1.5 (mu22p): Nr. 261 Vermerk zur bevorstehenden Kabinettssitzung über die Arbeitslosenversicherung. 7. August 1929

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Nr. 261
Vermerk zur bevorstehenden Kabinettssitzung über die Arbeitslosenversicherung. 7. August 19291

R 43 I /2035 , Bl. 71, hier: Bl. 71

Staatssekretär Dr. Popitz erklärte am 7. August gegen 10 Uhr telefonisch folgendes:

Hertz (SPD) habe ihn aufgesucht und habe davor gewarnt, daß durch Besprechung der Arbeitslosenversicherungs-Frage in der für Freitag [9. 8.] in Aussicht genommenen Kabinettssitzung die Gefahr einer Regierungskrise hervorgerufen würde2. Minister Wissell werde nicht gegen den Willen seiner[847] Partei den Gesetzentwurf einbringen können3. Die Deutsche Volkspartei wäre in der Kabinettssitzung nicht vertreten, das Zentrum wäre in einer schwierigen Lage.

Ohne den Reichswirtschaftsminister und den Reichsfinanzminister würde keine sachliche Entscheidung getroffen werden können. Vielleicht wäre es möglich, daß die Minister im Laufe der nächsten Woche zur Beratung des Entwurfs aus dem Haag nach Berlin zurückkehren könnten.

Minister Hilferding habe ihm noch beim Abschied ans Herz gelegt, er solle dafür sorgen, daß nicht in seiner Abwesenheit eine Regierungskrise entstände. Er bäte, Staatssekretär Pünder sofort von dem Gespräch zu verständigen, mit der Bitte, daß Staatssekretär Pünder mit Minister Hilferding umgehend darüber spreche.

Der Reichspostminister hat mehrfach äußerst dringend bitten lassen, die Sitzung auf Sonnabend zu verschieben.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg wurde von dem Telefongespräch mit Staatssekretär Dr. Popitz unterrichtet. Er hat strikte Weisungen, auf Abstimmung in der vorgesehenen Kabinettssitzung zu bestehen, da die Lage in der Deutschen Volkspartei sonst kritisch würde. Er würde es begrüßen, wenn Minister Schätzel an der Kabinettssitzung teilnehmen würde.

Gegen 12.30 Uhr wurde Herr Staatssekretär Dr. Pünder telefonisch vom Sachstand in Kenntnis gesetzt. Er sagte zu, daß er über das Gespräch des Abgeordneten Hertz mit Staatssekretär Popitz alsbald mit Minister Hilferding eine Besprechung haben werde.

Der Termin für die Kabinettssitzung sei auf Freitag fest vereinbart, nur wenn sich eine neue Lage ergebe, käme eine Verlegung in Frage.

[RWeM und RArbM haben Einverständnis zum Termin der Kabinettssitzung erklärt. Die Einladungen sind ergangen.]4

Fußnoten

1

Der Vermerk ist nicht gezeichnet, stammt aber wahrscheinlich von MinR Feßler.

2

Die Arbeiten der Sachverständigenkommission für ALV hatten im Juli formal gute Fortschritte gemacht, wenn auch in der Rkei ein günstiges Resultat bezweifelt worden war (Vermerk vom 12. 7.; R 43 I /2034 , Bl. 362, hier: Bl. 362). Auf die Beschlüsse der Enquetekommission, die sie am 28./31. 7. vorgelegt hatte, hatte der RArbM seine Gesetzesnovelle aufbauen wollen, ohne die am 1. 8. bekanntgewordenen Gewerkschaftsbeschlüsse zu berücksichtigen (Vermerk Pünders v. 2. 8.; R 43 I /2035 , Bl. 3, hier: Bl. 3). Die Gewerkschaften hatten dagegen protestiert, daß den Berechnungen der Kommission eine Arbeitslosenzahl von 1,1 Millionen zugrunde gelegt worden war. Diese Zahl war nach gewerkschaftlicher Ansicht zu hoch gegriffen und würde nachteilige Auswirkungen auf die Unterstützungssumme haben (Sozialdemokratischer Pressedienst, 1. 8.; R 43 I /2035 , gefunden in R 43 I /2034 , Bl. 407 f., hier: Bl. 407 f.). Die Minister, auch Hilferding und Wissell, seien für die Ansichten der Gewerkschaften nicht zu gewinnen, hatte Pünder am 2. 8. vermerkt (R 43 I /2035 , Bl. 3, hier: Bl. 3). Von Pünder wurde die Novelle zur ALV angesehen als „die wichtigste Angelegenheit innerpolitischer Art, die in der nächsten Zeit in Berlin zu erledigen sein wird“ (ebd.).

