1.57.1 (lut2p): [All. Räumungsnote vom 16. 11., Art. 16 der Völkerbundssatzung, deutsch-sowjetische Beziehungen, parlamentarische Behandlung des Locarno-Pakts]

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[All. Räumungsnote vom 16. 11., Art. 16 der Völkerbundssatzung, deutsch-sowjetische Beziehungen, parlamentarische Behandlung des Locarno-Pakts]

Der Herr Reichspräsident eröffnet die Sitzung um 10.15 Uhr und bittet den Herrn Reichskanzler, über die im Laufe der Nacht eingegangenen Noten zu berichten.

[869] Der Reichskanzler berichtet über die Räumungsnote sowie das Protokoll betr. Regelung der Entwaffnungsfrage1. Er sieht beide Noten im allgemeinen als befriedigend an. Bei der Formulierung des Entwaffnungsprotokolls sind einige Verschiedenheiten zwischen dem deutschen und dem französischen Text festzustellen, die aber keine sachliche Verschiedenheit der Auffassung bedeuten. Bei der Polizeifrage ist ein Punkt noch nicht ganz klar: die verhältnismäßige Regelung der verschiedenen Polizeikräfte ist nur für Preußen getroffen, sie soll für die übrigen Länder entsprechende Anwendung finden; eine ausdrückliche Ausnahme ist nur für die drei Hansestädte wegen ihrer besonderen Verhältnisse gemacht worden. Wie das im einzelnen sich weiter auswirken wird und ob hier noch ergänzende Verhandlungen notwendig sein werden, läßt sich noch nicht übersehen. Selbst wenn aber sich hier neue Erörterungen als notwendig herausstellen, so ist doch klar, daß jeder Zusammenhang zwischen der Entwaffnungsnote und der Räumung jetzt aufgegeben worden ist. Unsere These, daß die Räumung mit der Entwaffnung nicht verbunden werden soll2, ist damit anerkannt. Es ist jetzt auch ein fester Räumungsendtermin festgelegt, allerdings ziemlich weit hinausliegend, nämlich der 20. Februar.

Reichsminister Dr. Geßler: Zu den Einzelheiten kann ich noch keine Stellung nehmen, da ich die Note jetzt erst erhalten habe. Ich glaube aber, daß keine Bedenken wegen der Regelung der Entwaffnung bestehen.

Der Herr Reichspräsident Wegen der Räumung der zweiten und dritten Zone ist wohl nichts gesagt in diesen Noten?

Der Reichskanzler Nein, jetzt noch nicht. Hierüber will ja Briand in seiner Kammerrede etwas sagen3.

[870] Ich glaube, daß, wenn man jetzt das Gesamtbild überprüft, eine andere Antwort als die Zustimmung nicht möglich sein wird. Dabei wird es unsere Aufgabe sein, in den Begleitreden im Reichstag alle in der Öffentlichkeit umstrittenen Punkte klarzustellen, zu erläutern und amtlich auszulegen. Wir werden dabei betonen, daß wir diese Auslegung wiederholt gegeben haben, ohne in den gegnerischen Ländern auf Widerstand zu stoßen4. Im übrigen wird auf diesem Boden unermüdlich weiterzuarbeiten sein, zuerst in der Regelung der Luftfahrtfrage5.

Der Herr Reichspräsident Ich lege großen Wert darauf, daß Aufklärung und Widerlegung von Presseangriffen erfolgt, damit diese bösen Anfeindungen aufhören. Wir sind nun einmal der schwächere Teil und müssen den Weg der Verhandlungen gehen, so schwer er mir persönlich auch wird. Hoffentlich sind diese Verhandlungen und ist dieser Vertrag ein Mittel dazu, daß wir in der Welt wieder auf ebenbürtigem Fuße behandelt werden. – Auf einen Punkt möchte ich noch hinweisen, das ist das Verhältnis zu Rußland. Dem Herrn Reichskanzler und dem Herrn Außenminister ist ja die Aufzeichnung des Herrn Botschafters Grafen Brockdorff-Rantzau bekannt und die Bedenken, die er darin äußert6. Die Kollektivnote zu Artikel 167 ist nicht ganz eindeutig; wir legen sie so aus, daß wir freie Hand haben zu entscheiden, ob wir bei militärischen oder wirtschaftlichen Maßnahmen, die vom Völkerbundsrat beschlossen sind, mitmachen wollen oder nicht. Die Russen erklären aber, daß hier zweifellos im kritischen Moment die Gegenseite eine andere Auslegung geben würde. Es müßte nun sichergestellt werden, daß unsere Auslegung von der Gegenseite anerkannt wird.

