herrn Staatskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung mir wieder unmittelbar unterstellt werden soll, zwar an sich geeignet. Ihr stehen aber, selbst wenn ihr noch nicht festgestellter Etat verhältnismäßig hoch werden sollte, nicht die Mittel zur Verfügung, welche für die hier in Frage kommenden außergewöhnlich schwierigen und wichtigen Aufgaben erforderlich sind. Dem für diese Zwecke bei der Nachrichtenstelle einzurichtenden Dienste würden folgende Aufgaben zuzuweisen sein:

1

Der deutsche Bevollmächtigte für das Abstimmungsgebiet, Fürst Hatzfeldt, hatte demgegenüber in einem Schreiben an das AA vom 22.4.20 nachdrücklich davor gewarnt, als Maßnahme gegen einen befürchteten Einmarsch poln. Einheiten in Oberschlesien Reichswehrtruppen in das Abstimmungsgebiet einrücken zu lassen oder sie an der Grenze zu massieren, da hierin ein Verstoß gegen den Friedensvertrag gesehen werden könne oder aber die Polen provoziert würden (R 43 I /351 , Bl. 90-92).

1.

Beobachtung deutsch-feindlicher Strömungen im Inlande (namentlich in der Provinz Niederschlesien);

2.

Beobachtung in den von der Entente besetzten Teilen Oberschlesiens;

3.

Beobachtung in der ehemaligen Provinz Posen;

4.

Beobachtung in Kongreß-Polen;

5.

Beobachtung in Tschechien;

6.

Beobachtung der von der Entente eingesetzten Kommissionen.

Zu den einzelnen Aufgaben wird folgendes bemerkt.

1. Unter den deutsch-feindl. Strömungen im Inlande werden alle von fremden Staaten im Inlande eingerichteten Überwachungsorganisationen verstanden,[215] die den Zweck haben, den Boden in Niederschlesien für ihre feindlichen Absichten vorzubereiten. Ganz besonders muß auf die polnischen Vereinigungen hingewiesen werden, die jetzt bereits in größerer Zahl in Niederschlesien bestehen und den Zweck haben, noch weitere Teile von Schlesien, als bereits durch den Friedensvertrag verloren sind, von unserm Lande loszutrennen2. […] Zur Durchführung der Beobachtung dieser Bewegung und ihrer Organisationen ist eine Summe von monatlich Mk. 8000 erforderlich.

2

In einer Anlage wurden als für die Abstimmung zugunsten Polens in Breslau wirkende Vereine genannt: „1. Der Sokolverein, 2. Verein der polnischen Industriellen, 3. Verein der polnischen Kaufleute, 4. polnische Berufsvereinigung, 5. Polnisch-katholischer Verein, 6. Polnischer Gesangverein Harmonia, 7. Verein für polnische Frauen und Jungfrauen, 8. polnischer Studentenbund“ (R 43 I /2303 , Bl. 25-27, hier: Bl. 25). In einer weiteren Anlage wurde auf die zunehmende Aktivität polnischer Vereine in Mittelschlesien hingewiesen, die sich vor allem in zunehmendem Grundstückkauf durch Polen ausdrücke (R 43 I /2303 , Bl. 28).

2. Beobachtung in den von der Entente besetzten Gebieten Oberschlesiens. Die durch den Friedensvertrag geschaffene Möglichkeit, Oberschlesien für das Reich zu erhalten, erfordert eine genaue Beobachtung aller Maßnahmen, die hier von polnischer oder anderer Seite zur Loslösung dieses Landes getroffen werden.

Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die polnischen Organisationen in Mittelschlesien […] organisch mit den entsprechenden Vereinigungen in Oberschlesien verbunden sind und wahrscheinlich von dort her geleitet werden.

Es ist unbedingt erforderlich, daß das hiesige Oberpräsidium über diese Zusammenhänge und die aus Oberschlesien drohenden Gefahren durch eigene Organe auf dem Laufenden gehalten wird und zu diesem Zwecke mit den übrigen etwa für die Staatsregierung unmittelbar in gleichem Sinne in Oberschlesien arbeitenden Organen regste Fühlung hält.

Diese Beobachtung kann nur erfolgen durch durchaus zuverlässige Vertrauensmänner, die, der eigenartigen Lage in Oberschlesien entsprechend, mit ausreichenden Geldmitteln versehen werden müssen, da den Polen und ihren Freunden ganz außerordentlich große Geldmittel zur Verfügung gestellt werden. Auch die vielen in Oberschlesien bestehenden Vereine bedürfen einer eingehenden Überwachung. Da die Verbindung mit den in Oberschlesien arbeitenden Vertrauensleuten durch die Post nicht möglich ist, muß der Verkehr zwischen Oberschlesien und der Nachrichtenstelle durch Kuriere aufrecht erhalten werden, wodurch erhebliche Mehrkosten entstehen. Zur Durchführung dieser Arbeit ist eine Summe von monatlich Mk. 15 000,– erforderlich.

