1.144 (lut2p): Nr. 313 Der Reichskanzler an den Reichsarbeitsminister. Genf, 9. März 1926

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 5). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 313
Der Reichskanzler an den Reichsarbeitsminister. Genf, 9. März 1926

R 43 I /488 , Bl. 45 f. Durchschrift

[Londoner Arbeitszeitkonferenz und Dawesabkommen]

Sehr verehrter Herr Kollege Dr. Brauns!

Ich habe soeben ein Gespräch mit Albert Thomas1 gehabt, über das ich Ihnen sofort berichten möchte.

Die Berührung mit Herrn Thomas hat sich in folgender Weise entwickelt: Herr Thomas hatte den Kanzler, den Außenminister und den Staatssekretär des Auswärtigen Amts2 zum Frühstück eingeladen, wir waren aber verhindert, die Einladung anzunehmen. Daraufhin hat Herr Thomas mich heute vormittag besucht. Herr Thomas kam sehr schnell darauf zu sprechen, er habe irgendwo eine Meinungsäußerung von Ihnen gelesen, die ihm gute Hoffnungen für[1204] London3 mache. Ich habe erwidert, daß Deutschland, wie er ja wisse, durchaus zu den Grundsätzen des Washingtoner Abkommens stände. Auch ich persönlich hätte das größte Interesse daran, die großen sozialen Fragen in positivem Sinne zu festigen. Insonderheit hätte ich selbstverständlich das größte Interesse, daß Deutschlands Arbeiterschaft in keiner Weise schlechter gestellt sei als die Arbeiterschaft anderer Länder. Daneben bestände aber der ihm ja bekannte Tatbestand, daß wir nur zum endgültigen Ergebnis kommen könnten, wenn die anderen großen Industriemächte mit uns gemeinschaftlich vorgingen, und ferner bestehe für Deutschland die große Schwierigkeit unserer Verpflichtungen zum Dawesplan, die wir unterzeichnet hätten und deren Ausführbarkeit wir deshalb bei aller Vorsorge für die sozialpolitische Lage unseres Volkes doch dauernd fest im Auge behalten müßten. Herr Thomas erwiderte zunächst, daß die große Aufgabe in London ja sei, die verschiedenartige Lage der großen Mächte auf eine gemeinsame Lösung zu bringen. Wenn Deutschland vom Dawesplan spreche, so spreche England von seiner großen Arbeitslosigkeit und Italien von seinem Mangel an Rohstoffen und Maschinen. Ich habe erwidert, daß in Deutschland neben der Vorbelastung durch den Dawesplan in gleicher Weise wie in England eine schwere Arbeitslosigkeit bestände, die bisher nur durch die Inflation und durch andere vorübergehende Umstände versteckt worden sei, im übrigen aber wohl auf Deutschland in gleicher Weise wie in England lasten werde. Daraufhin erwiderte Thomas, daß er gerade in Würdigung meiner Ausführungen in den Londoner Verhandlungen den Ausgangspunkt dafür sehe, daß die Leistungen Deutschlands aus dem Dawesplan herabgesetzt würden. Er brachte diese Gedankengänge mit seiner bekannten Lebhaftigkeit vor und legte ausführlich dar, daß es eben darauf ankäme, im Zeichen wirtschaftlicher und sozialpolitischer Vernunft dafür zu sorgen, daß die Revision des Dawesplans herbeigeführt würde und überhaupt ganz allgemein dafür zu sorgen, daß die wirtschaftliche und sozialpolitische Erholung Europas nicht weiter durch politische Gesichtspunkte gestört würde. Er erzählte in diesem Zusammenhang – einen Vorgang, den ich im einzelnen nicht kenne und nicht nachprüfen kann –, er habe schon einmal, als man von Österreich Forderungen verlangt habe, die mit gesunder Sozialpolitik sich nicht hätten vereinbaren lassen, sich quer davorgestellt und unter dem sozialpolitischen Gesichtspunkt eine Beseitigung oder Herabminderung dieser Forderungen erzielt. Ich habe gegenüber Herrn Thomas mit allem Nachdruck daran festgehalten, daß, so sehr ich in den sozialpolitischen Grundlinien mit ihm einig sei und so sehr ich alles Interesse daran hätte, der deutschen arbeitenden Bevölkerung gesunde Lebensbedingungen zu verschaffen, ich doch keinen Augenblick vergessen könnte, daß Deutschland das Dawesabkommen bereits unterschrieben habe, das Washingtoner Abkommen bisher aber nicht4. Deutschland werde innerhalb[1205] seiner Kräfte alles tun, um das Dawesabkommen auszuführen. Ob sich für diese deutschen Kräfte Grenzen herausstellten, wüßte ich zur Zeit nicht und wüßte jedenfalls nicht, wo die Grenzen lägen. Keinesfalls könnte ich meinerseits dazu beitragen, daß diese Grenzen verengert würden. Ich habe das Gespräch, wenn ich mich so ausdrücken darf, ohne jedes Augenzwinkern geführt und dabei die Beobachtung gemacht, daß auf jeden Einspruch meinerseits sich die Energie, mit der Thomas gegen den Dawesplan focht, nur immer stärker entflammte. Die ganze Unterhaltung bewegte sich also völlig in der Linie, in der wir kürzlich im Kabinett uns über die Taktik für London verständigt haben5. Ich halte es, obwohl ich mit der allgemeinen Betriebsamkeit des Herrn Thomas durchaus rechne, für immerhin bemerkenswert, daß Herr Thomas die Verbindung mit mir hier so stark gesucht hat und mache besonders darauf aufmerksam, daß Thomas von sich aus das ganze Gespräch auch in seinen Einzelheiten in Bewegung gebracht hat. Herr Kollege Stresemann hält mit mir das Gespräch für recht wichtig. Wir beide wünschen, sehr verehrter Herr Kollege, recht guten Erfolg für Ihre Londoner Verhandlungen, die vielleicht für das Gesamtschicksal Deutschlands noch weit bedeutungsvoller sind, als es das an sich ja schon hinreichend wichtige Programm aufweist.

