2.196 (cun1p): Nr. 196 Rundschreiben des Reichskanzlers an die Landesregierungen. 18. Juni 1923

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Das Kabinett Cuno Wilhelm Cuno Bild 183-1982-0092-007Französischer Posten Bild 183-R43432Posten an der Grenze des besetzten Gebietes Bild 102-09903Käuferschlange vor Lebensmittelgeschäft Bild 146-1971-109-42

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Nr. 196
Rundschreiben des Reichskanzlers an die Landesregierungen. 18. Juni 1923

R 43 I /1493 , Bl. 284-286 Entwurf1

Betr.: Die politische Lage.

Die Reichsregierung hat mit dem am 7. Juni übergebenen Memorandum2 einen außenpolitischen Schritt von großer Bedeutung getan. Wie ich im Ausschuß des Reichsrats darlegte, war die Reichsregierung hierbei nach sorgfältigster Erforschung der außenpolitischen Lage von dem Bestreben geleitet, so rasch als möglich zu Verhandlungen zu kommen und damit die immer schwerer werdenden Leiden der Bevölkerung des besetzten Gebiets, aber auch die Unsicherheit,[587] Verworrenheit und die sozialen Nöte des Wirtschaftslebens im nichtbesetzten Gebiet auf die kürzestmögliche Dauer zurückzuführen3. Ob dieser sorgfältig vorbereitete Schritt Erfolg haben wird, steht nicht bei der Reichsregierung, so sehr diese auch weiterhin alle Möglichkeiten wahrnahm und weiter wahrnehmen wird, auf eine günstige Gestaltung hinzuwirken. Jedenfalls ist die außenpolitische Lage nach den der Regierung zukommenden Nachrichten durchaus nicht hoffnungslos4. Ein Zeitpunkt aber, bis zu dem eine Lösung der Schwierigkeiten zu erwarten wäre, kann von der Reichsregierung nicht genannt werden. Es ergibt sich daraus die Notwendigkeit, in dem außenpolitischen Kampfe noch weiter mit Ruhe und Besonnenheit auszuharren; sein vorzeitiger Abbruch würde die mühsam gewonnenen Aussichten vernichten, gewisse augenblickliche Notstände vielleicht abkürzen, das Gesamtschicksal aber des besetzten Gebietes wie des Reiches im Ganzen preisgeben.

Ich habe es daher mit besonderer Genugtuung begrüßt, daß mir bei den zahlreichen Besprechungen, die ich vor wenigen Tagen mit Vertretern aller Berufsschichten der Einbruchsgebiete wie der altbesetzten Gebiete hatte, überall der feste Wille entgegentrat, im passiven Widerstand, so wie er vom Volke ausgegangen ist und bisher geführt wurde, weiter auszuharren5. Die Reichsregierung weiß, daß die Lasten und Leiden der Bevölkerung im besetzten Gebiet immer schwerer werden. Zur Abhilfe tut sie, was in ihren Kräften steht. Insbesondere ist sie bemüht, daß den Ausgewiesenen auf die rascheste Weise ausgiebiger Ersatz für Vermögensschäden gegeben wird. Die Wohnungsbeschaffung für sie steht unter besonderer Fürsorge der Reichsregierung; doch kann ich nicht verschweigen, daß hierfür von den staatlichen und gemeindlichen Behörden noch erheblich mehr an Entgegenkommen, insbesondere an Raschheit der Erledigung unbedingt gezeigt werden muß, und ich bitte die Landesregierungen, sich dafür mit aller Kraft und gebotenen Rücksichtslosigkeit einzusetzen.

