1.3 (bau1p): Zusammensetzung des Kabinetts und Charakteristik der Minister

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Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

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Zusammensetzung des Kabinetts und Charakteristik der Minister

Die seit der Endphase des Kaiserreichs über die Revolution hinweg zu beobachtende Kontinuität einer in die Weimarer Koalition einmündenden Parteienkonstellation und der von diesen Parteien gestellten Führungskräfte setzte sich auch beim Übergang zur Regierung Bauer fort. Zwar stützte sich die neue Regierung zunächst nur auf eine von SPD und Zentrum gesicherte Parlamentsmehrheit, doch signalisierten die vorläufig aus der Regierungsverantwortung ausgeschiedenen Demokraten durch Stimmenthaltung bei der Abstimmung über den Vertrauensantrag der Regierung und tatkräftige Mitarbeit in der Nationalversammlung bei den Verfassungsberatungen und der Finanzreform, daß sie nicht bereit waren, in das Lager der außerhalb der Weimarer Koalition stehenden, systemfeindlichen Oppositionsparteien abzuschwenken. Die den Regierungswechsel bedingende Entscheidung über den Versailler Vertrag hatte an dem Verhältnis von Regierung und Opposition nicht gerüttelt und damit die die frühe Weimarer Republik tragende Arbeitsgemeinschaft von Sozialdemokraten und Bürgertum nicht ernsthaft in Frage gestellt. In eingefahrenen Bahnen kooperierten die Parteien weiter wie Mitglieder einer – vorübergehend inoffiziellen – Regierungsmehrheit32.

Einer offiziellen Regierungsbeteiligung der Demokraten standen zunächst sowohl psychologische Barrieren auf Seiten der Regierungsparteien, die über die Verantwortungsflucht ihrer bisherigen Partner verbittert waren, als auch die grundsätzliche Kritik der DDP an den gemeinwirtschaftlichen Plänen des vorerst wieder in das Kabinett aufgenommenen Sozialdemokraten Wissell im Wege. Vorsichtige Sondierungen Reichsinnenminister Davids wurden Ende Juli 1919 vom Kabinett – wohl nur nach außen hin – desavouiert und von der DDP mehr ihrer brüskierenden Form wegen, weniger dem Inhalt nach abschlägig beschieden33.[XXVII] Gezieltere Besprechungen in der zweiten Septemberhälfte führten schließlich zur Wiederherstellung einer von der Koalition aller Mittelparteien getragenen Reichsregierung34 und zum sukzessiven Eintritt der demokratischen Minister Schiffer, Koch und Geßler in das Kabinett Bauer. Eine Rücktrittserklärung des bisherigen Kabinetts war mit dieser Erweiterung nicht verbunden. Weder formaljuristisch, noch sachlich kann deshalb in diesem Zusammenhang von der Konstituierung eines neuen, zweiten Kabinetts Bauer im Oktober 1919 gesprochen werden.

Dem Kabinett gehörten zunächst sieben, nach dem baldigen Ausscheiden Rudolf Wissells nur noch sechs Sozialdemokraten (Bauer, Müller, David, Schmidt, Noske, Schlicke) und vier Minister der aus Zentrum und BVP bestehenden Fraktionsgemeinschaft an (Erzberger, Bell, Giesberts, Mayer-Kaufbeuren). Dazu traten die schon genannten DDP-Politiker. Das durchschnittliche Lebensalter der Regierungsmitglieder lag bei 50 Jahren, wobei Hermann Müller mit 43 und Eugen Schiffer mit 59 Jahren die untere bzw. obere Grenze (bezogen auf das Jahr 1919) markierten. Der sozialen Herkunft und dem formalen Bildungsgang nach wies das Profil dieser Gruppe als Einheit betrachtet eine geringe Homogenität auf. Neben dem Sohn eines Postboten und Schneiders (Erzberger) stand der Fabrikantensohn Müller. Fünf Volksschulabsolventen sahen sich sechs Akademikern, darunter drei Promovierten, gegenüber. Fünf Minister hatten ein Handwerk erlernt, zwei waren zunächst als Angestellte, zwei als Lehrer, fünf aber als Volljuristen tätig gewesen. Dieses buntscheckige Bild erscheint in einem anderen Licht, wenn man der Frage nach der Gruppensolidarität unter Berücksichtigung des beruflichen Werdegangs der Minister nachgeht. Zunächst fällt auf, daß fast alle Minister – ausgenommen der Nürnberger Oberbürgermeister Geßler und der Gewerkschaftsführer Schlicke – politische Erfahrungen in den zentralen parlamentarischen Gremien der vorrevolutionären Zeit hatten sammeln können. Alle Sozialdemokraten waren über den erlernten Beruf hinaus einer zweiten Tätigkeit in der Freien Gewerkschaftsbewegung oder in der Sozialdemokratischen Partei bzw. ihren Presseorganen hauptberuflich nachgegangen. Somit fanden sich unter den 14 Ministern des Kabinetts Bauer fünf Gewerkschaftsfunktionäre der Freien und mit Erzberger und Giesberts zusätzlich noch zwei Funktionäre der Christlichen Gewerkschaften. Wenige Gemeinsamkeiten mit dem beruflichen Erfahrungsbereich der beiden letztgenannten Zentrumspolitiker bot die juristische Tätigkeit der übrigen Zentrumsminister Bell und Mayer. Um so geschlossener konnte dafür die Gruppe der deutsch-demokratischen Minister auftreten, die allesamt Verwaltungsjuristen waren und zum Teil auch über praktische Kenntnisse in der kommunalen Selbstverwaltung verfügten. Soweit Beziehungen der Minister zur Industrie bestanden, waren sie über die Parteigrenzen hinweg verteilt; mit den Interessen der Kali-Industrie war Reichsschatzminister Mayer, mit denen der Schwerindustrie die Reichsminister Schiffer und Erzberger verbunden gewesen. Neun Kabinettsmitglieder[XXVIII] hatten bereits der Regierung Scheidemann angehört und zum Teil sogar schon früher, im Rat der Volksbeauftragten oder der Regierung des Prinzen Max von Baden, Regierungsverantwortung getragen. Regierungsneulinge waren die Minister Müller, Schlicke, Mayer, Koch und Geßler.