Mit verbindlichen Grüßen

Ihr

stets ergebener

gez. Dr. Luther

Fußnoten

1

Direktor des Internationalen Arbeitsamts in Genf.

2

v. Schubert.

3

Gemeint ist die am 15. 3. beginnende Londoner Konferenz über die Durchführung des Washingtoner Abkommens von 1919, an der RArbM Brauns teilnehmen wird. Zu den vom Kabinett am 6. 3. gebilligten Richtlinien für die dt. Delegation s. Anm. 4 zu Dok. Nr. 311.

4

Das Washingtoner Abkommen sollte gemäß seinen Artikeln 17 und 18 in Kraft treten, sobald die Ratifikation durch zwei Mitgliedstaaten des Völkerbundes vorgenommen und dem Sekretariat und den übrigen Mitgliedstaaten bekanntgegeben sein würde. Diese Voraussetzung war nach der Ratifizierung durch Griechenland (1920) und Rumänien (1921) zwar schnell erfüllt, doch wurde in der Folgezeit die Neigung zu bedingungsloser Ratifizierung durch die internationale Wirtschaftskrise 1921/22 und durch das Bestreben Großbritanniens, eine Revision des Abkommens herbeizuführen, stark gebremst. Immer häufiger – so u. a. durch Österreich (1924), Italien (1924) und Frankreich (1927) – wurde unter dem Vorbehalt ratifiziert, daß die Bindung erst eintreten solle, wenn auch Dtld. und Großbritannien ratifiziert haben würden. Näheres über diese Entwicklung in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Ergänzungsband, S. 575 ff.; dort auch das Washingtoner Abkommen in ausführlichen Textauszügen. – Vgl. auch Anm. 17 zu Dok. Nr. 326.

5

Hierbei handelt es sich vermutlich um die Kabinettssitzung vom 3. 3. (Dok. Nr. 305). Im betreffenden Protokollteil (P. 11: Internationale Arbeitszeitkonferenz in London) sind jedoch Hinweise auf diesbez. Erörterungen nicht enthalten.

Extras (Fußzeile):