1.69 (lut2p): Nr. 238 Aufzeichnung des Staatssekretärs Kempner über verschiedene Möglichkeiten der Kabinettsbildung. 29. November 1925

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Nr. 238
Aufzeichnung des Staatssekretärs Kempner über verschiedene Möglichkeiten der Kabinettsbildung. 29. November 19251

R 43 I /1307 , Bl. 60-71 Durchschrift

I.

Praktisch kommen für Kabinettsumbildungsversuche nur in Betracht die sogenannte Große Koalition oder eine Regierung der Mitte. Der Begriff der Großen Koalition umfaßt jedenfalls Sozialdemokraten, Zentrum, Deutsche Volkspartei und Demokraten. Er kann mitumfassen die Bayerische Volkspartei[924] und eventuell auch die Wirtschaftliche Vereinigung. Die Wirtschaftliche Vereinigung hat sich bei der Abstimmung über Locarno gespalten. Sie ist nur eine Arbeitsgemeinschaft; sie umfaßt die Wirtschaftspartei, den Bayerischen Bauernbund und die Hannoveraner. Von diesen drei Gruppen hat die Wirtschaftspartei gegen Locarno gestimmt, die beiden anderen für Locarno. Eine Regierung der Mitte würde, wenn sie vollständig wäre, das Zentrum, die Deutsche Volkspartei, die Demokraten, die Bayerische Volkspartei und eventuell auch die Wirtschaftliche Vereinigung umfassen. Bei beiden möglichen Formen der Regierungsbildung ist es erwünscht, die Basis so breit zu finden wie nur irgend denkbar. Im Falle der Bildung der Großen Koalition ist der Gefahrenpunkt die Frage, ob die Bayerische Volkspartei mitmacht, was aus allgemeinen nationalen Gründen als besonders wichtig erscheint. Die Deutsche Volkspartei kann in diesem Zusammenhang nicht als Gefahrenpunkt bezeichnet werden, weil ohne sie eine sogenannte Große Koalition überhaupt nicht zustande käme, sondern dann nur die sogenannte Weimarer Koalition (Sozialdemokraten, Zentrum, Demokraten), die, da sie eine Minderheit ist, die voraussichtlich keine weitere Unterstützung finden würde, wohl zunächst nicht in Betracht kommt. Bei einer Koalition der Mitte liegt der Gefahrenpunkt bei den Demokraten, die wenig Neigung zeigen werden, ohne die Beteiligung der Sozialdemokraten sich in einer Regierung zu beteiligen; andererseits sind sie von großer Wichtigkeit, sobald man nur die schmale Basis der Mitte zur Verfügung hat. Ob die Wirtschaftliche Vereinigung mittut, ist sowohl bei der Großen Koalition wie bei der Koalition der Mitte nicht von ausschlaggebender Bedeutung, obwohl es selbstverständlich erwünscht ist.

II.

Die eigene Einstellung der für die Regierungsbildung in Betracht kommenden Parteien ist zur Zeit, soweit sich übersehen läßt, folgende: Unbedingte Anhänger der Großen Koalition sind die Demokraten und, soweit man es von außen beurteilen kann, in einer sehr starken Mehrheit auch das Zentrum. In der Deutschen Volkspartei würde nach den bis jetzt gewonnenen Eindrücken eine erhebliche Mehrheit bereit sein, die Große Koalition mitzumachen. In der inneren Einstellung neigt der größte Teil der Volkspartei wohl aber mehr zur Regierung der Mitte. Die Bayerische Volkspartei würde große Schwierigkeiten zu überwinden haben, wenn sie sich der Großen Koalition anschlösse; doch ist es immerhin möglich, daß sich irgendein Weg für ihr Mitgehen finden lassen würde. Die Sozialdemokratie ist in ihrer großen Mehrheit sicherlich innerlich gegen die Große Koalition, würde aber, wenn sie sehr nachdrücklich vor die Frage der Beteiligung gestellt wird, mit einem „Nein“ auf nicht unerhebliche äußere Schwierigkeiten stoßen. Im gleichen Maße wie die Parteien für oder gegen die Große Koalition sind, sind sie umgekehrt gegen oder für eine Regierung der Mitte.

III.