Zum „Präsidenten des Reichsministeriums“ wurde am 21. Juni 1919 Gustav Adolf Bauer von Reichspräsident Ebert ernannt35. Mit Inkrafttreten der neuen Weimarer Reichsverfassung führte er seit dem 14. August 1919 als erster Sozialdemokrat überhaupt und als erster Regierungschef des republikanischen Deutschlands wieder den Titel eines „Reichskanzlers“36. Bauer hatte damit die höchste Stufe einer bisher ruhig und stetig aufwärtsführenden, zunächst berufsständischen, dann gewerkschaftlichen und schließlich politischen Laufbahn erklommen. Er stand im Zenith seines Lebens. Am 6. Januar 1870 im ostpreußischen Darkehmen als Sohn eines Gerichtsvollziehers geboren, fiel sein fünfzigster Geburtstag in seine Amtszeit. – Wer war nun dieser Mann, der in einer Schicksalsstunde der deutschen Geschichte in eines der wichtigsten Ämter, das die neugegründete Republik zu vergeben hatte, eintrat, und der dennoch in der Erinnerung der geschichtsbewußten Öffentlichkeit keine, in der deutschen Historiographie nur verschwommene Spuren hinterlassen hat?

Nach dem Besuch der Volksschule in Königsberg hatte Bauer mit vierzehn Jahren als Bürogehilfe in verschiedenen Anwaltskanzleien selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen müssen. Mit dreiundzwanzig Jahren war er zum Bürovorsteher aufgestiegen. Sein organisatorisches Talent wußte er zum Nutzen der Angehörigen seines Berufsstandes, den Privatbeamten und Angestellten, einzusetzen. 1895 gründete er den „Verband der Büroangestellten“ mit, wurde bald dessen ehrenamtlicher Vorsitzender und leitender Redakteur des Verbandsorgans „Der Büroangestellte“. Seit 1897 war er führend im Krankenkassenwesen seines Verbandes, seit 1904 im geschäftsführenden Ausschuß der Zentrale für das deutsche Krankenkassenwesen tätig. Ebenso setzte er sich für den Ausbau der Gewerkschaftsbewegung ein. Dank seiner sozialpolitischen Kenntnisse wurde er 1903 mit der Leitung des als Zentralstelle für alle Fragen der Arbeiterversicherung fungierenden Zentralarbeitersekretariats der Freien Gewerkschaften in Berlin betraut. Mit seiner Ernennung zum zweiten Vorsitzenden der Generalkommission der Freien Gewerkschaften rückte er 1908 neben Carl Legien in deren Führungsspitze auf. Als Gewerkschaftsführer trat er zusammen mit reformerischen sozialdemokratischen Politikern für die schrittweise Einfügung sozialistischer Gedanken in das Gebäude des kapitalistischen Wirtschaftssystems ein. Nachdem er 1912 für den Wahlkreis Breslau-Ost in den letzten kaiserlichen Reichstag gewählt worden war, gestaltete er in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Friedrich Ebert während des Weltkriegs die sozialdemokratische Burgfriedenspolitik mit. Als mit der Parlamentarisierung der Reichsregierung im Oktober 1918 die Zahl der Staatssekretäre unter den Mehrheitsparteien aufgeteilt und mit der Errichtung des Reichsarbeitsamtes eine von den Gewerkschaften[XXIX] seit langem erhobene Forderung realisiert werden sollte, verhandelten einige Gewerkschaftsvertreter und SPD-Reichstagsabgeordnete, ohne sich mit dem Vorsitzenden der Generalkommission, Carl Legien, zu verständigen, über die Besetzung des Postens und schlugen Gustav Bauer für den Eintritt in das Reichskabinett vor. Legien fühlte sich brüskiert und konnte nur mit Mühe von seiner Absicht, als Gewerkschaftsvorsitzender zurückzutreten, abgebracht werden. Bauer dagegen übernahm am 5. Oktober 1918 als erster sozialdemokratischer Politiker die Leitung einer Zentralbehörde des Deutschen Reichs. Die anderthalb Jahre später zu seinem Sturz als Reichskanzler entscheidend beitragende Haltung der immer noch von Legien geführten Gewerkschaften37 dürfte auf Animositäten, die aus diesen Vorgängen resultierten, mit zurückzuführen sein. Zunächst jedoch nahm Bauer neben Legien an den Besprechungen teil, die zur Anerkennung der Gleichberechtigung von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften sowie zur Bildung einer zentralen Arbeitsgemeinschaft der Sozialpartner führten. Der revolutionäre Rat der Volksbeauftragten respektierte in Bauer den Fachmann für den mit der Demobilmachung rasch an Bedeutung wachsenden sozialpolitischen Aufgabenbereich und beließ ihn im Amt. In dem von Philipp Scheidemann geführten ersten Kabinett der Weimarer Republik konnte er vom 12. Februar bis zum 20. Juni 1919 als Reichsarbeitsminister seine Tätigkeit fortsetzen.

Die politischen und menschlichen Konturen Bauers als Ministerpräsident und Kanzler sind unscharf. Die wenigen überlieferten Urteile seiner Mitarbeiter und der zeitgenössischen Beobachter lassen sich nicht immer zur Deckung bringen. Man sah in ihm eher den „Gewerkschaftssekretär“ als den „Parteikämpfer“38, mehr den „gewissenhaften Sachwalter der ihm anvertrauten Interessen“, kaum den „souveränen Herrn seiner Ressortverwaltung“39, höchstens einen Kanzler „der zweiten Garnitur“40, bestimmt nicht den Staatsmann im anspruchsvollen Sinn dieses Wortes41. Das äußere Erscheinungsbild des breitschultrigen, schwerfällig wirkenden Ostpreußen mit dem großen blonden Schnurrbart und dem kurz geschnittenen hochgekämmten Haupthaar gab dem später ins Kabinett eintretenden Otto Geßler Anlaß, die in einer Berliner Zeitung genüßlich zitierte Äußerung eines Portiers der Reichskanzlei, „der jetzige Chef sehe eben wie ein ‚Bürodirektor‘ aus“, zu kolportieren, um so seiner eigenen Einschätzung des Kanzlers als einer „unter keinem Gesichtspunkt […] hervorragenden Persönlichkeit“ Profil zu verleihen42. Im Umgang gewann Bauer dort, wo er nicht mehr aus sich machte, als seinen Anlagen entsprach, und wo er mit konstruktiver Sachlichkeit, sozialistischen Ideen und der Linie reformerischen Ausgleichs verpflichtet, über Parteiinteressen hinweg, aber auf[XXX] persönliche Glaubwürdigkeit bedacht, „in einer sehr schwierigen Übergangszeit nützliche Tagesarbeit“ leistete43. Durch die Handhabung der Richtlinienkompetenz, die ihm nach Inkrafttreten der Reichsverfassung vom 11. August 1919 wieder oblag44, hat weder er, noch durch ihn seine Partei sich mit der Durchsetzung sozialdemokratischer Vorstellungen besonders profiliert. Die eigentliche Regierungspolitik wurde von Kabinettsmitgliedern mit größerer persönlicher Ausstrahlungskraft weit stärker geprägt. Ihm unterstellte man oft einen Mangel an Entschlußkraft und Führungswillen. In der Tat hat er seinen Ministern einen weiten Spielraum bei der Ausübung ihrer Amtsgeschäfte eingeräumt. Er verzichtete aber nicht darauf, ihnen gegenüber auch sein sachverständiges Urteil zu behaupten und Kompetenzüberschreitungen oder Alleingänge – wenn es sein mußte „sehr massiv“45 – zu zügeln46. In des Kanzlers kleinem Finger stecke „mehr diplomatischer Sinn als in dem Schädel der meisten Berufsdiplomaten“, vertraute der demokratische Reichsinnenminister Koch auf dem Höhepunkt der Staatskrise im März 1920 seinem Tagebuch an47 und bescheinigte damit – seiner eigenen Sozialisten- und Gewerkschaftsfeindlichkeit zum Trotz – dem Sozialdemokraten Bauer, den er Anfang August 1919 noch als „die Unzulänglichkeit in Person“ glaubte disqualifizieren zu müssen48, ein gewisses Maß an „staatsmännischen Eigenschaften“49, das auch andere Beobachter aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem Kanzler diesem zuzuerkennen bereit waren50.