3.–5. Beobachtungen in der ehemaligen Provinz Posen, Kongreß-Polen und Tschechien. Die Pläne zur Losreißung Oberschlesiens und von Teilen von Mittelschlesien scheinen von den Regierungen Polens, Tschechiens und besonders Frankreichs begünstigt und gefördert zu werden. Viele Organisationen, die diese Ablösungsbestrebungen verfolgen, haben in den genannten Ländern ihren Sitz. Alle diese Fäden müssen deshalb bis nach Posen, Polen und Kongreßpolen hinein verfolgt werden. Es kommt darauf an festzustellen, in wieweit[216] die örtlichen Militär- und Zivilbehörden jenseits der Grenze unmittelbar oder mittelbar durch Sokol- oder andere Vereine und einzelne Persönlichkeiten die Losreißungsbestrebungen fördern. Das Oberpräsidium muß ferner z. B. über etwaige Ansammlung von Truppen, die Bereitstellung von Waffen, Munitions- und anderem Kriegsbedarf in der Nähe der Grenze, die wirtschaftliche und politische Lage in den fraglichen Gebieten dauernd unterrichtet sein. so daß schon die ersten Vorbereitungen für etwaige Durchführung von Gewaltakten zu seiner Kenntnis kommen. Zur Durchführung dieser Arbeit genügt ein Betrag von monatlich Mk. 12 000.

6. Beobachtung der von der Entente eingesetzten Kommissionen und Konsulate. Von ganz besonderer Wichtigkeit ist es festzustellen, welche Zwecke die in Schlesien befindlichen Kommissionen der Interalliierten neben ihrer offiziellen Wirksamkeit verfolgen. Die Franzosen verfügen mit Sicherheit über ein ausgedehntes und wohlausgebautes Spionage- und Propagandanetz über die ganze Provinz in Verbindung mit den Polen. Einzelne diesbezgl. Spuren sind bereits aufgedeckt, konnten aber leider wegen Mangels an Personal vor allem an Mitteln nicht weiter verfolgt werden. Es kommt darauf an, über das ganze Netz Klarheit zu gewinnen und es zu zerreißen. Die Durchführung dieser Aufgabe ist ganz besonders schwierig. Die Mitarbeit bezahlter Mittelsleute wird hierbei nicht zu umgehen sein, und daher größere Geldmittel erfordern. Zur Durchführung dieser Arbeit ist ein Betrag von monatlich Mk. 20 000,– erforderlich.

Danach ergibt sich folgende Zusammenstellung des Geldbedarfs:

Zu 1.

Inland monatlich

8 000 Mk.

Zu 2.

Oberschlesien

15 000 Mk.

Zu 3.–5.

Posen usw.

12 000 Mk.

Zu 6.

Ententekommission usw.

20 000 Mk.

55 000 Mk.

Ich gestatte mir besonders darauf hinzuweisen, daß die aufgeführten Summen, im Ganzen 55 000 Mk. monatlich, das Mindestmaß an Geldmitteln darstellen, die zur wirksamen Durchführung eines gut arbeitenden Nachrichten- und Beobachtungsdienstes erforderlich sind. Die Kosten für die Besoldung usw. der fest angestellten Personen sind hierin nicht inbegriffen. Unsere Gegner werfen zu dem gleichen Zwecke ganz bedeutend größere Geldmittel aus. Die Summen, die die Ententekommission zur Verfügung haben, sind zwar noch nicht bekannt, doch müssen sie nach den bisher hier getroffenen Feststellungen sehr groß sein.

Ich bitte dringend, mir die oben aufgeführten Beträge aus Reichsmitteln zur Verfügung stellen zu wollen, wobei ich mir vorbehalten darf, für unvorhergesehene Fälle, in denen für den Nachrichtendienst noch besondere Zuschüsse erforderlich erscheinen, weitere Mittel in eigens zu begründenden Anträgen zu erbitten. Die verhältnismäßig geringe Summe von 660 000 Mk. im Jahre steht in keinem Verhältnis zu der, für das Reich und den Preußischen Staat schlechthin lebensnotwendigen Aufgabe, Breslau und Mittelschlesien als[217] einziges und letztes Bollwerk des Deutschtums im Osten mit allen denkbaren Mitteln zu verteidigen. An sich berechtigte Rücksichten auf die Finanzlage des Staates würden hier an gänzlich falscher Stelle angebracht sein3.

3

Der PrMinPräs. teilte dem StSRkei zu diesem Schreiben am 12.6.20 mit, daß er sich ebenso wie der PrIM den Wünschen und Forderungen anschließe: „Mag auch augenblicklich die polnische Gefahr für Schlesien durch die anderweitige Inanspruchnahme Polens [Krieg mit Sowjetrußland] vielleicht etwas gemindert sein, so ist ihr Vorhandensein doch in keiner Weise in Abrede zu stellen. Wenn von so gewichtiger Stelle der Regierung diese Angaben gemacht werden, so kann nach meinem Dafürhalten daran nicht achtlos vorübergegangen werden. Die deutschen Interessen, welche auf dem Spiele stehen, sind so groß, daß es unbedingt geboten ist, im Rahmen des finanziell Möglichen zur Abwehr der polnischen Übergriffe eher zuviel als zu wenig zu tun“ (R 43 I /2303 , Bl. 31). Erneut wurde diese Angelegenheit in einer Chefbesprechung am 3.8.20 behandelt.

i. V.

Jaenicke

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