2.206.2 (ma11p): 2. Politische Lage.

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2. Politische Lage.

Der Reichskanzler Die Lage sei zur Zeit noch nicht geklärt. Die Mittelparteien hätten eine Formulierung über die Außenpolitik gefunden1, auf die aber aus taktischen Gründen eine formelle Festlegung nicht erfolgt sei. Dann sei die bekannte Einladung der Deutschnationalen an die Mittelparteien zu einer Besprechung erfolgt, in der sie die Kanzlerschaft des Großadmirals von Tirpitz in den Vordergrund gestellt hätten2. Ihr Gedanke dabei sei der gewesen, daß er die Widerstände innerhalb der Deutschnationalen Volkspartei beseitigen sollte. Das Zentrum habe dann die Sitzung verlassen, da es in einer Erörterung über diese Frage eine Desavouierung der jetzigen Regierung und einen Eingriff in die Rechte des Reichspräsidenten erblickt hätte. In einer Sondersitzung des Zentrums sei dann die Kandidatur Tirpitz für politisch bedenklich erklärt und dies der Deutschnationalen Volkspartei mitgeteilt worden. Gestern habe dann eine weitere Besprechung der bürgerlichen Parteien stattgefunden, wobei über das auswärtige Programm ergebnislos diskutiert wurde. Die Besprechung werde heute fortgesetzt. Dabei werde die Personenfrage wieder eine Rolle spielen. Denn für die Ausführung des Gutachtens werde die Personenfrage als wichtig angesehen.

[660] Gestern sei die Frage an das Zentrum gerichtet worden, ob es, nach Weitertreibung der Verhandlungen über das Gutachten, die wirtschaftlichen Forderungen ablehnen werde, wenn die Ehrenfragen und politischen Fragen3 bis dahin nicht weitergediehen seien. Das Zentrum habe geantwortet, daß es sich für die Zukunft nicht binden könne.

(Der Kanzler wird ans Telephon gerufen und fährt nach Rückkehr fort:)

Aus dem Reichstag werde ihm soeben mitgeteilt: In der Besprechung der bürgerlichen Parteien hätten die Deutschnationalen bereits den ersten Satz des außenpolitischen Programms4 abgelehnt. Im Verlauf der Besprechung hätten die Deutschnationalen mitgeteilt, daß sie eine Verständigung über das Programm für möglich hielten, wenn Tirpitz die Führung des Kabinetts übernehme. Die vier Mittelparteien hätten sich mit den bekannten Gründen dagegen geäußert, worauf die Besprechung beendet wurde. Nunmehr träten die Mittelparteien allein zusammen.

Reichsminister Dr. Stresemann: Der Botschafter Houghton, der Botschaftsrat Knox, der japanische Botschafter5 und der belgische Gesandte6 hätten ihn wissen lassen, daß sie in Tirpitz eine schwere Belastung sähen7.

Die Mittelparteien hätten gestern gesagt, daß sie das Gutachten nur annehmen könnten, wenn gleichzeitig ein internationaler Vertrag über die politischen Forderungen zustande käme. Hiervor müsse er eindringlich warnen. Sir Eyre Crowe habe sich sehr besorgt darüber geäußert, daß die Gefangenen- und die Räumungsfrage jetzt so stark erörtert würden. Er, Stresemann, warne dringend davor, diese Fragen als Bedingung der Annahme des Gutachtens hinzustellen. Natürlich ständen diese Dinge in engstem Zusammenhang.

Der Reichskanzler Wenn gemäß der obigen Frage an das Zentrum die politischen Fragen zur Voraussetzung der Annahme des Gutachtens gemacht würden, so würde dies verhängnisvoll sein. Die Frage sei andererseits für die Mittelparteien sehr gefährlich. Es sei weiter die Idee eines Mantelgesetzes aufgekommen, durch das die Erfüllung der politischen Forderungen zur Voraussetzung für die Annahme gemacht würde.

Reichsminister Dr. Brauns würde es sehr bedauern, wenn man infolge der innerpolitischen Lage zu einer Verquickung der Annahme des Gutachtens mit den politischen Forderungen käme. Aus diesem Grunde müsse man auch den obigen Gedanken des Mantelgesetzes verwerfen. Würde das Gutachten angenommen, so hätten wir die anderen Staaten in den politischen Dingen auf[661] unserer Seite, weil sie sich mit ihren eigenen Interessen deckten. Das Kabinett müsse auf seinem bisherigen Wege in der Außenpolitik bleiben.

Staatssekretär Fischer macht längere Ausführungen über die Materie des Gutachtens.