Andererseits offenbart die Duldung der hasardierenden Geschäftigkeit des Finanzministers Erzberger beim Abschluß des deutsch-belgischen Markabkommens oder der an Kabinettsbeschlüssen vorbeizielenden Baltikumpolitik des Wehrministers Noske51 eine nicht zu unterschätzende Führungsschwäche. Sie kann weder durch wohlverstandene Loyalität gegenüber diesen von nationalistischen Eiferern verfemten beziehungsweise innerparteilichen Kritikern angegriffenen Ministern erklärt, noch mit den Umgangsformen einer kollegialen Kabinettsregierung oder den Anliegen der hinter der Regierung stehenden Koalitionsparteien entschuldigt werden. Oft hatte Bauer von dem, was um ihn herum geschah, was die Minister aber auch zu tun unterließen, einfach „noch keine Ahnung“52. Es ging ihm die Fähigkeit ab, in entscheidenden Fragen die notwendige Orientierung zu behalten und seinen politischen Mittelkurs massenwirksam[XXXI] durchzusetzen. So leitete die ihm fast bis zuletzt verborgen bleibende Staatskrise des März 1920 nicht von ungefähr seinen Sturz ein. Zu Recht bezeichnete Otto Geßler die Ausschaltung des Regierungschefs aus den Verhandlungen, die Reichspräsident Ebert und Reichswehrminister Noske Anfang März 1920 mit dem aufbegehrenden General von Lüttwitz führten, als „symptomatisch für die Rolle, die Gustav Bauer als Reichskanzler spielte“53. Sein anschließender Rücktritt war demnach nur folgerichtig: „Er war eben nicht der Mann, um eine kritische Situation zu meistern und um die nach allen Seiten geschwächte Autorität wiederherzustellen“54.

Nachdem der Wiedereintritt des Karriere-Diplomaten Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau in das Kabinett Bauer aufgrund der von ihm im Verlauf der Friedensverhandlungen bezogenen Position nicht in Frage kam, übernahm mit Hermann Müller zum ersten Mal ein Politiker die Leitung der Auswärtigen Angelegenheiten des Deutschen Reichs, der sich nicht durch aristokratische Herkunft oder diplomatische Ausbildung, sondern durch Parlamentsarbeit und als Parteifunktionär für dieses nach dem Reichskanzleramt wichtigste der klassischen Ressorts qualifiziert hatte. Müller gehörte dem Reichstag seit 1916 an und war erst am 14. Juni 1919 neben Otto Wels in den Parteivorstand der SPD aufgerückt. Vor dem Weltkrieg hatte der ehemalige Handlungsgehilfe und Journalist sich besonders den Auslandsbeziehungen seiner Partei gewidmet und in der II. Internationale aktiv mitgearbeitet. Mit dem Hinweis auf seine Inanspruchnahme bei einem möglichen Wiederaufbau der Internationale schlug er die ihm von seinen Parteifreunden nach dem Rücktritt Philipp Scheidemanns angetragene Kanzlerschaft aus. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, daß der Nicht-Diplomat Müller, unter dem Druck der Kriegsgefahr gegen Ende der Juli-Krise 1914 vom Parteivorstand der SPD nach Paris entsandt, in Verhandlungen mit den französischen Sozialisten sich um eine Verhinderung des Krieges bemüht hatte, dessen Beendigung er fast auf den Monat genau vier Jahre später wiederum in Frankreich durch seine Unterschrift unter den Versailler Vertrag nun besiegeln mußte. Zusammen mit dem Zentrumspolitiker Bell entledigte er sich dieses persönlichen Opfergangs am 28. Juni 1919 „mit allgemein anerkannter schweigender und gestenloser Würde“55. Nachfolgend bekannte er sich ungeachtet der pausenlosen Erschwerung seiner Amtsführung durch nationalistische Agitationen zu der Notwendigkeit, die übernommenen Verpflichtungen im Rahmen des Möglichen zu erfüllen, um so beim Nachweis der Unerfüllbarkeit mancher Vertragsbestimmungen glaubhaft zu erscheinen und Verständnis für spätere Revisionsforderungen zu wecken. Die dabei bewiesene „Festigkeit, die keine Dickköpfigkeit war, und ein rechtzeitiges Nachgeben, das nicht Schwäche, sondern richtige Eintaxierung der Machtverhältnisse und der Verhandlungsmöglichkeiten war“56, trugen dazu bei, der Nachkriegsaußenpolitik[XXXII] des Deutschen Reichs nach der Demütigung von Versailles mit der erträglichen Lösung der Auslieferungsfrage einen ersten vorweisbaren Erfolg zu bescheren.

