2.11 (ma12p): Nr. 11 Der Reichskanzler an den englischen Ministerpräsidenten. London, 16. August 1924

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RTF

[1340] Nr. 11
Der Reichskanzler an den englischen Ministerpräsidenten. London, 16. August 19241

R 43 I /268  Abschrift

[Kriegsschuldfrage]

Vertraulich!

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident!

In der Schlußsitzung der Londoner Konferenz habe ich bereits Gelegenheit gehabt, auf die Ausführungen einzugehen, die sowohl von Ihnen, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, als auch von dem Herrn französischen Ministerpräsidenten und dem Herrn amerikanischen Botschafter in London über den Schiedsgerichtsgedanken ausgesprochen wurden2. Mit vollem Recht haben Sie gerade mit Beziehung auf das deutsche Volk betont, daß die Anerkennung des Schiedsgerichtsgedankens innerhalb des Gutachtens der Sachverständigen eine Bedeutung habe, die über die Einzelheiten des Gutachtens selbst weit hinausgehe und eine neue Ära in den Beziehungen der Völker einleiten solle. Der Schiedsgerichtsgedanke ist auf der Londoner Konferenz für das Gutachten verwirklicht worden, d. h. für die Regelung der wirtschaftlichen und finanziellen Fragen, die in diesem Gutachten behandelt werden. Aber wenn wir von neuen Beziehungen der Völker untereinander sprechen, um wieviel mehr kommt es dann in Betracht für die großen Fragen der Sittlichkeit und Moral, für die große ethische Frage der Menschheit. Sie nannten das Abkommen von London den ersten wahren Frieden von Europa, Sie werden mit mir, Herr Ministerpräsident, überzeugt sein, daß ein solcher Friede nur auf gute Beziehungen der Völker gegründet werden kann.

Deutschland wird seine Kräfte bis zum Äußersten anspannen, um seinen schweren materiellen Pflichten nachzukommen. Dankbar erkennen wir den Geist an, der über dieser Konferenz schwebte und der in den Schlußreden der Vertreter der Völker einen so beredten Ausdruck fand. Aber noch steht zwischen den Völkern, die im Weltkriege miteinander gekämpft haben, eine Frage, die das deutsche Volk bis aufs tiefste berührt, die Frage der moralischen Verantwortlichkeit für den Krieg und die im Versailler Vertrag niedergelegte Auffassung,[1341] daß Deutschland diesen Krieg allein verursacht habe. Das deutsche Volk empfindet tief die Beschuldigung, die hierin liegt. Die Vertreter Deutschlands in Versailles haben dagegen bereits ebenso Einspruch erhoben wie dies bisher jede deutsche Regierung und mit ihr das deutsche Volk getan hat.

Wenn irgendeine Frage dazu geeignet ist, aus der Leidenschaft des Krieges und der Politik herausgehoben und unter den Gedanken unparteiischer Würdigung gestellt zu werden, so ist es diese Frage. Deutschland hat deshalb die Absicht, sobald seine Aktenpublikation über die deutsche Politik seit Gründung des Deutschen Reiches3 beendet ist, was voraussichtlich noch in diesem Jahre geschehen wird, an die Völker, die mit ihm im Kriege gestanden haben, die Aufforderung zu richten, ein internationales Schiedsgericht einzuberufen, um die Kriegsursachen zu erforschen und ein unparteiisches Urteil über diese Frage herbeizuführen.

Glauben Sie nicht, Herr Ministerpräsident, daß es die Absicht der Deutschen Regierung ist, damit alte Wunden aufzureißen und ihre vertraglichen Verpflichtungen anzutasten. Wir wollen nur, daß die Beziehungen der Völker auf Gerechtigkeit, Vertrauen und Wahrheit gegründet werden. Nicht um Unfrieden hervorzurufen, sondern um wirklichen Frieden zu schaffen, wünschen wir diese Frage unter denselben Gesichtspunkt gestellt zu sehen, der für die Londoner Abmachungen maßgebend war. Ich glaube im Sinne des Geistes der Konferenz zu handeln, wenn ich Sie bitte, die Hand dazu zu bieten, diese letzte Frage zu klären, die einer vollen Verständigung der Nationen entgegensteht. Ich bitte Sie insbesondere in diesem Sinne auf die übrigen alliierten Nationen einzuwirken und hierbei darauf Bedacht zu nehmen, daß sie diese Initiative der Deutschen Regierung in dem Geiste aufnehmen, wie sie gemeint ist. Sie würden damit einen weiteren Schritt tun, um jene neue Ära wirklichen Friedens zu schaffen, für die das unter Ihrer Führung begonnene Werk der Londoner Konferenz den Grundstein gelegt hat.

Indem ich Sie bitte, dieses Schreiben zunächst vertraulich behandeln zu wollen, benutze ich auch diesen Anlaß, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung zu erneuern, mit der ich die Ehre habe zu sein

Ihr Ihnen ganz ergebener

gez. Marx4

Fußnoten

1

Wie aus dem Konferenztagebuch hervorgeht (Anhang, Dok. Nr. 1, Eintragung unter dem 17.8.24), wurde dieses Schreiben auf der Rückreise der dt. Delegation von der Londoner Konferenz in der Nacht vom 17. zum 18. 8. fertiggestellt. Die dt. Botschaft in London wurde beauftragt, das Schreiben unverzüglich MacDonald zu übermitteln (Begleitschreiben an dt. Botschaft vom 17. 8. in: Pol. Arch. des AA, Büro StS, G, Kriegsschuldfrage, Bd. 1).

2

Die auf der Schlußsitzung der Londoner Konferenz gehaltenen Schlußansprachen sind abgedr. in: Die Londoner Konferenz Juli–August 1924, S. 73 ff. Zum Entwurf der Schlußansprache des RK s. Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 60.

3

Gemeint ist die Aktenpublikation „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914“.

4

In dem als „personal und private“ gekennzeichneten Antwortschreiben Mac-Donalds an Marx vom 22. 8. heißt es u. a.: „I hope I need not assure you that I share your view regarding the common belief which has been implanted by strenuous propaganda efforts that Germany was solely responsible for the War, as being a conclusion which the facts do not altogether justify. I doubt very much, however, if the proposed action which you take is advisable. Public opinion in most European countries is still very raw and if, at this moment, an attempt were made to reopen the question of responsibility, you would find that it would go back instinctively to the war position and you would be met by a frantic propaganda which, I think, would again submerge calm reason. Under those circumstances, you might get a repetition of the war verdict and that would do you incalculable harm. I should strongly advise you not to raise this question at present. It has now become a matter for the historian. […] It is quite true that the error of which you complain is still having some political effect – that the whole of the Versailles Treaty was based upon it, and that every now and again you have to suffer from outbursts of enmity in consequence of its existence. These things, however, are dying down and nothing has helped to put an end to them more than the London Conference. I, therefore, think, you can look forward to political relations very little disturbed by the views that people held of your responsibility. […] Will you allow me to go just a little further. Those of us who have been trying to create a better atmosphere in Europe, not only since the War ended but whilst it was still raging, have frequently been appalled at the clumsy handling of German diplomacy. Your folks seem to be unable to feel the minds of other people, and you so often take the line which alienates rather than draws together. I beg of you, do not do that in this instance.“ Am Schluß seines Briefes fragt MacDonald, ob ein dt. Beobachter im September in Genf sein würde. „The next piece of work that I should like to accomplish is to get Germany into the League of Nations, and if we could arrange how that is to be done, I should be particularly happy.“ (Abschrift in: Pol. Arch. des AA, Büro StS, G, Kriegsschuldfrage, Bd. 1).

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