In wirtschaftlicher Beziehung verkennt die Reichsregierung nicht die schweren Erschütterungen, die der neuerliche tiefe Sturz der Mark mit sich[588] brachte6. Sie ist bemüht, dagegen zu tun, was möglich ist; rettende Allheilmittel hiergegen aber gibt es nicht. Der Erfolg neu eingeleiteter Maßnahmen auf währungspolitischem Gebiet ist mit Sicherheit nicht zu übersehen. Um so wichtiger ist es, auf anderen Gebieten Folgeerscheinungen des Währungsverfalls nach Möglichkeit auszugleichen. Auf dem Gebiet des Lohn- und Gehaltswesens wird die Reichsregierung dafür sorgen, daß der Entwertung der Mark rascher und zuverlässiger als bisher in den Bezügen gefolgt wird, soweit das Reich selbst Arbeitgeber oder auf dem Wege des Schlichtungswesens einzuwirken in der Lage ist. Das gleiche geschieht für soziale Bezüge ähnlicher Art. Auf dem Gebiet des Steuerwesens wird die Reichsregierung durch gesetzgeberische Maßnahmen dafür sorgen, daß die gegenüber den Gehalts- und Lohnsteuerpflichtigen darin liegende Begünstigung anderer Steuerpflichtiger, wie sie gegen den Willen des Gesetzgebers durch die Entrichtung der Steuern in verschlechterter Währung sich ergibt, ausgeglichen wird. Auf dem Wege der indirekten Besteuerung wird versucht werden, den Luxusgenuß stärker als bisher einzudämmen. Die Bekämpfung von übermäßigem Luxus ist aber auch um ihrer selbst willen eine wichtige Aufgabe. Die breitesten Kreise der Bevölkerung empfinden es als Ärgernis, wenn in der Zeit einer allgemeinen Verarmung unserer Wirtschaft und unseres Volkes übermäßiger Aufwand getrieben und zur Schau getragen wird7. Zwar sind diese Erscheinungen nicht etwa zufällige[589] Begleiterscheinungen des Verfalls unserer Wirtschaft, sondern natürliche Folgewirkungen des Währungsverfalls, der mangels entsprechender wertbeständiger Anlagemöglichkeiten dazu anreizt, Einkommen alsbald nach Deckung des notwendigen Bedarfs in Luxusgüter oder Luxusgenüsse umzusetzen. Aber wenn schon die Ursachen dieser Erscheinungen nicht mit einem Male beseitigt werden können, so darf deshalb doch nicht darauf verzichtet werden, die sichtbaren Auswüchse nach Möglichkeit zu beschneiden. Das Rundschreiben, das ich am 16. Januar 1923 – Rk. 590 – an die Landesregierungen hierüber gerichtet habe8, hat keine starken sichtbaren Erfolge gezeitigt9. Die Landesregierungen, denen im besonderen die ausführende Gewalt zusteht, muß ich daher auf das dringendste erneut ersuchen, mit schärferen Maßnahmen als bisher <gegen Wucher und Spekulation, Luxus und Genußsucht> vorzugehen10. Das Rundschreiben enthält Fingerzeige hierfür, bei deren Beachtung ein gewisser Erfolg meines Erachtens dann nicht ausbleiben wird, wenn die Durchführung in allen behördlichen Instanzen wirklich als eine dringende politische und soziale Aufgabe empfunden wird. Geschieht das nicht, so trifft die Verantwortung für unterdrückbare, aber nicht unterdrückte Mißstände nicht die Reichsregierung.

Ich muß um kräftiges Vorgehen in dieser Richtung um so mehr ersuchen, als Mißerscheinungen solcher Art die ernste, schwere Gefahr von Störungen der öffentlichen Ordnung verstärken. Die gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Nöte unseres Volkes bieten für solche Gefahren einen geeigneten Nährboden. Auf ihm gedeiht manche da und dort sich breitmachende politische Verhetzung. Dieser gegenüber die tieferen Zusammenhänge unserer Wirtschaftsnot aufzuzeigen und die Sinnlosigkeit jeglicher Störung der öffentlichen Ordnung darzutun, ist eine wichtige Aufgabe aller Landesregierungen, Behörden, politischen und wirtschaftlichen Vereinigungen. Insbesondere im Hinblick auf die außenpolitische Lage muß diese Gefahr auf das eindringlichste beschworen werden. Denn alle Opfer der Bevölkerung an Ruhr und Rhein wären vergeblich, alles Bemühen um eine günstige Gestaltung der außenpolitischen Lage zwecklos, wenn Unruhen, seien es auch zunächst nur solche örtlicher Art, die Gefahr bringen und zum mindesten den Anschein erwecken würden, daß aus dem deutschen Volke selbst der Zusammenbruch seines Staates komme. Es ist daher auch ein dringendes Gebot, bei wirtschaftlichen Auseinandersetzungen auf Mäßigung hinzuwirken; da aber, wo Gefährdungen der öffentlichen Ordnung sich kundtun, ist es Pflicht der Landesregierungen, mit aller Schärfe hiergegen vorzugehen. Die Sicherheit des Reichs ist zunächst in die Hand der Länder gegeben. Das erfordert, daß überall mit gleichmäßiger Strenge staatsfeindlichen Bestrebungen entgegengetreten wird, auf welcher Seite sie sich auch zeigen. Bestrebungen und Vereinigungen, die die gewaltsame Änderung des Staates und seiner Verfassung vorbereiten und für sie werben, muß deshalb im gesamten Reichsgebiet mit allem Nachdruck entgegengewirkt werden,[590] gleichviel ob es sich um Umsturz in monarchistischer Richtung handelt oder um revolutionäre Umgestaltung des Staates nach der Richtung des Kommunismus oder einer ausschließlichen Klassenherrschaft hin. Insbesondere muß dafür gesorgt werden, daß Eingriffe in die Staatsgewalt unterbleiben <und die zur Sicherung des Staates, der Ordnung und Sicherheit notwendigen Maßnahmen ausschließlich von den dafür verantwortlichen Stellen getroffen werden>11.