Das Reichswehrministerium übernahm erneut der Sozialdemokrat Gustav Noske. Im Umgang machte er „den Eindruck eines geraden, offenen Mannes mit Verstand und Energie“57, dessen – zumindest in den Augen seiner demokratischen Kabinettskollegen – bestechend wirkende „Kraftentwicklung“58 von tages- und machtpolitischem Realismus mehr als von parteipolitischen und programmatischen Zwängen gesteuert wurde. Dies hatte der gelernte Korbmacher und einstige Redakteur in den Tagen der Novemberrevolution und als Volksbeauftragter hinreichend bewiesen. Er war, ungeachtet der Tatsache, daß mit dem Preußischen Kriegsminister, resp. Chef der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, und dem Chef der Admiralität, Vizeadmiral von Trotha, zwei Uniformträger ständig an den Kabinettssitzungen teilnahmen, der „starke Mann“ der Reichsregierung. Gegen die von linksradikalen Kräften permanent betriebene Gefährdung der staatlichen Ordnung setzte er, gestützt auf Ausnahmebefugnisse, die militärischen Machtmittel des Reichs mit unnachgiebiger Härte ein59. Die ihm dabei eigene Abwägung der tangierten Rechtsgüter forderte wiederholt zu Widerspruch selbst aus den Reihen seiner eigenen Partei heraus, so daß sich seine Autorität nicht auf eine parteiinterne Hausmacht, sondern auf den Respekt, den die „vorläufige Reichswehr“ ihm zollte, stützen mußte. Die Liquidierung des Baltikum-Unternehmens und die im Versailler Vertrag geforderte Reduktion des deutschen Militärpotentials ließen, obwohl der Reichswehrminister sie dilatorisch betrieb, den ihm von den Soldaten gewährten Vertrauensvorschuß soweit hinschmelzen, daß er schließlich gegenüber der von ihm in ihrer Gefährlichkeit unterschätzten Fronde republikfeindlicher Truppenführer den Primat der Politik nicht mehr durchzusetzen vermochte. Bevor das Kabinett nach der Militärrevolte des März 1920 zurücktrat, scheiterte er an dem seine Amtsführung als Reichswehrminister kennzeichnenden Konflikt einer doppelten Loyalität, die er als militärischer Oberbefehlshaber einer nicht in die demokratische Staatsordnung integrierten Armee einerseits und als parlamentarisch verantwortlicher Minister seiner mit starken militärfeindlichen Strömungen durchsetzten Partei andererseits schuldete60.

Reichswirtschaftsminister wurde zunächst wieder Rudolf Wissell. Der gelernte Maschinenbauer hatte sich hervorragende volkswirtschaftliche und sozialpolitische Kenntnisse als Autodidakt angeeignet. Vor seiner Regierungstätigkeit im Kabinett Scheidemann und im zweiten Rat der Volksbeauftragten[XXXIII] war er als Nachfolger Gustav Bauers seit 1909 mit der Leitung des Zentralarbeitersekretariats der Generalkommission der Freien Gewerkschaften betraut gewesen und erst 1918 als Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion in den Reichstag nachgerückt. Von den „Extremisten nüchterner Sachlichkeit“ unter den sozialdemokratischen Kabinettsmitgliedern – Bauer, Müller und Schmidt – unterschied er sich „durch eine lebhafte Phantasie und ein starkes sozialethisches Pathos“61. Dieses Engagement fand seinen deutlichen Niederschlag in den Plänen des Reichswirtschaftsministers und seiner engsten Mitarbeiter – darunter vor allem seines Unterstaatssekretärs Wichard von Moellendorff –, die gesamte Volkswirtschaft einer auf das Gemeinwohl hin orientierten planmäßigen Führung und Kontrolle unter gleichzeitiger Beibehaltung der privatkapitalistischen Wirtschaftsstruktur zu überantworten. Schon im Kabinett Scheidemann hatte sich Wissell durch Ressortquerelen und die Flucht in die Öffentlichkeit selbst isoliert, als seine Kollegen, angesichts der beängstigenden Wirtschafts- und Ernährungslage Experimenten abhold, eine Entscheidung über seine von den Regierungsparteien nicht ohne weiteres mittragbare Wirtschaftskonzeption vor sich herschoben. So wie er, einer Beobachtung Arnold Brechts in Weimar zufolge, beim Schachspiel „jede Gelegenheit zum Schlagen und Austauschen von Figuren“ kompromißlos wahrnahm62, versuchte er, kaum daß das Kabinett Bauer seine Geburtswehen überstanden und den Versailler Vertrag unter Dach und Fach gebracht hatte, die Durchsetzung seines Gemeinwirtschaftsprogramms mit einer für einen Parteipolitiker bemerkenswerten sachlichen und taktischen Unflexibilität zu ertrotzen63. Er überschätzte damit seinen Einfluß und seine Stellung, aber auch die Belastbarkeit der kollegialen Solidarität innerhalb der Reichsregierung. Als das Kabinett sich der von dem unbequemen Minister geforderten Grundsatzentscheidung geschlossen versagte, reichte dieser folgerichtig am 12. Juli 1919 seinen Rücktritt ein64.

Nachfolger Wissells im Amt des Reichswirtschaftsministers wurde am 15. Juli der bisherige Reichsernährungsminister Robert Schmidt. Das Reichsernährungsministerium, das er bereits im Kabinett Scheidemann verwaltet hatte, leitete er bis zu dessen Vereinigung mit dem Reichswirtschaftsministerium am 15. September 1919 kommissarisch weiter. Der aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangene gelernte Klaviermacher konnte unter seinen Kabinettskollegen auf die längste, seit 1893 (mit einer kurzen Unterbrechung) währende politische Tätigkeit im früheren Reichstag zurückblicken. In der Kabinettsarbeit gewann er kein besonderes Profil. Ein gelegentliches Aufbäumen65 dieses – nach dem Urteil Otto Geßlers – menschlich anspruchslosen, wohltuend schweigsamen, streng sachlichen Ministers66 trug den Charakter rhetorischer Kraftakte eines zwischen Programmatik und Pragmatik schwankenden typischen Reformsozialisten. Einer zielstrebigen sozialistischen Wirtschaftspolitik hat er gar nicht zum[XXXIV] Durchbruch verhelfen wollen, obwohl man dies von ihm, der den Gemeinwirtschaftsplänen Wissells am konsequentesten widersprochen hatte, am ehesten erwarten durfte.

Vom „Sprechminister“ des Kabinetts Scheidemann, „der in allen parteipolitisch zugespitzten Debatten für die Regierung und die Partei zugleich das Wort nahm und manchen Strauß mit der Rechten ausfocht“67, avancierte mit Eduard David einer der Hauptvertreter des revisionistischen Flügels der Sozialdemokraten zum Reichsinnenminister in einem Kabinett, zu dessen Leitung er anfangs selbst in Vorschlag gebracht worden war. Als die von ihm bereits frühzeitig aufgeworfene Frage des Wiedereintritts der Demokraten in die Reichsregierung sich auf die Vergabe eines der sogenannten politischen Ministerien zuspitzte, trat er – nicht nur mit Rücksicht auf seine anfällige gesundheitliche Konstitution – am 5. Oktober 1919 sein Ressort an Erich Koch ab, um daraufhin dem Kabinett wieder – wie schon unter Scheidemann – als Minister ohne Portefeuille anzugehören68. Der robuste Streit um Position und Stellung lag ihm nicht. Die Anziehungskraft seiner Person und seine politische Stärke lagen darin, daß er zu reden wußte. Hervorragend gebildet, war der promovierte Gymnasiallehrer ein geschätzter Causeur69. In der Kabinettsrunde ergriff er oft und zu den verschiedensten Themen in wohlgesetzten Worten und mit einem Hang zum Grundsätzlichen das Wort, was seinen pragmatischer denkenden Nachfolger im Amt zu dem Verdikt veranlaßte, David sei „ein unverbesserlicher Schwärmer“70.

