2.160 (bau1p): Nr. 158 Der Reichskanzler an die Gewerkschaftskommission Berlins und Umgegend. 31. Januar 1920

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[570] Nr. 158
Der Reichskanzler an die Gewerkschaftskommission Berlins und Umgegend. 31. Januar 1920

R 43 I /2531 , Bl. 17–18 Umdruck1

[Betrifft: Zeitungsverbote und Inhaftierungen nach der Verhängung des Ausnahmezustands2.]

Das Schreiben vom 24. Januar d[ieses] J[ahres] mit der beigefügten Entschließung habe ich erhalten3. Es ist der Reichsregierung außerordentlich schmerzlich, daß sie zum Erlaß von Ausnahmevorschriften und auf Grund dieser[571] zum Verbot mehrerer Zeitungen hat schreiten müssen. Die Reichsregierung würdigt durchaus die grundsätzlichen Bedenken, die gegen jedes Verbot dieser Art bestehen. Nur ungern setzt sie sich dem falschen Vorwurf aus, daß sie eine oppositionelle Partei vorübergehend politisch mundtot machen wolle. Tatsächlich liegt aber ein Notstand vor, der die Reichsregierung nach ihrer wohlüberlegten Beurteilung der Verhältnisse vor die Wahl setzt, entweder solche Ausnahmevorschriften zu erlassen und anzuwenden oder das ganze Volk von 60 Millionen einer Katastrophe preiszugeben. Die wirtschaftliche Katastrophe steht dicht vor der Tür. Die beiden Grundpfeiler der Wirtschaft sind der Eisenbahnverkehr und die Kohlenversorgung. Beide sind in so schlechtem Zustande, daß durch ein kleines Versagen an irgendeiner Stelle die furchtbarsten Folgen für das gesamte Land eintreten. Diese Folgen sind teils sofort fühlbare, wie die Kohlennot großer Städte, Stilliegen der Industrie, Arbeitslosigkeit usw., teils nicht minder schwere künftige Folgen. Zu den letzteren gehört die von allen Sachverständigen festgestellte Tatsache, daß im nächsten Jahre eine große Mißernte eintritt, wenn nicht das Land noch vor der Frühjahrsbestellung ausreichend Kunstdünger erhält. Hierzu muß die Düngerindustrie (Kali-, Stickstoff- und Phosphatwerke) sofort ausreichend mit Kohlen versorgt werden. Da die Folgen der Mißernte wegen der schlechten Valuta durch Einfuhr nicht ausgeglichen werden können, liegt hier eine Gefahr, deren Bedeutung den wenigsten zur Zeit klar ist.

Die bloße Belehrung über diese hier kurz angedeuteten Umstände, die zum Teil komplizierter Natur sind, reicht leider nicht aus, um der unverantwortlichen Agitation radikaler Blätter bei den großen Massen entgegenzutreten. Den Agitatoren kommt es gerade darauf an, dieses Unverständnis der Menge auszunützen, um eine wirtschaftliche Katastrophe herbeizuführen, bei der sie an die Regierung zu kommen hoffen. Sie wollen die Katastrophe als Mittel zum Zweck. Das aber ist bei der Furchtbarkeit des mit der Katastrophe verbundenen Elends ein Treiben, das die Regierung nicht dulden kann und darf. So bleiben im Interesse der Gesamtheit nur Ausnahmevorschriften übrig.

Um die Zeitungsverbote nach Möglichkeit erträglicher zu gestalten, ist die Reichsregierung bereit, künftig solche Verbote zu begründen und, falls irgend möglich, von vornherein zu befristen. Ferner wird eine Verordnung vorbereitet, die eine Nachprüfung der Notwendigkeit des Verbots durch einen Ausschuß des Reichsrats zuläßt4.

[572] Die Reichsregierung versteht die Gründe, die die Gewerkschaftskommission treiben, für unbedingte Preßfreiheit einzutreten. Sie fordert aber auch eine gerechte Prüfung und Würdigung ihrer Gegengründe und dringt darauf, daß die Meinungsverschiedenheit auf diesem Gebiete, so bedeutungsvoll sie in ruhigen Zeiten ist, zur Zeit hinter der unendlichen gemeinsamen Not, an deren Linderung die Regierung mit allen Kräften arbeitet, zurücktritt. Die Reichsregierung appelliert an die Gewerkschaftskommission, durch tätige Förderung der Arbeitsleistungen an der Überwindung der schweren Lage mitzuarbeiten5.

gez. Bauer.

Fußnoten

1

Abschriften gingen an den RIM, den RWeM, den Vorstand der SPD und den Reichspressechef MinDir. Rauscher.