Diese vorbezeichnete Stellungnahme der Parteien erklärt sich aus den parteipolitischen Interessen: Die Demokraten scheuen sich davor, in einer Regierung[925] der Mitte eine Art Schutzschild im Sinne einer Zuverlässigkeit der Regierung unter dem Gesichtspunkte der Linken abzugeben. Das Zentrum hat das dringende Bedürfnis, in den schweren wirtschaftlichen Verhältnissen dieses Winters die Sozialdemokratie zur Mitverantwortung heranzuziehen. Umgekehrt ist es den Sozialdemokraten anscheinend parteipolitisch willkommen, an der schweren Verantwortung des Winters nur vom Standpunkt der Opposition teilnehmen zu können. Ferner spricht bei ihrer Abneigung gegen die Teilnahme an der Großen Koalition zur Zeit anscheinend der Umstand mit, daß sich in den letzten Monaten die Einstellung der Kommunisten gewandelt hat. Die Sozialdemokratie scheint Möglichkeiten zu sehen, mindestens einen Teil der jetzigen kommunistischen Wählerschaft für die Sozialdemokratie zurückzugewinnen. Dieses Ziel ist für sie leichter zu erreichen, wenn sie in der Oppositionsstellung beharrt. Ob aber die genannten beiden Gründe bei der Entscheidung der Sozialdemokratischen Partei über Mitgehen oder Draußenbleiben wirklich den Ausschlag geben werden, ist heute noch nicht zu übersehen. Die Deutsche Volkspartei und die Bayerische Volkspartei haben einerseits schwerwiegende Bedenken, ob die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten überhaupt oder auch nur auf eine längere Dauer gelingt, und möchten sich auch politisch nicht gern so weit nach links binden. Die besonderen bayerischen Verhältnisse führen dazu, daß diese Empfindung bei der Bayerischen Volkspartei am stärksten entwickelt ist; es ist dabei zu beachten, daß in der jetzigen Bayerischen Regierung Bayerische Volkspartei und Deutschnationale zusammensitzen, und daß überhaupt die Entwicklungsrichtung Bayerns seit Jahren den rechten Kurs bevorzugt.

Alle diese Einstellungen der Parteien werden bei der endgültigen Stellungnahme sehr wesentlich von der Verteilung der einzelnen Ministerien auf die verschiedenen Parteien und auf die verschiedenen Personen, auch von der Auswahl der Person des Kanzlers abhängen.

IV.

Vom Standpunkt des Reiches aus spricht für die Große Koalition zunächst das Vorhandensein einer Regierungsmehrheit im Reichstag. Die Beteiligung der Sozialdemokraten hat sicher ferner den großen Vorzug, daß die bei der wachsenden Erwerbslosigkeit zum Teil sehr schweren Entscheidungen dann unter Zustimmung einer Partei gefällt werden, zu der ein sehr großer Teil der deutschen handarbeitenden Bevölkerung gehört. Auch der Gegensatz zwischen Reichsregierung und Preußischer Regierung würde auf diesem Wege ausgeräumt oder mindestens gemildert werden. Gerade in diesem Winter ist nämlich damit zu rechnen, daß alle Länderregierungen, daß also auch die Preußische Regierung fortdauernd an die Reichsregierung mit dem Ersuchen um Bewilligung von Wirtschaftskrediten u. dergl. herantreten werden. Diese Ersuchen werden mit wenigen Ausnahmen abgelehnt werden müssen. Dieses ganze schwierige Bild würde sich erleichtern, wenn zwischen der Reichsregierung und der Preußischen Regierung kein grundsätzlicher parteipolitischer Gegensatz bestände. Gegen die Große Koalition spricht, daß wahrscheinlich die Schwierigkeit der[926] Bildung sehr groß sein wird, besonders auch die Schwierigkeit bei der Abfassung einer Regierungserklärung. Für einen Punkt von besonderer Schwierigkeit muß man die Frage der Ratifikation des Washingtoner Abkommens2 halten. Es ist ferner durchaus zweifelhaft, wie lange die Große Koalition, wenn sie zustande kommt, zusammenhalten wird. Die Erfahrungen mit der Großen Koalition, die Mitte August 1923 als erstes Kabinett Stresemann zustande kam, sind nicht ermutigend; allerdings haben damals auch ganz besondere Schwierigkeiten in den Persönlichkeiten einiger Minister gelegen. In Preußen hat die Große Koalition jahrelang mit beachtlicher Stabilität regiert, und zwar unter Führung des jetzigen Ministerpräsidenten Braun. Die Verhältnisse in Preußen, wo es sich vorwiegend um Verwaltungsaufgaben handelt, liegen aber anders als beim Reich mit seinen großen gesetzgeberischen Aufgaben und seiner letztinstanzlichen Zuständigkeit in den großen Finanz- und Wirtschaftsfragen.

