2.207 (bru1p): Nr. 207 Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit US-Botschafter Sackett am 19. Dezember 1930

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Nr. 207
Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit US-Botschafter Sackett am 19. Dezember 1930

R 43 I /310 , Bl. 148–152 Abschrift

Die am 19. Dezember stattgefundene 5/4stündige Unterhaltung geht zurück auf einen Wunsch des Herrn amerikanischen Botschafters, mit mir einmal freundschaftlich von Mensch zu Mensch über die gesamtpolitische Situation in Deutschland und Europa zu sprechen, den er mir gegenüber gelegentlich eines Zusammentreffens mit Governor Harrison beim Herrn Reichsbankpräsidenten Dr. Luther1 äußerte:

Nach einigen Fragen über die innere Politik lenkte der Botschafter über zu einer Diskussion über die Stabilität der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Ich machte die Prognose abhängig von der Entwicklung Gesamteuropas. Eine Stabilität der deutschen politischen Verhältnisse sei, angesichts des im Grunde restlos friedfertigen und zufriedenen Charakters des deutschen Volkes, durchaus sicherzustellen unter jeder Regierung, sofern nicht eine durch die internationale Entwicklung bedingte völlige Hoffnungslosigkeit Platz greife und nicht im Zuge der gesamten wirtschaftlichen Schwierigkeiten revolutionäre Strömungen in Europa überhaupt aufkämen. Der Botschafter[756] ging sofort auf die Tendenzen der russischen Politik über, die ihm anscheinend schwere Sorgen machten. Ich erklärte, daß für uns diplomatisch kein Zusammenhang festzustellen sei zwischen Bestrebungen der russischen Regierung und der kommunistischen Bewegung in Deutschland, daß ich jedoch die Entwicklung als letzten Endes gefährlich ansehe, wenn die Komplikation, die sich aus der Weltwirtschaftskrise im Zusammenhang mit der Reparationsfrage und der weiteren Aufrüstung fast aller Nachbarländer ergibt, immer weiter fortschreite. Es müsse dann der Zeitpunkt kommen, in dem die Politik Europas und die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse der ganzen Welt sich in eine Sackgasse verrannt haben, aus der man einen Ausweg, zum mindesten jetzt, nicht erkennen könne. Als der Botschafter darüber sprach, daß jeder Versuch, von amerikanischer Seite einzugreifen, deswegen so außerordentlich schwierig sei, weil nach den Wahlen2 der Präsident Hoover zwar sein Vetorecht ausüben könnte, aber für konstruktive Gedanken kaum eine Mehrheit finden würde, wies ich wiederholt darauf hin, daß ich mir bei der Veranlagung des amerikanischen Volkes gut vorstellen könne, daß – was auch bei uns der Fall sein würde –, wenn man mit einer großen Idee der wirtschaftlichen und politischen Pazifizierung der Welt an die Öffentlichkeit trete, man überall eine indirekte Bekämpfung umstürzlerischer Gedanken erreichen könnte. Der Botschafter fragte mich, ob ich daran denke, daß Präsident Hoover eine internationale Wirtschaftskonferenz zusammenberufen solle3. Ich ging auf diesen Gedanken ein, suchte jedoch im Laufe einer längeren Aussprache nachzuweisen, daß, wenn diese Wirtschaftskonferenz sich nur auf rein wirtschaftliche Fragen bezöge und nur von wirtschaftlichen Sachverständigen besucht sei, aller Wahrscheinlichkeit nach ein unbefriedigender Ausgang erwartet werden müßte. Der Fehler aller bisherigen Versuche sei der gewesen, daß man die drei großen im engsten Zusammenhang stehenden Fragen der Abrüstung, der Reparationen und Schuldentilgung und der internationalen Wirtschaftsförderung jeweils getrennt betrachtet hätte4, und zwar namentlich unter der Führung von Sachverständigen, deren Blickfeld eng auf Spezialfragen begrenzt sei. Aus diesem System müsse man herauskommen, zumal eine restlose Verständigung mit Frankreich für mich zwar das entscheidende Ziel für[757] eine Befriedigung der gesamten Weltpolitik sei, ich aber die Befürchtung habe, daß dieses Ziel durch unmittelbare Verhandlungen mit Frankreich aus innerpolitischen französischen Rücksichten heraus in der notwendigen Schnelle der Zeit nicht erreicht werden könnte. Dieses gab der Botschafter zu. Er äußerte aber seine Befürchtung, daß eine Sachverständigen-Konferenz bei der gemeinsamen Beratung der verschiedenen Komplexe zu keinem Ziele führen würde. Antwort: Ich sehe dieses Bedenken. Ich hätte über Möglichkeiten der Behandlung noch nicht eingehend nachdenken können, hielte es aber für möglich, daß, wenn Präsident Hoover bezw. die amerikanische Regierung nicht nur die Initiative ergreife, sondern die Leitung auch fest in der Hand behalte, man doch zu Ergebnissen kommen könnte.