Bei dem außerordentlichen Ernst der Zeit darf ich mich deshalb an alle Landesregierungen mit der dringenden Bitte und Aufforderung wenden, diesen Sorgen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und immer zu beachten, daß es sich bei Ausübung der Polizeihoheit letzten Endes auch um eine dem Reiche gegenüber obliegende Pflicht der Landesregierungen handelt, über deren Grundlinien im Einvernehmen mit der Reichsregierung zu bleiben, gerade in dieser Zeit eine unbedingte staatspolitische Notwendigkeit ist.

C[uno]

Fußnoten

1

Der Entwurf stammt von StS Hamm und wurde von ihm und dem RK mit einigen handschriftlichen Verbesserungen versehen. Abschriften ergehen an die RR-Bevollmächtigten der Länder sowie an den RAM, RIM, RFM, RWiM und RArbM. In R 43 I /38 , Bl. 71-73 und 213, R 43 I /213 , Bl. 273-275 finden sich Abschriften des Schreibens.

2

Abgedruckt in Ursachen und Folgen Bd. V, S. 145 f.

3

S. Dok. Nr. 173.

4

Während das dt. Memorandum in Paris die erwartete kühle Aufnahme fand, reagierte die engl. Öffentlichkeit relativ freundlich. So berichtete Sthamer am 8. 6. aus London u. a.: „Die günstige Aufnahme der Note in Presse läßt zu, daß in öffentlicher Meinung in letzten Tagen sich wesentlicher Umschwung vollzogen hat, der wohl, wie Times deutlich ausdrückt, auf die Erkenntnis des Ernstes der deutschen Zukunft im Falle einer abermaligen Ablehnung zurückgeht. Aufrichtigkeit des Angebots wird im schroffen Gegensatz zu früher nirgends angezweifelt. Gelobt wird kurzweg prägnante Formulierung und Fortlassung aller Kontroversen. Auch der Wunsch zu einer allgemeinen Konferenz, der sonst immer auf Schwierigkeiten stieß, wird in der überwiegenden Presse glatt angenommen. Als rein wirtschaftlicher Lösungsversuch hat Note durchweg Eindruck gemacht und wird als genügende Verhandlungsbasis anerkannt. Anderes, ob Note den politischen Forderungen des Augenblicks genügen wird, und es zeigt sich allerseits Befürchtung, daß Frankreich die Brüsseler Forderung der vorherigen Einstellung passiver Resistenz benutzen werde, Erörterung Note zu sabotieren. [Diese Forderung wurde auf der Brüsseler Zusammenkunft zwischen Poincaré, Theunis und Jaspar am 6. 6. bekräftigt.] Die daraus sich ergebende Frage, ob England sich dieser Forderung anschließen werde, wird von überwiegender Presse als unmöglich bezeichnet, weil darin Anerkennung und Ruhraktion liege, die von Bonar Law im Januar in aller Deutlichkeit abgelehnt wurde.“ (R 43 I /38 , Bl. 25 f.). Weitere Botschafterberichte im AA Büro RM 5, Reparationen Bd. 13.

5

Der RK hatte vom 9.–12. 6. eine Reise unternommen, die ihn nach Westfalen, Hessen und Baden führte.

6

Der Dollarkurs der Mark verschlechterte sich vom 17. zum 18. 6. von 122 000 auf 148 000, um sich nach dem 20. 6. wieder vorübergehend zu festigen.