In das Reichsarbeitsministerium zog der Gewerkschaftsführer und bisherige württembergische Arbeitsminister Alexander Schlicke ein, dem die Nationalversammlungsfraktion der SPD erst eine knappe Stunde vor der konstituierenden Sitzung des neuen Kabinetts den Vorzug vor dem von der Parteiführung favorisierten Hugo Sinzheimer gab71. Als gelernter Feinmechaniker war er 1891 Sekretär, 1895 Vorsitzender des Deutschen Metallarbeiterverbandes geworden. In diesem Amt hatte er den Verband zur größten deutschen Einzelgewerkschaft gemacht und im Weltkrieg die Politik des Burgfriedens zwischen Unternehmern und Arbeitern mitgetragen. Als die 14. Generalversammlung des Metallarbeiterverbandes im Oktober 1919 diese Haltung mißbilligte, bewirkte sie nicht nur die Abwahl Schlickes aus dem Verbandsvorsitz, sondern erteilte auch der von ihm als amtierenden Reichsarbeitsminister kompromißhaft betriebenen Sozialpolitik eine deutliche Absage72.

Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger war 1903 als jüngster Abgeordneter in den Reichstag gewählt worden. Er hatte im Weltkrieg eine Reihe diplomatischer Sonderaufträge ausgeführt und 1917 in dem undurchsichtigen Intrigenspiel[XXXV] gegen Reichskanzler von Bethmann Hollweg die Fäden mitgeknüpft. 1918 Waffenstillstandskommissar des Deutschen Reichs, zuletzt Minister ohne Portefeuille im Kabinett Scheidemann, spielte Erzberger in dem neugebildeten Kabinett kraft seiner dynamischen Persönlichkeit eine dominierende Rolle73 . „Wenn die anderen Minister bedächtig erwogen, was zu tun sei, und ihre Meinungsverschiedenheiten in längeren Reden in der ihnen von parlamentarischen Ausschüssen her gewohnten Weise erörterten“, nahm er „das Wort als einer, der jeweils eine klar bestimmte Politik, oft einen gangbaren Ausweg in beredten, aber knappen Worten vorschlug und zugleich die Ausführung seiner Vorschläge in praktischen Maßnahmen skizzierte. […] In dieser disponierenden und verwaltungsmäßigen Energie war er allen seinen Kollegen weit überlegen“74. Seine mit profunder Sachkenntnis und überlegenem Durchsetzungsvermögen gepaarte Selbstsicherheit, die in ihm keine Zweifel an der Richtigkeit der jeweils getroffenen Entscheidung aufkommen ließ, schlug sich in einem Arbeitsstil nieder, der zeitraubende Sachverständigen- und Referentenbesprechungen geringschätzte und komplizierte Probleme in direkten Gesprächen „unter vier Augen“ anging. Nicht zu Unrecht rief er damit immer wieder die Kritik seiner Kollegen, die sich übergangen fühlten, und maßregelnde Beschlüsse des Gesamtkabinetts hervor75. Sachlich agierte er in seinem Ressort mit großem Erfolg. „Im Vollgefühl der [ihm] bevorstehenden undankbaren Aufgabe“ hatte er auf Drängen Eberts und Bauers neben dem Vizekanzleramt nicht, wie von ihm selbst beabsichtigt, die Leitung des Verkehrs-, sondern die des Finanzressorts übernommen76 und als Finanzminister in weniger als neun Monaten das deutsche Steuer- und Finanzsystem einer drastischen Neuordnung in unitarischem Sinn unterzogen. Er besaß, wie auch sein Kabinettskollege Gustav Noske, einen bemerkenswerten Mut, wenn es um sachlich für notwendig erachtete unpopuläre Entscheidungen ging. Seine reichlich vorhandenen Gegner verstanden es, ihn während seiner Amtszeit durch den ehemaligen Unterstaatssekretär im Reichsschatzamt Karl Helfferich in einen politisch motivierten Korruptions- und Rufmordprozeß zu verwickeln, durch den sie zugleich das parlamentarisch-demokratische System der ungeliebten Republik zu treffen hofften. Ungeachtet der vom Reichskabinett einmütig bewiesenen Solidarität trat er nach einem nicht alle Zweifel an seiner persönlichen Integrität aus dem Weg räumenden Urteil am 12. März 1920 von seinem Amt zurück77. Drei Mordanschläge sollte er als Reichsfinanzminister glimpflich überstehen78; einem vierten fiel er am 26. August 1921 zum Opfer.

[XXXVI] Gemessen an den Aktivitäten Erzbergers trat die Tätigkeit der übrigen Zentrumsminister in den Hintergrund. Dem promovierten Juristen Johannes Bell, der als Reichskolonialminister in seinem Amt bestätigt wurde, fiel die undankbare und an seinem Selbstverständnis als Minister zehrende Aufgabe zu, an der Seite Außenminister Müllers in Versailles einen Vertrag zu unterzeichnen, der Deutschland alle Kolonien nahm und ihn in seinem Ministeramt auf bloße Abwicklungsgeschäfte beschränkte. Von der Leitung des Kolonialministeriums am 7. November 1919 entbunden, widmete er sich nun ressortmäßig ganz der Überführung der Ländereisenbahnen in die von ihm als Reichsministerialinstanz erst noch auszubauende Reichsverkehrsverwaltung. Als Reichsverkehrsminister boten sich ihm hinreichend Gelegenheiten zur praktischen Umsetzung der von ihm programmatisch befürworteten reichsunitarischen Tendenzen, die in der Reichsverfassung angelegt waren. Doch agierte er hierbei ungleich weniger erfolgreich als im Zuge der Reichsfinanzreform sein Parteifreund Erzberger. Als die Verkehrsvereinheitlichung ins Stocken geriet, bot Reichskanzler Bauer ihm im Zuge eines geplanten Kabinettsrevirements das vakant gewordene Reichsschatzministerium an. Letzteres bedürfe „einer eigentlich fachmännischen Erfahrung nicht im gleichen Maße wie das Reichsverkehrsministerium“, meinte der Reichskanzler im Februar 1920, sondern „an der Spitze vor allem jetzt einer politisch geschulten und parlamentarisch erprobten Vertretung gegenüber dem Reichstag“79. Die parlamentarische Erfahrung war Bell, der seit 1908 Mitglied des preußischen Landtags war und seit 1912 dem Reichstag, anschließend der Nationalversammlung und der preußischen Landesversammlung angehörte, nicht abzusprechen; die dritte Versetzung aber, die er als Minister innerhalb eines Kabinetts sich gefallen lassen wollte – oder mußte –, zog bissige Kommentare seiner Kabinettskollegen nach sich80.