3

Der GesEntw. des RArbM wurde am 7. 8. als Kabinettsvorlage eingebracht (R 43 I /2035 , Bl. 75-91, hier: Bl. 75-91). Dazu vermerkte MinR Vogels für die deutsche Delegation im Haag: „Kabinettsvorlage schließt sich abgesehen von drei Punkten dem Gutachten der Sachverständigenkommission an. Die Abweichungen betreffen a) die Höhe der Unterstützungssätze. Die Vorlage übersteigt die Vorschläge des Gutachtens; b) die Höhe der Unterstützung bei berufsüblicher Arbeitslosigkeit. Der Entwurf übersteigt gleichfalls den Vorschlag der Sachverständigen – d. sind die Sätze der Krisenunterstützung –; c) die Höchstdauer der Unterstützung. Auch hier geht der Entwurf über das Gutachten hinaus. – Anlangend die Deckung des Defizits, welches auf 279 Mio berechnet ist, so wird zu diesem Zweck eine Erhöhung der Beiträge um ein weiteres Viertel Prozent vorgeschlagen, so daß also der Beitragssatz 3,75% insgesamt betragen soll. Die Erhöhung um 0,25% soll die Abdeckung eines Betrages von 206 Mio des Defizits ermöglichen“ (R 43 I /2035 , Bl. 103, hier: Bl. 103).

4

Die Besprechung des GesEntw. wurde auf Grund des folgenden Telegramms Pünders verschoben: „Hier anwesende 4 RM haben Frage der Weiterbehandlung der Arbeitslosenversicherungsreform eingehend durchgesprochen. Da sie selber an bevorstehender Kabinettssitzung nicht teilnehmen können, sind sie der Auffassung, daß die Frage in Anwesenheit möglichst aller übrigen RM im Kabinett erörtert werden müßte. Sie halten daher eine Vertagung der Kabinettssitzung um einige Tage für erträglich, da wohl angenommen werden darf, daß zu den Verfassungsfeierlichkeiten [11. 8.] sowieso die meisten übrigen RM nach Berlin zurückkehren werden. Unter allen Umständen müßte aber nach übereinstimmender hiesiger Auffassung sichergestellt werden, daß ein materieller Kabinettsbeschluß noch rechtzeitig vor dem 15. 8. für die Arbeiten des Sozialpolitischen Ausschusses des RT vorliegt. Dies verlangt die seinerzeit erfolgte Zusage der RReg., außerdem könnte andernfalls der RReg. der dann nicht völlig unberechtigte Vorwurf der Führerlosigkeit gemacht werden; dieser materielle Kabinettsbeschluß anhand einer in Paragraphenform vorbereiteten Kabinettsvorlage müßte eventuell im Wege eines Mehrheitsbeschlusses im Kabinett herbeigeführt werden. Die hier anwesenden 4 RM würden einen etwaigen solchen Mehrheitsbeschluß politisch noch für durchaus tragbar halten, da die endgültige Regelung der Reform doch noch in einiger Ferne liegt und die RReg. je nach dem Fortgang der Arbeiten des Sozialpolitischen Ausschusses des RT sicher noch verschiedentlich Gelegenheit haben wird, die letzten damit im Zusammenhang stehenden politischen Fragen eingehend zu erörtern. Namentlich auch aus außen- und reparationspolitischen Gründen besteht hier die völlig übereinstimmende Auffassung, daß eine hochpolitische Zuspitzung der Angelegenheit, ohne im übrigen ihren technischen Fortgang irgendwie zu verzögern, im gegenwärtigen Augenblick unter allen Umständen vermieden werden müßte“ (Telegramm Nr. 21 vom 8. 8.; R 43 I /2035 , Bl. 96 f., hier: Bl. 96 f.). Da Wissell am 8. und 9. 8. erklärt hatte, er werde sich in den entscheidenden Fragen seines GesEntw. nicht überstimmen lassen, wurde von Pünder erklärt, es solle eine Mehrheitsentscheidung ohne Kabinettskrise herbeigeführt werden. „Wenn das nicht möglich sei, so wäre der Vorschlag annehmbar, alle die Punkte im Kabinett materiell zu entscheiden, die irgend zu Vereinbarungen reif sind; die übrigen aber zurückzustellen. Es würde sehr begrüßt werden, wenn die Herren RArbM und RIM sobald wie möglich Gelegenheit nehmen wollten, die Streitpunkte mit den Ministern im Haag zu besprechen“ (Vermerk Feßlers vom 8. [!] 8.; R 43 I /2035 , Bl. 99 f., hier: Bl. 99 f.).

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