Für die Koalition der Mitte spricht, daß sie eine in sich viel geschlossenere Regierung darstellen würde. Besonders gegenüber der zu erwartenden schweren wirtschaftlichen Not dieses Winters wird es bei einer Regierung aus Zentrum, Deutscher Volkspartei, Demokraten und Bayerischer Volkspartei kaum wesentliche Auffassungsunterschiede geben. Der Nachteil einer solchen Regierung liegt darin, daß sie keine Mehrheit im Reichstag hat und daß es infolgedessen einer ganz außerordentlichen Regierungskunst und wohl auch eines nicht unerheblichen Glücks bedürfen würde, um eine Mehrheit in schweren Fragen, z. B. sofort in der Frage der Beamtenbesoldung, im Reichstag zu bekommen. Überdies ist es zweifelhaft, ob eine solche Minderheitsregierung überhaupt die nötige Vertrauensgrundlage im Reichstag findet. Gelingt dies aber, so wird sicherlich die Hilfe der Sozialdemokratie, um deren Hilfe es sich praktisch bei der jetzigen Regierungsbildung handelt, nicht ohne ein entgegenkommendes Verhalten nach dieser Richtung zu bekommen sein. Es kann durchaus fraglich sein, ob der Einfluß der Sozialdemokratie im Sinne einer Stellungnahme, die die Mittelparteien für wirtschaftlich falsch halten, nicht stärker ist, wenn sie sich bei solcher Regierung der Mitte außerhalb der Regierung befindet, als wenn sie in der Großen Koalition Regierungsteilhaberin ist. In der praktischen Regierungsführung einer Regierung der Mitte wird sich wahrscheinlich ergeben, daß die Regierung sich in einzelnen Fragen bald auch auf die Zustimmung der Deutschnationalen wird stützen müssen, falls nicht der linke Teil solcher Regierung der Mitte sich dagegen grundsätzlich politisch wendet, und falls nicht die Deutschnationalen zu einer scharfen Opposition auf der ganzen Linie übergehen.

Sehr schwer ist zu sagen, ob im einen oder anderen Fall die Gefahr größer ist, daß der Reichstag bald der Auflösung verfällt. Auf jeden Fall wäre eine solche Auflösung sehr unerwünscht, bevor die wirtschaftlichen Verhältnisse sich einigermaßen beruhigt haben. Das Wahlergebnis wird voraussichtlich verschieden[927] sein, je nachdem, ob die Sozialdemokraten an der Regierung teilgenommen haben oder in Oppositionsstellung geblieben sind. Auch das Verhältnis der Sozialdemokraten zu den Kommunisten kann von der Frage ihrer Beteiligung oder Nichtbeteiligung an der Regierung beeinflußt werden.

Neben der grundsätzlichen Parteizusammensetzung der Regierung wird von erheblicher Bedeutung die Verteilung der Ressorts auf die Parteien und die Auswahl der Minister sein. Von besonderer Bedeutung ist natürlich die Person des Kanzlers. Bei einer Mittelregierung ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß eine nach parteipolitischer Einstellung ausgesprochen nach links neigende Persönlichkeit, z. B. des Zentrums, die Beziehungen zu den Sozialdemokraten flüssiger gestalten und damit das praktische Regieren erleichtern würde. Andererseits würde eine solche Kanzlerpersönlichkeit die Möglichkeit, auch einmal mit den Deutschnationalen eine Einzelfrage zu erledigen, erschweren. Umgekehrt wird bei der Großen Koalition das Vorhandensein eines Kanzlers, der nicht als ausgesprochen nach links neigend gilt, der Bayerischen Volkspartei und auch der Deutschen Volkspartei das Mitgehen erleichtern, während andererseits dadurch die Mitverantwortung der Sozialdemokratie herabgesetzt würde. Ein gewisser Ausgleich könnte in beiden Fällen dadurch geschaffen werden, daß das im jetzigen Kabinett unbesetzte Vizekanzleramt in entsprechender Weise besetzt würde3. Sehr wichtig ist dann noch die Person des Finanzministers, auf die sich tatsächlich ein großer Teil der Entscheidungen des jetzigen Winters zusammenziehen wird. Da es sich jetzt im Gegensatz zum Winter 1923/24 nicht um die positive Durchführung tief einschneidender Maßnahmen handelt, sondern einfach um die Erhaltung des jetzigen ordentlichen Finanzzustandes gegenüber den unvermeidlichen und in sich begründeten Anstürmen der notleidenden Erwerbslosenmenge und der notleidenden Wirtschaft, so erscheint es wichtig, das Finanzministeramt durch einen Parteimann zu besetzen, damit die Parteiverantwortlichkeit hier voll eingeschaltet wird.

V.

