2.5 (ma12p): Nr. 5 Aufzeichnung über eine Besprechung zwischen deutschen, französischen und belgischen Delegierten in London, Downing Street 10 am 13. August 1924, 17 Uhr

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Nr. 5
Aufzeichnung über eine Besprechung zwischen deutschen, französischen und belgischen Delegierten in London, Downing Street 10 am 13. August 1924, 17 Uhr1

R 43 I /268 

Anwesend: von der dt. Delegation: Marx, Stresemann, Luther, MinR Kiep, Dolmetscher Illch; von der frz. Delegation: Herriot, Clémentel, Nollet, Peretti de la Rocca, Bergery, ein Dolmetscher; von der belg. Delegation: Theunis, Hymans.

[Ruhrräumung2]

Den Vorsitz führte entsprechend dem Vorschlage des französischen Ministerpräsidenten der deutsche Reichskanzler.

ReichskanzlerMarx: Wir wollen unsere Besprechung von heute vormittag3 fortsetzen. Vielleicht ist es zweckmäßig, wenn ich die Gedankengänge mitteile, die uns im Anschluß an jene Besprechung beschäftigt haben. Ich möchte ganz frei und offen sprechen.

Wenn ich recht verstanden habe, soll der Ausdruck Maximum bedeuten, daß nach einem Jahre die Räumung beginnen soll, d. h. eine Staffelung vorher ist nicht beabsichtigt. Hier entsteht nun für uns die Frage, ob das Jahr tatsächlich die äußerste Grenze bedeutet, oder ob es nicht unter gewissen Bedingungen möglich wäre, auf eine kürzere Frist abzukommen. Wenn diese Frist von einem Jahr für uns allein in Frage kommt, dann kann ich nicht umhin, es auszusprechen, daß ich nicht weiß, wie wir die Zustimmung des deutschen Parlaments dazu erhalten sollen. Es ist dies eine Frage von höchster Bedeutung. Die Nachricht, daß die Räumung ein Jahr in Anspruch nehmen wird, wird auf das öffentliche Leben in Deutschland niederschmetternd wirken, und ich sehe nicht,[1324] wie wir mit einer solchen Bedingung fertig werden sollen. Außerdem aber möchte ich noch bemerken, daß ich nicht einsehe, wie es möglich sein soll, die wirtschaftliche Einheit herzustellen, wenn die Besetzung solange fortdauert. Der Riß zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet ist so groß, daß an eine Einheit unter solchen Umständen nicht zu denken ist.

Herriot: Ich möchte zunächst darauf hinweisen, daß ich selbstverständlich nie daran denken würde, die wirtschaftliche oder Steuerhoheit des Reiches anzutasten. Was die Räumungsfrist anbelangt, so habe ich heute morgen ausführlich dargelegt, daß ich mir diese Sache viel habe durch den Kopf gehen lassen und mit meinem Vorschlage unmittelbar an diejenige Grenze gegangen bin, die ich nicht überschreiten kann. Berücksichtigen Sie ferner, daß ein bedeutender Unterschied besteht zwischen der Lage, die früher bestand, und der jetzigen, da ich Ministerpräsident bin. Für mich handelt es sich nicht um die Frage von einem Monat mehr oder weniger. Ich bin nach Paris gefahren, um von meinem Kabinett die äußerst mögliche Vollmacht zu erhalten. Als ich nach London fuhr, da sollte die Räumungsfrage überhaupt nicht erörtert werden. Ich befinde mich somit in der Lage eines Regierungschefs, der sein Parlament betrogen hat.

Ich würdige durchaus die Stellungnahme der deutschen öffentlichen Meinung, bitte aber zu berücksichtigen, daß auch ich schon wegen der Konzession auf ein Jahr große Schwierigkeiten habe. Ich hatte geglaubt, mein Vorschlag würde von den Deutschen mit Freude aufgenommen werden und kann nur wiederholen, daß ich mit absoluter Aufrichtigkeit gesprochen habe. Ich will Ihnen nichts aufzwingen; wir müssen beide die Grenze des Möglichen finden und dann feststellen, was noch weiter geschehen kann. Ich bin selber bis zur äußersten Grenze des für mich Möglichen gegangen.

ReichskanzlerMarx: Wir sind bereit, in jeder Beziehung entgegenzukommen und alles zu versuchen, um den Frieden wiederherzustellen. Selbst wenn wir aber jetzt zustimmen würden, so würde unser Parlament uns im Stiche lassen, und alle Arbeit wäre vergebens.

Ich möchte dann noch auf folgendes hinweisen: Es würde im Interesse der möglichst schnellen und weitgehenden Zustimmung unseres Parlaments und zur Beruhigung der deutschen öffentlichen Meinung sehr dienlich sein, wenn möglichst bald nach Ablauf der Konferenz irgendeine Teilräumung erfolgen könnte. Ich hoffe noch immer, daß das möglich sein wird und denke dabei an diejenigen Gebiete, die für die Ruhrbesetzung nicht nötig sind. Ich möchte fragen, ob in dieser Beziehung eine Erklärung abgegeben werden kann.

Herriot: Ich habe die größte Achtung für Ihre Person und möchte Ihnen entgegenkommen soweit als möglich, bitte Sie aber, für den Augenblick auf meine Lage Rücksicht zu nehmen. Ich kann nicht mehr versprechen, als was ich Ihnen soeben spontan gesagt habe. Hinsichtlich der weiteren Gestaltung der Räumungsfrage müssen Sie zur Zukunft Vertrauen haben.