Das Amt des Reichspostministers wurde erneut von Johann Giesberts wahrgenommen, obwohl sein Wiedereintritt in das Reichskabinett zunächst nicht gesichert schien, da er als Mitglied der Deutschen Friedensdelegation sich in Versailles gegen die Annahme des Friedensvertrags ausgesprochen hatte81. Mit dem neuen Reichsministerpräsidenten verband den Mitbegründer der Christlichen Gewerkschaftsbewegung das in langjähriger parlamentarischer Arbeit nachgewiesene Engagement für die sozialen und politischen Forderungen der Arbeiterbewegung. Gemeinsam hatten sie – Bauer als Staatssekretär, Giesberts als Unterstaatssekretär – im Kabinett des Prinzen Max von Baden und unter dem Rat der Volksbeauftragten das Reichsarbeitsamt geleitet. In seinem jetzigen Amt blieb Giesberts vorwiegend auf administrative Tätigkeiten, die Überführung der bayerischen und württembergischen Postreservate auf das Reich, Gebühren- und Besoldungsfragen beschränkt, doch leistete er als gebürtiger Rheinländer der Reichsregierung darüber hinaus wertvolle Dienste durch seine integrierend wirkenden Vermittlerfähigkeiten beim Abschluß eines wegen mangelnder[XXXVII] Kohleförderung dringend gebotenen Überschichtenabkommens im rheinischen Bergbau und in jenen Verhandlungen, die im März 1920 zum Bielefelder Abkommen mit dem Aufständischen des Ruhrgebiets führten82.

Zu den bislang von den Deutschdemokraten verwalteten Ministerien, die anläßlich des Regierungswechsels von Zentrumspolitikern übernommen wurden, gehörte neben dem Reichsfinanzministerium auch das Reichsschatzministerium, in das als Vertreter des süddeutschen Katholizismus Wilhelm Mayer-Kaufbeuren (so genannt nach seinem Wahlkreis in Schwaben) eintrat. Mayer, wie sein Kollege Bell promovierter Jurist, gehörte dem Reichstag seit 1907 und als Mitglied der BVP dem engeren Vorstand der zwischen Zentrum und BVP in der Nationalversammlung gebildeten Fraktionsgemeinschaft an. Er galt wiederholt als ministrabel. Die Ernennung zum Staatssekretär durch Prinz Max von Baden hatte er abgelehnt; im Vorfeld der Bildung der Kabinette Fehrenbach und Wirth war er später als potentieller Reichskanzler im Gespräch. Als Reichsschatzminister oblag ihm ressortmäßig die Durchführung des Sozialisierungsprogramms der Regierung Bauer. Dabei überkamen ihn „Gewissensbisse“. Sein eigenwilliger Versuch, die Prinzipien der Sozialbindung des Eigentums und der Privateigentums- und Marktwirtschaftsordnung miteinander zu verknüpfen sollte einen kabinettsinternen Konflikt auslösen, auf den noch einzugehen sein wird83. Die Aufkündigung der politisch-parlamentarischen Zusammenarbeit mit dem Zentrum durch die BVP im Januar 1920 zog das Ausscheiden Mayers aus dem Kabinett nach sich. Mayer ging als diplomatischer Außenseiter nach Paris, wo er auf dem exponierten Posten des deutschen Geschäftsträgers die Haltung der Regierung Bauer in der zu diesem Zeitpunkt auf des Messers Schneide stehenden Auslieferungsfrage seinen französischen Gesprächspartnern aus erster Hand darlegen konnte84. Das Reichsschatzministerium blieb seit dem 30. Januar 1920 unbesetzt.

Aufgrund seiner leidenschaftlichen Stellungnahme gegen den Versailler Vertrag hatte der bisherige Reichsjustizminister Otto Landsberg seinen Verbleib im Reichskabinett abgelehnt. Auch der sozialdemokratische Rechtsanwalt Hugo Sinzheimer versagte sich dem Ansinnen der SPD-Fraktion, das Amt des Justizministers zu übernehmen, so daß das Ministerium nach der Konstituierung der Regierung Bauer zunächst von Unterstaatssekretär Heinrich Delbrück kommissarisch verwaltet wurde85. Als verantwortlicher Minister zog am 3. Oktober 1919 Eugen Schiffer in das Reichsjustizministerium ein. Schiffer hatte nicht nur eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn in der preußischen Justiz absolviert, sondern aus der nationalliberalen Fraktion des Preußischen Landtags und des alten Reichstags heraus auch als ehrgeiziger Parteipolitiker eine Karriere in der staatlichen Hierarchie begonnen: 1917 Unterstaatssekretär im Reichsschatzamt, ernannten ihn die Volksbeauftragten 1918 zum Staatssekretär in diesem Ressort,[XXXVIII] das er als Finanzminister im Kabinett Scheidemann bis zu dem von ihm provozierten Bruch mit dem Reichsministerpräsidenten weiter verwaltete. In der Junikrise 1919 wählte die Nationalversammlungsfraktion der DDP ihn zu ihrem Vorsitzenden. In dieser Funktion setzte er im Verlauf der zum Wiedereintritt der Demokraten in die Reichsregierung führenden Koalitionsverhandlungen Ende September 1919 für seine Partei drei Ministerposten und wiederum die Übernahme des Vizekanzleramtes durch, in dem er jetzt den von seiner Partei nicht wenig beargwöhnten Matthias Erzberger ablöste. Persönlich zeichnete sich der versierte Jurist, der den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die außenpolitischen Rechtsfragen der Nachkriegszeit legen mußte, durch eine überragende, geistvolle Beredsamkeit aus. Seine selbst in den ansonsten nüchternen Kabinettsprotokollen durchscheinende Eloquenz machte ihn zum routinierten „Meister der Gesprächsführung“, wie zahlreiche Beobachter anerkennend vermerkten, um im gleichen Atemzug Schiffers augenfällig taktische Beweglichkeit kritisch hervorzuheben86. Als die Reichsregierung ihn im März 1920 als Statthalter in Berlin zurückließ, taktierte er als „trickreicher Gegenspieler“ (Stephan) der Putschisten. Indem er sich durch, wie Innenminister Koch es nannte, „schlaue Manipulationen“87 der Verantwortung für entscheidende, möglicherweise kompromittierende Verhandlungsphasen zu entziehen suchte, versetzte er nicht nur seiner persönlichen Integrität, sondern im darüber ausbrechenden Parteienstreit auch der Koalitionsregierung Bauer einen folgenschweren Stoß88.