Reichsminister Jarres tritt der Auffassung des Ministers Brauns über die Nichtverquickung bei. Aber gewisse Garantien seien in den politischen Fragen und in den Ehrenpunkten nötig. Die die Durchführung des Gutachtens vorbereitenden Gesetze bedürften der Zustimmung des Reichstags. Seines Erachtens müßte aber auch über die Klärung strittiger oder zweifelhafter Punkte des Gutachtens etwa ein internationales Protokoll aufgenommen werden. Wenn wir ohne Einschränkung annähmen, so fürchte er, daß wir in den politischen und Ehrenfragen nichts erreichen würden. Angesichts unserer bisherigen Erfahrung mit Unterschriften hielte er also ein gewisses Maß von Verquickung für notwendig. Er könne den Standpunkt der Deutschnationalen daher durchaus verstehen. Fraglich sei jedoch, auf welche Weise eine Verquickung vorgenommen werden müßte. Jedenfalls müßten diese Dinge mindestens nebeneinander behandelt werden. Diese Sicherheit müsse gegeben sein.

Er kenne das Programm der Mittelparteien nicht und bäte, ihn zu informieren. Auch die Minister, die nicht Abgeordnete seien, müßten über die Regierungsbildungsverhandlungen laufend unterrichtet werden. Es müsse endlich jetzt über die Frage gesprochen werden, ob das jetzige Kabinett über den Zusammentritt des Reichstags8 hinaus bleiben solle, gegebenenfalls wann es zurücktreten solle.

Reichsminister Graf Kanitz: Er sei dafür, jetzt zu demissionieren und damit dem Reichspräsidenten freie Hand zu geben.

Reichsminister Dr. Geßler: Über das Schlußergebnis bei den politischen und Ehrenfragen müßte man sich klar sein, wenn die Gesetze zur endgültigen Annahme reif seien.

Zur Frage der Demission sei er der Ansicht des Kanzlers, daß man jetzt erst wissen müßte, was die Parteien heute beschlössen. Auch er empfehle daher, daß die Besprechung jetzt unterbrochen würde.

Hierauf wurde die Besprechung vertagt9.

Fußnoten

1

Am 20. 5. hatten sich die Mittelparteien auf eine von der DVP vorgelegte programmatische Erklärung zur Außenpolitik geeinigt, die als Grundlage für Verhandlungen mit der DNVP über die Regierungsbildung dienen sollte. Es heißt darin: „Das Gutachten der Sachverständigen bildet den ernsthaften Versuch einer friedlichen Lösung der Reparationsfrage. Es ist ein einheitliches und unteilbares Ganzes. […] Wir setzen dabei voraus, daß das Gutachten als einheitliches und unteilbares Ganzes auch von den übrigen Nationen anerkannt wird, daß seine Auslegung mit gutem Willen erfolgt und insbesondere dabei nicht nur die Herstellung unserer Souveränität in Wirtschaft, Finanz und Verwaltung, sondern auch die Aufrechterhaltung der neuen dt. Währung im internationalen Zahlungsverkehr gewährleistet ist. Die Lösung der Reparationsfrage durch das Gutachten bedeutet die Wiederherstellung aller vertragsmäßigen Rechte des Dt. Reiches und damit die Freiheit des nicht vertragsmäßig besetzten Gebietes von jeder Besetzung sowie die Wiederherstellung des Rheinlandabkommens für die vertragsmäßig besetzten Gebiete und die Gewährleistung der Rechtssicherheit für deren Bewohner. Wir erwarten von der Reg., daß sie mit Entschiedenheit diese Freiheiten sicherstellt.“ Diese außenpolitischen Richtlinien der Mittelparteien werden nach der Demission des Kabinetts Marx I in der Presse veröffentlicht (vgl. „Die Zeit“ vom 28. 5.; Abdruck in Schultheß 1924, S. 38 f.).

2

Diese Besprechung fand am 21. 5. statt (vgl. DAZ Nr. 239 vom 22. 5.).

3

Gemeint ist die Freilassung der von den Besatzungsmächten während des Ruhrkampfes Inhaftierten, die Rückführung der aus dem besetzten Gebiet Ausgewiesenen, die Wiederherstellung der wirtschaftlichen, finanziellen und administrativen Hoheit Deutschlands in den besetzten Gebieten, schließlich die Räumung der nicht vertragsmäßig besetzten Gebiete (Ruhrgebiet, Sanktionsstädte).

4

S. Anm. 1.

5

Honda.

6

Comte della Faille de Leverghem.

7

Der brit. Botschafter Lord D’Abernon notiert am 25. 5.: „Die Idee, Tirpitz an die Spitze der dt. Reg. zu stellen, konnte nur in einem deutschnationalen Hirn entstehen. […] Wenn die Deutschen eine geschlossene feindliche Front vorfinden wollen, können sie nichts Besseres tun, als Tirpitz mit dem Reichskanzleramt zu betrauen.“ (D’Abernon, Ein Botschafter der Zeitwende. Memoiren, Bd. III, S. 82 f.).

8

Der neugewählte RT tritt am 27. 5. zu seiner ersten Sitzung zusammen.

9

Fortsetzung: Dok. Nr. 207, P. 2.

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