Text
Nr. 39
Der Vorsitzende des Rheinischen Handwerkerbundes Esser an den Reichskanzler. 30. Dezember 19321
[Stellung zur Regierung von Schleicher.]
Sehr verehrter Herr Reichskanzler!
In ernster Sorge um die Erhaltung der Staatsgesinnung bei meinen Standesgenossen, den deutschen Handwerkern, halte ich es für meine Pflicht, Sie auf die wachsende Mißstimmung gegenüber der Reichsregierung in weitesten Kreisen des Handwerks hinzuweisen. Die Tatsache, daß Sie mit Vertretern der Industrie, der Landwirtschaft und der Gewerkschaften in eingehende persönliche Aussprachen eingetreten sind, dagegen das Handwerk nicht zu solchen Besprechungen herangezogen haben, wird im Zusammenhang damit, daß in[169] Ihrer Rundfunkrede das Handwerk nicht erwähnt wurde, als Beweis mangelnder Beachtung und Wertschätzung des Handwerkerstandes gedeutet2.
Solche Erwägungen wirken geradezu verheerend in Zeiten stärkster wirtschaftlicher Not. Ich habe mich in zahlreichen Fällen persönlich davon überzeugt, daß die Lage der großen Mehrheit der Handwerksbetriebe eine gradezu verzweifelte ist. Umso leichter fallen die schwer geprüften Meister, die eigentlich tradionsmäßig zu den zuverlässigsten Elementen im Bürgertum gehören, der politischen Radikalisierung zum Opfer. Ihre bis zur Erregung gesteigerte Unzufriedenheit richtet sich in erster Linie gegen die Regierung, in zweiter gegen ihre Führer, die leitenden Persönlichkeiten der Spitzenorganisationen. Diese Männer, die seit Jahr und Tag einen zähen Kampf gegen radikale politische Einflüsse im Handwerk geführt haben, sind in ihrer Position durch die Nichtbeachtung, die das Handwerk bisher von der jetzigen Reichsregierung gefunden hat, ernstlich gefährdet.
Ich sehe die Lage als sehr ernst an und wende mich deshalb an Sie, sehr verehrter Herr Reichskanzler, mit der dringenden Bitte, einer Vertretung des Reichsverbandes des deutschen Handwerks und des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages baldigst, möglichst noch in der kommenden Woche, Gelegenheit zu geben, Ihnen im Beisein des Herrn Reichswirtschaftsministers und des Herrn Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung die Wünsche des Handwerks vorzutragen.
Diese Unterredung hat eine große politische Bedeutung und wird ihre Wirkung im deutschen Handwerk nicht verfehlen. Es kann Ihnen, Herr Reichskanzler, nicht gleichgültig sein, ob ein ganzer Stand, der ein wertvolles Glied der deutschen Volkswirtschaft und des deutschen Kulturlebens darstellt, Ihnen mit dem Gefühle des zu Unrecht Nichtbeachteten oder mit der Überzeugung des Vertrauens gegenübersteht.
Da Gefahr im Verzuge ist, bitte ich um eine rasche Entscheidung, die Sie hierhin richten wollen3. [Es folgen Vorschläge zur Terminabsprache.]
Zum Jahreswechsel spreche ich meine aufrichtigen Glückwünsche aus und zeichne
mit hochachtungsvollem Gruße
als Ihr sehr ergebener
Thomas Esser.
Fußnoten
- 1
Esser, zugleich Zentrumsabg. im RT, war am 6. 12. erneut zum RTVizePräs. gewählt worden.
- 2
Der Reichsverband des Dt. Handwerks hatte, bevor v. Schleicher am 15. 12. seine Regierungserklärung im Rundfunk abgab (Dok. Nr. 25), an den RK appelliert: „Wir bitten dringend, bei dieser Gelegenheit ausgiebig Bezug zu nehmen auf die Stellungnahme des derzeitigen Reichskabinetts zu den vordringlichen Fragen der Handwerkswirtschaft. Wir haben Ihren Herren Amtsvorgängern, sehr verehrter Herr Reichskanzler, wiederholt im schriftlichen und mündlichen Vortrag die ungeheure Notlage des Handwerks schildern müssen und haben sowohl der Reichskanzlei wie den zuständigen Fachministerien eingehend begründete Vorschläge zur Abhilfe der dringenden Notlage im Handwerk vorgelegt. Bisher ist bei den Notverordnungen zur Regelung des wirtschaftlichen Lebens keine Rücksicht hierauf genommen worden.“ (Schr. vom 12.12.1932, R 43 I/2016, Bl. 272–278). Die gleichzeitig vorgetragene Bitte, die Verbandsforderungen dem RK mündlich darlegen zu dürfen, war von StS Planck erst am 27. 12. vorläufig abschlägig beschieden worden (ebd., Bl. 279).