Im Amt des Reichsinnenministers löste der Kasseler Oberbürgermeister Erich Koch (-Weser) den Sozialdemokraten Eduard David am 5. Oktober 1919 ab. Politisch dem linken Flügel der früheren Nationalliberalen entstammend, hatte sich Koch als in der gemeindlichen Selbstverwaltung geschulter Jurist durch seine maßgebliche Mitarbeit in der Weimarer Verfassungskommission eine starke Stellung innerhalb der Führungsschicht der DDP erworben. Seinen Einzug in das von den Demokraten mit besonderem Nachdruck beanspruchte Innenministerium befürwortete die Nationalversammlungsfraktion seiner Partei bereits unmittelbar nach der Aufnahme der Koalitionsverhandlungen Mitte September 1919. Dennoch fiel ihm der entscheidende, über die Kommunalpolitik hinausreichende Schritt in die Reichspolitik „furchtbar schwer“, war er doch zugleich zum Stadtoberhaupt von Düsseldorf gewählt worden89. Sein vorübergehendes Zögern veranlaßte Reichspräsident Ebert, von sich aus dem von der DDP gleichfalls als ministrabel erachteten Hermann Luppe, der als Frankfurter Zweiter Bürgermeister anläßlich der Nationalversammlungswahlen Max Weber von einem sicheren Listenplatz verdrängt hatte, das Ministeramt anzubieten90.[XXXIX] Als Koch sich dann doch für die Übersiedlung nach Berlin entschied, brachte er in das Kabinett eine profunde Kenntnis praxisorientierter Verwaltungsarbeit mit, die ihn zum entschiedenen Kritiker der seiner Ansicht nach lebensfremd gewordenen Ministerialbürokratie machte91. Da das Reichsinnenministerium infolge des föderalen Reichsaufbaus in vielen Bereichen durchaus nicht als Träger der inneren Reichsgewalt fungierte, sah er seine hervorragende Aufgabe in der Fortbildung des Verfassungsrechts, so daß er sich zunehmend zum Hauptförderer der unitarischen Reichsreformbestrebungen entwickelte. Ungeachtet der Nüchternheit seines Handelns und Redens agierte er nach dem Urteil Otto Geßlers im Kreise seiner Kollegen als „ein ausgesprochen politischer Kopf“. In kritischen Situationen, angesichts der Januar-Demonstrationen vor dem Reichstagsgebäude und während der Putschtage im März 1920, als „die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder großenteils in recht depressiver Stimmung waren“, ergriff Koch „mit der ganzen ihm eigenen Aktivität“ die Zügel der Regierungsgewalt92. Diese wiederholt zu beobachtende impulsive Entschlossenheit hätte ihm eigentlich zu einer starken Stellung im Kabinett verhelfen müssen, doch war dort sein Einfluß keineswegs unbestritten. Als Hemmschuh erwiesen sich seine anfänglichen Vorbehalte gegen die meisten sozialdemokratischen Führer. Eine Zusammenarbeit mit ihnen hielt er noch im September 1919 für „höchst bedenklich“93. Darüber hinaus neigte er dazu, seine eigenen Entscheidungen immer wieder kritisch zu überdenken, wodurch er sich der von selbstsicherem Optimismus getragenen Überzeugungskraft Matthias Erzbergers deutlich unterlegen zeigte. Die Stoßkraft seiner politischen Aktionen erfuhr schließlich eine zusätzliche Schwächung aus einer latenten Rivalität mit dem zum Vizekanzler avancierten Eugen Schiffer, in dem er weniger den Parteifreund, denn den Gegenspieler glaubte sehen zu müssen, der ihn „nicht hochkommen“ lassen wolle94. Koch war ehrlich genug, die offenbar emotionale Prägung seines Tuns und Urteilens zuzugeben95. Im Ergebnis blieben daher seine Schritte und Wege „zu häufig nur unsicher. Die wirklich errungenen Erfolge standen in keinem Verhältnis zu den Anlagen und Geistesgaben dieses Mannes“96.

Als Kommunalpolitiker hatte auch der zuletzt in das Reichskabinett eintretende Otto Geßler seine politische Karriere begonnen. Die Ernennung des in Berlin weitgehend unbekannten schwäbischen Liberalen und Nürnberger Oberbürgermeisters zum Reichsminister für den Wiederaufbau ging auf eine Empfehlung seines bisherigen Oberbürgermeisterkollegen Koch zurück, nachdem die DDP bei der Besetzung dieses Postens vorübergehend in personelle Schwierigkeiten geraten war. Die Partei hatte in den zurückliegenden Koalitionsverhandlungen[XL] dem neuzubildenden Ressort den Vorzug vor einem verkleinerten Verkehrsministerium gegeben, war aber mit ihrer Absicht, dieses Amt mit einem Wirtschaftsführer als „Fachminister“ zu besetzen, bei den von der Fraktion angesprochenen Nichtparlamentariern Wiedfeldt, Bosch und Melchior auf wenig Gegenliebe gestoßen97. Aus der Sicht seiner Partei stellte somit der erst am 25. Oktober 1919 erfolgende Eintritt des homo novus Geßler in die Reichspolitik durchaus eine „Verlegenheitslösung“ dar. Die ersten Monate in Berlin nutzte er nach eigenem Bekunden dazu, sich „außerhalb der politischen Schußlinie über die allgemeine Lage und über die parteipolitische Situation von höherer Warte aus zu informieren“98. Er zögerte jedoch nicht, bereits kurz nach seinem Amtsantritt die seinem Ressort zugewiesene Koordinierung der deutschen Wiederaufbauleistungen an Belgien und Frankreich zunächst vorsichtig sondierend, dann in optimistischem Zugriff direkt anzugehen99. Während die Wiederaufbauproblematik in ihrer 1919 diskutierten Form zunehmend an Bedeutung verlor, sah sich Geßler höchst widerwillig Ende März 1920 in der durch den Kapp-Lüttwitz-Putsch geschaffenen politischen Konstellation von seiner Partei plötzlich auf einen der exponiertesten Posten innerhalb der Reichsregierung gestellt: Im zuletzt nur noch amtierenden Kabinett Bauer übernahm er die Geschäfte des Reichswehrministers100.

Fußnoten

32

Dok. Nr. 12, P. 8.

33

Dok. Nr. 36, P. 3.

34

Dok. Nr. 69.

35

R 43 I /2787 , Bl. 3.

36

Ebd., Bl. 14.

37

Dok. Nr. 211.

38

Johannes Fischart (d. i. Erich Dombrowski): Das alte und das neue System. Bd. II. S. 131–142.

39

Otto Geßler, a.a.O., S. 374 f.

40

Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22. S. 70.

41

Gustav Stresemann: Von der Revolution bis zum Frieden von Versailles. S. 175.

42

Otto Geßler, a.a.O.

43

Zur Wirkung Bauers auf seine Umgebung s. auch Arnold Brecht: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884–1927. S. 296 f. – Das Zitat bei Geßler, a.a.O., S. 374.

44

Einzelheiten s. Art. 56 RV; zur davon abweichenden verfassungsrechtlichen Stellung Scheidemanns und Bauers als RMinPräs. s. diese Edition: Das Kabinett Scheidemann, S. XXXV ff.