2

Zur Verhängung des Ausnahmezustandes über das Reichsgebiet mit Ausnahme von Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden sowie die von ihnen umschlossenen Gebiete durch VO des RPräs. aufgrund Art. 48 Abs. 2 RV vom 13.1.20 (RGBl. S. 207 ) s. Dok. Nr. 146. – Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes und der damit verbundenen Übertragung der vollziehenden Gewalt auf den Militärbefehlshaber hatte RWeM Noske neben der Anordnung von Umzugs- und Versammlungsverboten unter freiem Himmel den Reichswehrgruppenkommandos am 14. 1. befohlen, „alle unabhängigen und kommunistischen Zeitungen, wenn sie hetzen, sofort zu verbieten, bzw. zu beschlagnahmen. Außerdem ist Vorsorge zu treffen, daß derartige Hetzblätter nicht aus Gebieten, wo der Ausnahmezustand nicht herrscht, in die unter Ausnahmezustand stehenden Gebiete eingeführt werden, besonders nach Groß-Berlin“ (R 43 I /2531 , Bl. 46). Des weiteren waren am 19. 1. auf Veranlassung des Oberkommandos in den Marken der Vorsitzende der USPD, Däumig, und weitere linksstehende Personen als „intellektuelle Urheber“ der Betriebsrätedemonstrationen in Berlin und im Reich, die am 13. 1. zur Verhängung des Ausnahmezustands geführt hatten, verhaftet worden (vgl. DAZ Nr. 35 vom 20.1.20). Diese Maßnahmen waren vom RK nach einer scharfen Verurteilung der USPD und der dieser Partei nahestehenden Zentrale der Betriebsräte Deutschlands in der NatVers.-Sitzung vom 14. 1. angekündigt worden (NatVers.-Bd. 331, S. 4203  ff.). Eine vom RWeMin. mit Stand vom 28.2.20 zusammengestellte Liste von 46 verbotenen Zeitungen – darunter seit dem 7. 2. für eine Woche auch die rechtsstehende „Deutsche Zeitung“ – und 68 namentlich aufgeführten Schutzhaftgefangenen befindet sich in: R 43 I /2531 , Bl. 48–51.

3

Die Berliner Gewerkschaftskommission – der Anfang 1920 mehrheitlich aus Unabhängigen Sozialdemokraten zusammengesetzte Ortsausschuß der freien Gewerkschaften – hatte sich am 22. 1. mit den Folgen der Demonstration vom 13. 1. und dem daraus resultierenden Verbot des Publikationsorgans der USPD und der Berliner Gewerkschaften, der „Freiheit“, beschäftigt (Einzelheiten s. Vorwärts Nr. 43 und 46 vom 24./26.1.20). In der Sitzung war mit zahlreichen Gegenstimmen folgende Entschließung angenommen worden, die der Vorsitzende Körsten dem RK am 24. 1. überreichte: „Die Plenarversammlung der Gewerkschaftskommission fordert von der Regierung erneut, das durch nichts gerechtfertigte Verbot der maßgebenden Arbeiterblätter aufzuheben. Das Verbot des Erscheinens dieser Presseorgane lähmt die Tätigkeit fast aller Gewerkschaften, die unbedingt auf das Funktionieren der Arbeiterpresse angewiesen sind. Schenkt die Regierung erneut dieser Willensmeinung nicht Gehör, so muß die Gewerkschaftskommission die Folgen dieser Haltung ablehnen. Die Gewerkschaftskommission drückt ihre Empörung über die tendenziöse Berichterstattung des Korrespondenzblattes aus. Dieses Organ des Gewerkschaftsbundes, das berufen sein soll, die Interessen der gewerkschaftlichen Organisationen zu vertreten, ist verpflichtet, im Sinne der gewerkschaftlichen Betätigung zu schreiben, oder es verliert sein Anrecht darauf, als Informationsblatt der Gewerkschaften zu gelten. Die Gewerkschaftskommission fordert aufs entschiedenste die Enthaftung der aus Anlaß der Demonstration vom 13. Januar Festgenommenen. Die Verhaftungen sind derart wahllos erfolgt, daß es feststeht, daß nicht bestimmte Verfehlungen die Ursache der Verhaftungen waren, sondern man die Führer einer bestimmten Richtung treffen wollte“ (R 43 I /2531 , Bl. 12 f.). RK Bauer verfügte auf dem Anschreiben: „Entwurf einer Antwort vorlegen.“ Der dem vorliegenden Antwortschreiben zugrundeliegende Entw., der nach Rücksprache des RK mit GehRegR Brecht geringfügig geändert wurde, befindet sich in: R 43 I /2531 , Bl. 15 f.

4

Zu diesen Maßnahmen, die nicht zuletzt als Ergebnis eines Gesprächs des RK mit führenden Pressevertretern am 21. 1. zu werten sind, vgl. Dok. Nr. 156, P. 4. – Im Vorgriff auf die in Aussicht gestellten Regelungen hatte der RWeM – mit einem bezeichnenden Zusatz – allen Reichswehrgruppenkommandos am 26. 1. befohlen: „Die Zeitungsverbote sind von jetzt ab zu befristen. Als besonders wirksames Mittel gegen die Hetzpresse wird auch die Verhängung der Schutzhaft über die tatsächlich für die beanstandeten Artikel verantwortlichen Redakteure empfohlen“ (R 43 I /2531 , Bl. 46). Als Anfang Februar, im Anschluß an ein vorangehendes Zeitungsverbot, diese Maßnahmen gegen die Erfurter „Tribüne“ und deren Redakteur Krause angewendet werden, kritisiert der RK dieses Vorgehen als „Zensurmaßnahme, die an die Kriegszeit unangenehm erinnert“. Er bittet den RWeM um eine Beschränkung der Maßnahmen auf „Notfälle“, wie sie den Anfang Januar erlassenen Ausnahmevorschriften zugrunde gelegen hätten (Der RK an den RWeM, 19.2.20; R 43 I /2474 , Bl. 58 f.).

5

Über die weitere Behandlung der Presseverbote und ihrer Folgen unter den Bedingungen des infolge des Kapp-Lüttwitz-Putsches in weiten Teilen Deutschlands noch verschärften Ausnahmezustands s. diese Edition: Das Kabinett Müller I, Dok. Nr. 14; 55, P. 2 und 91, P. 3.

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