Der Botschafter erhob einen zweiten Einwand dahingehend, daß man in Europa folgendes durchweg übersehe: Die Schuldenabkommen mit den einzelnen früheren Alliierten der Vereinigten Staaten seien auf der Basis getroffen worden, daß die früheren Alliierten der Vereinigten Staaten nur den Betrag an Schulden zu bezahlen hätten, den sie auch ohne Leistung deutscher Reparationen auf Grund ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Lage zu zahlen imstande seien. Das sei in den Verhandlungen mit jedem einzelnen Lande sehr sorgfältig geprüft worden. In Wirklichkeit sei nun aber herausgekommen, daß die Vereinigten Staaten, wenn man etwa annehme, daß die früheren Alliierten einen Schuldennachlaß bis auf die Hälfte bekommen hätten, gezwungen gewesen wären, die Verzinsung der anderen Hälfte der Schulden bei den privaten Gläubigern in den Vereinigten Staaten zu übernehmen. Die andere Hälfte sei ein Geschenk an die betr. Länder gewesen, die nun zuzüglich noch deutsche Reparationen erhielten. Ich fügte ein, daß damit die finanzielle Erklärung für die ungeheuren Aufrüstungsmöglichkeiten dieser Länder gegeben sei. Der Botschafter stimmte dieser Auffassung durchaus zu, erklärte aber, hier sei die entscheidende Schwierigkeit, vor der jede amerikanische Regierung stehe. Die Dinge seien nun einmal in dem vorstehend erwähnten Sinne falsch gelaufen.

Ich legte dem Botschafter die Dringlichkeit der Inangriffnahme des gesamten Problems nahe, die nicht nur der Veranlagung des amerikanischen Volkes sehr stark zusage, sondern gleichzeitig die Völker Europas aus einer gewissen dumpfen Verzweiflung herausreiße. Es müsse ein heller Hoffnungsstrahl kommen, so wie in früheren Zeiten seelischer Depressionen durch internationale Vereinbarungen der Mut zu neuen Investierungen den Völkern wiedergeben worden sei.

Der Botschafter versprach, sofort einen Privatbrief an den amerikanischen Präsidenten Hoover zu schreiben und sich nach der beiderseitigen Rückkehr nach Berlin nach Neujahr weiter über diese Gedanken mit mir zu unterhalten5. Auf die Kreditfrage eingehend, glaubte er, daß, wenn man wünsche, daß von den Kapitalisten der Vereinigten Staaten neue Gelder in Deutschland investiert werden sollten, es möglich sei, eine große Konsolidierungsanleihe des Reiches dort aufzunehmen mit dem Ziele, in diese Konsolidierungsanleihe kurzfristige[758] Beträge, namentlich solche, die den Kredit Deutschlands außerordentlich gedrückt hätten, einzubringen. Ich versprach ihm, diesen Gedanken mit den zuständigen Herren durchzusprechen. Einen Kredit anderer Art schien der Botschafter selbst in diesem Stadium nicht für sehr wahrscheinlich zu halten6.

gez. Dr. Brüning

Fußnoten

1

S. Dok. Nr. 183, Anm. 19.

2

Nach den Kongreßwahlen am 4.11.30 hatten die regierenden Republikaner im Senat 48 Sitze und die Demokraten 47 Sitze, im Repräsentantenhaus standen 218 Republikanern 216 Demokraten gegenüber (Schultheß 1930, S. 387).

3

Botschafter v. Hoesch berichtete am 20. 12. aus Paris, daß der Gedanke einer internationalen Wirtschaftskonferenz auf den engl. Botschafter in Paris, Lord Tyrrell, zurückgehe. „Auch mir hat nämlich Lord Tyrrell, als ich ihm unlängst einen längeren Besuch abstattete, im Laufe einer allgemeinen politischen Unterhaltung Gedanken vorgetragen, man sollte Hoover dazu bringen, eine allgemeine Wirtschaftskonferenz […] nach Washington einzuberufen […]. An Konferenz sollten nur die Regierungschefs teilnehmen, damit Vertreterzahl einigermaßen beschränkt leibe. Tyrrell hinzufügte, er wisse natürlich nicht, ob Hoover zu solcher Aktion bereit sein würde. Auch sei ihm unbekannt, wie Englische Regierung sich zu solchem Plan stellen würde. Er äußerte aber Absicht, London demnächst mit entsprechender Anregung zu befassen, wobei er immer wieder betonte, daß ohne Amerika alle Versuche einer Besserung der Weltlage aussichtslos sein würden“ (Telegramm Nr. 1161 vom 20.12.30 in R 43 I /310 , Bl. 124–125).

4

Zum Gedanken einer gemeinsamen Wirtschafts- und Abrüstungskonferenz vgl. Dok. Nr. 198.

5

S. Dok. Nr. 217.

6

Zu dieser Unterredung s. auch Brüning, Memoiren, S. 222–224.

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