7

Am 7. 6. hatte Brauns an StS Hamm geschrieben: „Aus den Kreisen der Gewerkschaften geht mir der Hinweis zu, daß innen- wie außenpolitisch der noch immer andauernde Luxus einzelner Kreise des unbesetzten Gebiets, das Auftreten dieser Elemente in der Öffentlichkeit, die große Zahl neuer Kraftwagen im Straßenbilde, die Veranstaltung von Festlichkeiten, die übergroße Zahl von Gaststätten kostspieligster Art usw. den denkbar schlechtesten Eindruck mache. Innenpolitisch werde bei der außerordentlich steigenden Teuerung und der wachsenden Not der breiten Massen eine große Erbitterung durch die bezeichneten Erscheinungen wachgerufen, die außerdem von den Agitatoren der äußersten Linken als willkommenes Werbemittel benutzt würden. Es sei auch für die mäßigende und erziehende Tätigkeit der gewerkschaftlichen Verbände ein unerträgliches Hemmnis, wenn die Arbeiterschaft immer wieder sehe, wie andere Kreise sich zügellos jeden Genuß verschafften und dem Ernst der Zeit Hohn sprächen. Sodann aber werde es auch immer schwerer, die Vertreter ausländischer Verbände und Zeitungen von der Not des deutschen Volkes zu überzeugen, die sich mehr im Hintergrund hält und unter der Decke äußerer Ordnung entwickelt, während an der Oberfläche das wüste Treiben einer Minderheit den Anschein leichtfertigen Wohllebens, damit aber auch mangelnden guten Willens in der Reparationsfrage erwecke.“ (R 43 I /1199 , Bl. 274). Zur Bekämpfung der Mißstände schloß Brauns einige konkrete Vorschläge an, die von der Rkei aufgegriffen wurden. Mit Schreiben vom 14. 6. machte StS Hamm die beteiligten Minister mit den Vorstellungen Brauns vertraut und versicherte: „Der Herr RK legt dem Gedankengange des Herrn RArbM außen- wie innenpolitisch große Bedeutung bei.“ (R 43 I /1199 , Bl. 279-281). Zu der angeregten Kabinettsbesprechung dieser Fragen kommt es jedoch nicht. Am 28. 7. schreibt StS Hamm an die Landesregierungen von Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden: „Die wirtschaftliche Not dieser Zeit wird seelisch verschärft durch zahlreiche Bilder ärgerlichen Wohllebens und Genusses. Während es vielerorts an den notwendigen Wohnungen fehlt und auch Ruhrflüchtlinge in vereinzelten Fällen nur mit äußerster Mühe Unterkunft finden können, sind die Badeorte mit zum großen Teil ausländischen oder neureichen Besuchern überfüllt, ist ihre Lebensmittelversorgung zum großen Teile besser als sonstwo, wird Luxus in gewissen Gaststätten unverändert weiter getrieben, hat das Vergnügungsleben zum größten Teil seine oft widerliche Gestaltung beibehalten. Schwarze Börsen bestehen weiter und erzielen offenbar starke Umsätze. Der Herr RK würde es dankbar begrüßen, wenn es gelänge, diesen Mißständen gegenüber sichtbare Erfolge des staatlichen Willens aufzuzeigen und sie mit aller Kraft zu unterdrücken.“ (R 43 I /1199 , Bl. 291 und 1208). In ähnlicher Weise macht der RIM die Landesregierungen mit Rundschreiben vom 30. 7. auf Übelstände in den Badeorten aufmerksam (R 43 I /1199 , Bl. 292).

8

Abgedruckt als Dok. Nr. 46.

9

In einem Vermerk v. Stockhausens für den RK vom 13. 4. sind die Maßnahmen der einzelnen Länder zusammengestellt (R 43 I /1199 , Bl. 270 f.).

10

Von Cuno handschriftlich ergänzt.

11

So aufgrund einer handschriftlichen Verbesserung Hamms; ursprünglich: „und die Schutzaufgabe des Staates von diesem unter Fernhaltung einseitig zusammengesetzter sonderpolitischen Zwecken dienenden Organisationen erfüllt wird. Solchen Vereinigungen mit Nachdruck entgegenzutreten, wie es in Preußen gegenüber den proletarischen Hundertschaften geschah, bleibt eine Aufgabe der Landesregierungen.“

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