Reichsminister Dr. Stresemann: Unsere Auslegung ist allgemein anerkannt, und das werden wir auch in unseren Reden noch einmal betonen. Übrigens war der russische Botschafter8 gestern bei mir und gab dem Wunsch Ausdruck, daß Rußland sich über nähere Beziehungen mit uns weiter verständigen wolle; das beweist die Absicht, daß sie ihr Verhältnis zu uns durchaus nicht als geändert ansehen. Übrigens bluffen die Russen gern.

Der Herr Reichspräsident Es wäre erwünscht, daß unser Verhältnis zu Rußland durch unseren Eintritt in den Völkerbund keine Beeinträchtigung erführe. Ich bitte jedenfalls, diese unsere Auslegung und diesen unseren Grundsatz bezüglich Rußland in den Begleitreden besonders zu betonen.

[871] Der Reichskanzler Die Russen legen natürlich die Völkerbundsakte und die Kollektivnote in ihrer eigenen Art aus, aber ich bin überzeugt, daß sie diese Auslegung selbst nicht glauben. Die Hauptlinie der russischen Politik geht eben dahin, Unfrieden zu erzeugen. Ich habe mich immer gefragt, ob durch unseren Eintritt in den Völkerbund unser Verhältnis zu einem ernsthaften Rußland gefährdet werde, und bin zu der Überzeugung gekommen, daß dieses Verhältnis durch Locarno nicht leidet. Es kann gar kein Zweifel sein, daß es keine andere Instanz über dem einzelnen Lande gibt zu entscheiden, ob es Maßnahmen auf Grund des Völkerbundsstatuts gegen eine dritte Macht mitmachen will oder nicht.

Der Herr Reichspräsident Ich kann immer nur wieder die Bitte aussprechen, die Öffentlichkeit in geeigneter Weise zu belehren. Das wird auch dazu beitragen, den inneren Frieden zu bekommen.

Der Reichskanzler Letzteres ist zu erstreben, aber schwer zu erreichen, wenn die Presse die amtlichen Erklärungen ignoriert und wenn die deutsch-nationale Partei die Parole „rücksichtsloser Kampf gegen Locarno“ ausgibt.

Reichswehrminister Dr. Geßler erklärt nach telefonischer Rücksprache mit General von Seeckt, daß dieser von der französischen Formulierung des Protokolls über die Entwaffnung9 nicht sehr erfreut ist, glaubt aber, daß es sich nur um nebensächliche Dinge handelt.

Der Reichskanzler schlägt nunmehr als Beschluß des Kabinetts vor:

Das Kabinett beschließt, dem Reichstag eine Vorlage zwecks Annahme des Vertrags von Locarno zu machen.

Es erhebt sich kein Widerspruch.

Der Herr Reichspräsident Man kann nur sagen, Gott möge seinen Segen dazu geben. Wir wollen hoffen, daß durch diesen Vertrag Deutschland im Konzert der Völker wieder seinen ihm gebührenden Platz erhält und daß wir dann auch im Innern wieder mehr in Ordnung kommen. Unser Aufstieg muß ein langsamer sein; mit einem Ruck kann es nicht in die Höhe gehen; wir müssen die Leiter mühsam emporklettern und hauptsächlich verhüten, daß wir herunterfallen, weil ein zweites Emporklettern dann kaum noch möglich wäre. Ich hätte auch manches anders gewünscht, aber im ganzen ist wohl nun nichts mehr zu ändern.

Der Reichskanzler verliest den Entwurf einer Pressenotiz, die durch WTB herausgehen und diesen Beschluß bekanntgeben soll.

Reichsminister Dr. Geßler möchte diesen Beschluß noch nicht herausgehen lassen, ehe nicht die Ministerpräsidenten der Länder, deren Mitarbeit wir hier brauchen, angehört worden sind10; das kann nur die Stellung der Reichsregierung festigen. Ich wende mich nicht gegen den Beschluß, sondern gegen die Veröffentlichung. Zu veröffentlichen bitte ich nur, daß wir alle Fragen geprüft und[872] zu einem Abschluß gekommen sind, dem der endgültige Beschluß folgen wird, sobald die Besprechung mit den Ländern stattgefunden hat.