Nicht erwogen worden sind in der vorstehenden Zusammenstellung Kombinationen, die zur Zeit nicht praktisch sind. Deshalb ist zunächst nicht betrachtet worden irgendeine Kombinationsmöglichkeit unter Beteiligung der Deutschnationalen, da die Regierungsbildung unter dem Vorzeichen der Ausführung des Vertrages von Locarno steht. Ferner ist nicht behandelt worden die Weimarer Koalition, die keine Mehrheit darstellt und nach jetzigem Stande der Dinge vermutlich keinerlei Unterstützung von der als Nachbarpartei allein in Betracht kommenden Deutschen Volkspartei finden wird, so daß die Weimarer[928] Koalition voraussichtlich sofort einem Mißtrauensvotum erliegen würde. Endlich ist nicht behandelt worden die mehr oder weniger reine Beamtenregierung, die ja nur als Nothilfsmittel in letzter Stunde in Betracht käme.

VI.

Es muß praktisch stark mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß die zunächst zur Regierungsbildung berufene Persönlichkeit, ganz gleichgültig welchen Weg sie geht, mit dem Regierungsbildungsversuch scheitert. Natürlich liegt es in der Hand des Herrn Reichspräsidenten, ob nur eine solche Persönlichkeit beauftragt werden soll, die von vornherein einen bestimmten Auftrag, sei es im Sinne der Großen Koalition, sei es im Sinne der Regierung der Mitte, hat, oder ob es dem Berufenen überlassen werden soll, eine Regierung irgendeiner Art dem Herrn Reichspräsidenten nach Abschluß der Verhandlungen mit den Parteien vorzuschlagen. Es erscheint auch nicht unbedingt notwendig, daß die mit der Bildung beauftragte Persönlichkeit nachher das Kanzleramt übernimmt, obwohl das regelmäßige Verfahren so gestaltet ist. Die endgültige Entscheidung wird keinesfalls getroffen werden können, bevor der tatsächliche Zustand vom nächsten Sonnabend (5. Dezember)4 bekannt ist, denn es werden Versuche gemacht, eine Aussprache zwischen den Parteien, die dem Locarnovertrag zugestimmt haben, über die Frage der Regierungsbildung inzwischen einzuleiten5. Es kann ein wichtiges Tatbestandsmerkmal für die Entscheidung des Herrn Reichspräsidenten sein, zu erfahren, wie sich diese Aussprache zwischen den Parteien entwickelt hat.

Fußnoten

1

Die Aufzeichnung wurde von Kempner unter diesem Datum an den RPräs. übersandt. Im Begleitschreiben heißt es, die Aufzeichnung sei von ihm, Kempner, im Auftrage des RK, der um besondere Berücksichtigung der Möglichkeiten einer Regierung der Mitte und der Großen Koalition gebeten habe, angefertigt worden. „Im Verfolg dieses Auftrages habe ich daher […] nicht zu der Frage Stellung genommen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bildung einer Regierung möglich wäre, die etwa der von Herrn Reichskanzler Luther im Januar dieses Jahres gebildeten entsprechen würde.“

2

Auf der internationalen Arbeitskonferenz in Washington 1919 geschlossenes Abkommen über die Arbeitszeit (insbes. Einführung des Achtstundentages). Das Abkommen wird von Dtld. nicht ratifiziert. Zum Standpunkt der RReg. s. Dok. Nr. 8, P. 4, dort bes. Anm. 13.

3

Die Geschäftsordnung der RReg. vom 1.5.24 bestimmt hierzu in § 7: „Der Reichspräsident kann auf Vorschlag des Reichskanzlers einen der Reichsminister zum, Stellvertreter des Reichskanzlers bestellen. Den Umfang der Vertretung bestimmt der Reichskanzler. Für die Auswahl des Stellvertreters des Reichskanzlers ist weder die Führung eines bestimmten Ministeriums noch das Dienstalter maßgebend.“ Die Geschäftsordnung ist gedr. in dieser Edition: Die Kabinette Marx I/II, Dok. Nr. 192.

4

Gemeint ist wohl der Rücktritt der RReg. nach Unterzeichnung der Locarno-Verträge, der vom Kabinett bereits am 19. 11. befürwortet (s. Dok. Nr. 230) und von Luther in seiner Locarno-Rede am 23. 11. im RT angekündigt worden war (RT-Bd. 388, S. 4457  ff.). Zur endgültigen Beschlußfassung s. die Ministerbesprechung vom 5. 12. (Dok. Nr. 243).

5

Über diese Aussprachen der Parteiführer s. Dok. Nr. 241.

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