45

Dok. Nr. 75, Anm. 7.

46

Dok. Nr. 39, P. 1; 43, P. 3; 75, P. 2; 81, P. 1; 99, P. 7; 107 b; 123, Anm. 4; 168, Anm. 2; 213.

47

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 16.3.1920 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 25, S. 71).

48

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 1.8.1919 (ebd., Nr. 16, S. 251).

49

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 21.3.1920 (ebd., Nr. 25, S. 123); vgl. dazu Dok. Nr. 94, Anm. 4; 143; 161, Anm. 20.

50

So in den schon zitierten Memoiren Arnold Brechts und Otto Geßlers.

51

Siehe dazu in dieser Einleitung die Abschnitte „Auslieferungsfrage“ und „Räumung des Baltikums“.

52

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 21.1.1920 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 447).

53

Otto Geßler, a.a.O., S. 122.

54

Ebd., S. 128.

55

Otto Geßler, a.a.O., S. 375. – Der Vorgang wird ausführlich beschrieben von Victor Schiff: So war es in Versailles. S. 135 ff.

56

DAZ Nr. 144 vom 29.3.1920.

57

So Wilhelm Groener in einem Brief an seine Frau vom 21.3.1919, zit. nach Dorothea Groener-Geyer: General Groener. Soldat und Staatsmann. S. 151; ähnlich Adolf von Trotha in einem Manuskript vom August 1925 u.d.T. „Der Reichswehrminister Noske“ (Nachl. von Trotha , L 72).

58

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 15.11.1919 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 373); ähnlich Otto Geßler, a.a.O., S. 386.

59

Dok. Nr. 6; 10, P. 8; 127.

60

Dok. Nr. 127, Anm. 13; vgl. in diesem Zusammenhang Armin Benczek: Machtgewinn und Machtausübung in Zeiten inneren Notstandes. Zur Persönlichkeit des 1. Reichswehrministers der Weimarer Republik Noske. In: Wehrwissenschaftliche Rundschau, Jg. 19 (1969), S. 23–40 und 105–111.

61

Friedrich Stampfer: Die vierzehn Jahre der ersten deutschen Republik. S. 142.

62

Arnold Brecht, a.a.O., S. 273.

63

Dok. Nr. 2; 14, P. 5; 20, P. 4 nebst Anlage.

64

Dok. Nr. 23.

65

Dok. Nr. 125, P. 12; 151.

66

Otto Geßler, a.a.O., S. 387.

67

Johannes Fischart, a.a.O., S. 15.

68

Zum Gesamtzusammenhang s. Dok. Nr. 69.

69

So Otto Geßler, a.a.O., S. 387.

70

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 7.11.1919 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 365); vgl. Dok. Nr. 106, Anm. 5; 107 b.

71

Protokolle der SPD-NatVers.-Fraktion, 21.6.1919, 14 Uhr.

72

Einzelheiten s. Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 29. Jg., Nr. 45 vom 8.11.1919, S. 512 ff.

73

Gustav Stresemann bezeichnete die neugebildete Reichsregierung als ein „Kabinett Erzberger“ (a.a.O., S. 175); in gleichem Sinne äußerte sich Ernst Troeltsch (a.a.O., S. 72). Hans Delbrück kommentierte in den Preußischen Jahrbüchern, Bd. 177 (1919), S. 298 den Regierungswechsel vom 21. Juni 1919 unter der Überschrift: „Die Regierung Bauer-Noske-Erzberger“.

74

Arnold Brecht, a.a.O., S. 284.

75

Dok. Nr. 43, P. 3; 125, Anm. 7.

76

Matthias Erzberger: Erlebnisse im Weltkrieg. S. 379; vgl. in diesem Zusammenhang Erzbergers Rede vor der NatVers. am 8.7.1919 (NatVers.-Bd. 327, S. 1376 ).

77

Dok. Nr. 49, P. 8; 56, P. 9; 183, Anmm. 3 und 4.

78

Matthias Erzberger, a.a.O., S. 383; Dok. Nr. 155.

79

Bauer an Trimborn, 2.2.1920 (R 43 I /974 , Bl. 46–51).

80

Dok. Nr. 149, Anm. 10.

81

Germania Nr. 275 vom 20.6.1919.

82

Dok. Nr. 170, P. 4; 212.

83

Dok. Nr. 75, P. 2.

84

Dok. Nr. 152, Anm. 5.

85

Zu den Versuchen der SPD-NatVers.-Fraktion, das Amt des RJM zu besetzen s. deren Protokolle vom 20.6.1919, 13.30 Uhr und 21.6.1919, 9 Uhr.

86

Tagebuchaufzeichnungen Koch-Wesers vom 3. 1., 9. 1. und 8.2.1920 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 21, Bl. 5 und 11 sowie Nr. 16, S. 459); Otto Geßler, a.a.O., S. 385 f.; Werner Stephan: Aufstieg und Verfall des Linksliberalismus 1918–1933. S. 51 und 128.

87

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 20.3.1920, 11 Uhr (Nachl. Koch-Weser , Nr. 25, Bl. 117).

88

Dok. Nr. 201; 202; 211; 213; 216, P. 1; 218, V.

89

Zitat in Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 263 (Tagebuchaufzeichnung vom 21.9.1919); s. dazu auch Koch an Schiffer, 23.8.1919 (Nachl. Schiffer, Nr. 10, Bl. 246 ff.).

90

Dok. Nr. 69, Anm. 4; s. dazu auch Hermann Hanschel: Oberbürgermeister Hermann Luppe. Nürnberger Kommunalpolitik in der Weimarer Republik. S. 21.

91

Dok. Nr. 143 sowie in Kochs Tagebüchern, passim.

92

Dok. Nr. 146; 191; 201, insbes. Anm. 5; Zitate nach Otto Geßler; a.a.O., S. 123 f. und 388; s. dazu auch Nachl. Schiffer , Nr. 2, Bl. 96.

93

Dok. Nr. 69, Anm. 2.

94

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 3.1.1920 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 21, Bl. 5); vgl. auch Dok. Nr. 145, Anm. 1.

95

Tagebuchaufzeichnung Koch-Wesers vom 18.6.1919 (Nachl. Koch-Weser , Nr. 16, S. 171).

96

Gerhard Schulz: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Bd. I, S. 250 f.

97

Dok. Nr. 69; 84, P. 5; s. dazu auch Otto Geßler, a.a.O., S. 59 ff. und 113 ff., Werner Stephan, a.a.O., S. 131 f. und Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. S. 182 f. und 358 f.

98

Otto Geßler, a.a.O., S. 115.

99

Dok. Nr. 98; 148, P. 2.

100

Dok. Nr. 213, Anm. 3 und 13; 216, P. 1; s. dazu auch Otto Geßler, a.a.O., S. 129 ff.

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