Nach Bemerkungen der Reichsminister Dr. Stresemann und Graf Kanitz faßt der Herr Reichskanzler die verschiedenen Auffassungen vermittelnd dahin zusammen, daß er eine Pressenotiz des Inhalts vorschlägt:

Das Kabinett hat heute die Beratungen zum Abschluß gebracht und grundsätzlich Übereinstimmung erzielt. Die endgültige Beschlußfassung soll erst erfolgen nach der am Donnerstag [19. 11.] stattgehabten Besprechung mit den Ministerpräsidenten; der Herr Reichsminister des Auswärtigen soll inzwischen die Vorlage für den Reichstag vorbereiten11.

Der Herr Reichspräsident stellt fest, daß dem letzten Vorschlag des Reichskanzlers allgemein zugestimmt wird.

Der Reichskanzler schlägt nunmehr für die Vorlage an den Reichstag die Form vor:

Der Reichstag stimmt dem Vertrag von Locarno zu und ermächtigt die Reichsregierung zum Eintritt in den Völkerbund.

Der Herr Reichspräsident fragt nach der Aussicht für eine Mehrheit im Reichstag.

Der Reichskanzler Von Dr. Brauns, der auf dem Zentrumsparteitag in Kassel ist, habe ich die Mitteilung, daß die Zentrumspartei geschlossen für Annahme ist. Die Sozialdemokraten sind auch ruhiger geworden und wollen die Auflösung des Reichstags nicht mehr erzwingen, werden also für Locarno stimmen. Ebenso werden die Demokraten handeln. Die Wirtschaftspartei erklärt, sie stimme ebenfalls, trotz Professor Bredt12, dafür. Wegen der Volkspartei und der Bayerischen Volkspartei werden die diesen angehörenden Minister sich wohl selbst äußern. Die Frage, ob Zweidrittelmehrheit erforderlich ist, ist geprüft, aber verneint worden13.

Reichsminister Dr. Stresemann: Meine Fraktion wird jedenfalls geschlossen für Locarno stimmen, bisher hat nur ein einziges Mitglied Bedenken geäußert.

Reichsminister Stingl: Meine Partei wird jedenfalls auch geschlossen oder fast geschlossen für Locarno stimmen. Erleichtert wurde uns diese Stellungnahme durch die Flucht der Deutschnationalen aus der Regierung.

[873] Der Reichskanzler Wir werden im Reichstag kein Vertrauensvotum für die Regierung beantragen, wir werden auch nicht behaupten, daß die Zustimmung zu dem Werk von Locarno eine Vertrauenskundgebung in sich einschließt. Nach Erledigung des Werks von Locarno werden wir allerdings in Verfolg der Linie, die wir bisher eingenommen haben, unsere Ämter in die Hand des Herrn Reichspräsidenten zurückgeben14. Das wird unvermeidbar sein, aber ein Beschluß braucht darüber jetzt noch nicht gefaßt zu werden.

Der Herr Reichspräsident schließt die Sitzung um 11.25 Uhr.

Fußnoten

1

Es handelt sich um die Note der Botschafterkonferenz vom 16. 11. (Unterschrift: Briand) und das „Protokoll einer am 16. November 1925 im [frz.] Ministerium des Äußern abgehaltenen Sitzung zur Besprechung der Liste 4 der Note der Deutschen Regierung vom 23. Oktober 1925“ (Unterschriften: Nord und Massigli).

Die Note der Botschafterkonferenz bestätigt einleitend die bei den Pariser Verhandlungen zwischen all. Sachverständigen (u. a. General Desticker, Generalsekretär Massigli) und Vertretern der RReg. (u. a. Vortr.LegR Nord, MinR Wagner vom RIMin.) erzielten Vereinbarungen in der Entwaffnungsfrage (s. u. Protokoll vom 16. 11.) und versichert sodann, die Räumung der Kölner Zone, die am 1. 12. beginnen solle, werde bei reibungslosem Verlauf bis Ende Januar, bei unerwartet eintretenden technischen Schwierigkeiten bis spätestens 20.2.26 vollendet sein. Zur IMKK heißt es dann: Die Kommission, „deren Stärke schon jetzt erheblich vermindert werden kann“, habe nur noch die Aufgabe, die Durchführung des jetzt vereinbarten Programms zu überwachen. Danach solle sie vollständig zurückgezogen werden.

Das Protokoll vom 16. 11. – letzter Akt der Verhandlungen über die Entwaffnungsnote vom 4.6.25 (s. Anm. 1 zu Dok. Nr. 96) – sieht als abschließende Regelung vor: Polizei: Preußen wird die Zahl der lebenslänglich angestellten Schutzpolizisten von 9000 auf 15 000 erhöhen. In den übrigen Ländern wird die Zahl der Beamten auf Lebenszeit im Verhältnis zur Gesamtzahl der Polizisten mindestens ebenso hoch, in den Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Lübeck etwas geringer sein als in Preußen. Außerdem wurde beschlossen, daß die Stärke der kasernierten Schutzpolizei nicht 32 000 übersteigen dürfe und daß die militärischen Amtsbezeichnungen der höheren Polizeibeamten beibehalten werden können. Hinsichtlich der Punkte Oberbefehl, Ausbildung an bestimmten Waffen, Artillerie der Festung Königsberg und Verbände erklärten sich die Vertreter der all. Regg. mit den dt. Vorschlägen vom 11. und 13. 11. (s. Anm. 6 zu Dok. Nr. 220) einverstanden (Note und Protokoll abschrl. in R 43 I /428 , Bl. 87, 94-96).

2

Vgl. Dok. Nr. 195 b.

3

Vgl. Anm. 16 zu Dok. Nr. 210 und Anm. 8 u. 14 zu Dok. Nr. 223.

4

S. die Reden Luthers und Stresemanns in der Locarno-Debatte des RT am 23. u. 24. 11. (RT-Bd. 388, S. 4475  ff. und 4530 ff.).

5

Zur diesbez. Kabinettsberatung s. Dok. Nr. 219, P. 4.

6

Gemeint ist wohl die Aufzeichnung des Botschafters für den RPräs. vom 7. 11., in der es u. a. heißt: „Das Bedenklichste ist, daß wir, wenn die Abmachungen von Locarno zur Ausführung kommen, das Atout, das wir seit Rapallo den Alliierten gegenüber haben, indem wir die Möglichkeit eines engeren Zusammengehens mit Rußland, selbst bis zur Eventualität eines militärischen Zusammengehens, geltend machen können, aus der Hand verlieren.“ Überdies stehe zu befürchten, daß die Sowjetregierung versuchen werde, ihrerseits „neue Kombinationen“ einzugehen. Die Aufzeichnung ist gedr. in: Locarno-Konferenz 1925. Eine Dokumentensammlung, Dok. Nr. 29.

7

S. Anlage F zum Schlußprotokoll von Locarno, RGBl. 1925 II, S. 1008 .

8

Krestinski.

9

Der frz. Text des Protokolls (s. Anm. 1) wurde von Botschafter v. Hoesch am 16. 11. telegrafisch übermittelt. Eine Abschrift dieses Telegramms in R 43 I /428 , Bl. 304-308.

10

S. die Besprechung mit den Ministerpräsidenten der Länder vom 19. 11. (Dok. Nr. 228).

11

Eine Notiz dieses Inhalts in der Abendpresse des 17. 11. (z. B. „Tägliche Rundschau“).

12

Vgl. Dok. Nr. 216, dort auch Anm. 2.

13

Die Frage der Zweidrittelmehrheit war in der deutschnationalen und völkischen Presse seit Ende Oktober 1925 ausführlich erörtert worden. Im allgemeinen wurde die Auffassung vertreten, daß der Eintritt in den Völkerbund eine Änderung des Art. 45 Abs. 2 RV (Kriegserklärung und Friedensschluß nur durch Reichsgesetz) erforderlich mache, die gemäß Art. 76 RV nur mit Zweidrittelmehrheit erfolgen könne (hierzu zahlreiche Zeitungsausschnitte in R 43 I /448 ).

Das RIMin. und das RJMin. äußern sich zu dieser Frage in einem gemeinsamen Gutachten vom 21. 11. u. a. wie folgt: „Die Übernahme der völkerrechtlichen Verpflichtung, unter gewissen Voraussetzungen zum Kriege zu schreiten, hindert Deutschland in keiner Weise daran, im Einzelfalle bei der Entscheidung über eine etwaige Kriegserklärung die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Formen zu wahren. Das verfassungsmäßige Recht des Reichstags, über die Kriegserklärung zu entscheiden, bleibt also unberührt.“ (R 43 I /447 , Bl. 348-350).

14

S. dazu den Kabinettsbeschluß vom 5. 12. (Dok. Nr. 243).

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