ReichskanzlerMarx: Ich verstehe vollkommen Ihre Schwierigkeiten, versichere Sie aber, daß unsere ebenso groß sind und fürchte, daß wir festlaufen. Ich habe also recht verstanden: die Jahresfrist ist das Äußerste, was Sie zur Zeit zugeben können.

Herriot: Das habe ich bereits heute früh gesagt.

[1325] Dr. Luther: Ich möchte nicht unterlassen, auf die wirtschaftlichen Gesichtspunkte hinzuweisen, die sich meines Erachtens hier aufdrängen. Wir durchleben zur Zeit in der deutschen Wirtschaft etwas, was wir eine Vertrauenskrise nennen. Das ganze Wirtschaftsproblem für Deutschland, und vielleicht nicht nur für Deutschland, ist die Überwindung dieser Vertrauenskrise. Ich will nicht sprechen von der Anleihe von 800 Millionen, über deren Voraussetzungen schon viel gesprochen worden ist. Ich möchte aber auf einen anderen Gesichtspunkt hinweisen. Die 800 Millionen allein tun es nicht, darüber hinaus muß eine langfristige Beschaffung von Krediten für Deutschland hinzukommen. Ein kleiner Teil hiervon wird in Deutschland aufzubringen sein, wo wir zur Zeit verhältnismäßig viel kurzfristiges, aber kein langfristiges Geld haben. Das ist aber nicht viel im Hinblick auf die bekannte Armut unseres Landes. Die Flüssigmachung der kurzfristigen und langfristigen Gelder geht nur durch Überwindung der Vertrauenskrise. Aber auch alle sonstigen Kredite, die Deutschland schon vom Auslande erhalten hat, gehen verloren, wenn die Krisis nicht überwunden wird. Auf diese wirtschaftlichen Zusammenhänge hinzuweisen, das ist meine Aufgabe.

Man hat viel von den Bedingungen der Anleihe gesprochen. Nach der einen Auffassung sind die Bedingungen leicht, nach der anderen schwer. Im Augenblick weiß ich nichts, weil die Bankiers sich uns gegenüber ausgeschwiegen haben. Ich halte es aber für selbstverständlich, daß die Grundlage der Anleihe sehr sicher sein muß, um das Vertrauen des Auslandes zu sichern. 800 Millionen ist eine große Summe selbst für Amerika.

Wenn wir von dem Vorschlage des Präsidenten Herriot ausgehen, so frage ich mich, ob diese Basis die Voraussetzungen schafft zur Überwindung der Vertrauenskrisis. Das möchte ich bezweifeln. Wer Geld gibt, muß sehen, daß hier wirklich eine politische Vereinbarung auf lange Sicht getroffen wird, die man für die Befriedung Europas geschaffen hat. Die Bankiers sind mißtrauisch gegenüber den Politikern. Schon aus diesem Grunde halte ich es für eine Sache der größten Wichtigkeit, daß man mit der Räumung sofort beginnt. Wenn dies auch nur für einen Teil gesichert wird, dann bedeutet das für viele Leute einen Beweis, daß das Gutachten durchgeführt wird. Man wird andererseits sagen: Wenn die Londoner Konferenz einen Erfolg bringen soll, dann muß die Durchführung schnell vor sich gehen.

Gestern hatte ich das Vergnügen, eine lange Unterhaltung mit Herrn Clémentel über die Fragen eines Handelsvertrages zu führen4. Im allgemeinen kamen wir zu einer Übereinstimmung über Grundgedanken5, und ich verließ das Hotel mit einer gewissen Hoffnung, daß wir jetzt auf dem Wege seien, das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich in Ordnung zu bringen. Ich habe gehofft, daß er [!] diesen Weg weitergehen würde. Wenn aber bei diesen Verhandlungen davon ausgegangen wird, daß die Truppen Frankreichs und Belgiens in Deutschland bleiben, so wird man sagen: Da liegt keine Einigung vor.

[1326] Ich bin Mitglied der Deutschen Delegation und bin nicht Politiker, sondern Verwaltungsbeamter. Ich sehe die Sache in erster Linie vom wirtschaftlichen Standpunkt aus an. Es gibt keine nationale Wirtschaft, sondern nur eine internationale, die die benachbarten Länder verbindet, und in diesem Sinne habe ich gesprochen.

Herriot: Ich verstehe wohl Ihre Gründe und Ihre Ergriffenheit und bin ebenso ernstlich wie Sie durchdrungen von der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Annäherung. Wir Politiker müssen aber darauf achten, daß Unvorsichtigkeiten nicht begangen werden. Eine solche Unvorsichtigkeit will ich vermeiden, die mein ganzes Werk stören würde.

Herr Marx hat heute anerkannt, daß die Räumung nicht sofort geschehen kann und daß eine Frist erforderlich ist. Eine solche vernünftige Frist habe ich vorgeschlagen. Ist diese Frist geeignet, um die Anleihe zu sichern? Der amerikanische Botschafter6 hat sich als Vermittler in dieser Frage erboten, wofür ich ihm dankbar bin. Er hat diese Frist als sehr verständig bezeichnet. Wenn ich morgen zurückkehre und habe die Entscheidung meines Kabinetts umgestoßen, dann riskiere ich, daß ich gestürzt werde; das macht nichts für mich aus, aber das ganze Werk stürzt zusammen. Ich spreche mit aller Ehrlichkeit, aber ein Jahr Maximum ist das Äußerste. Sie haben ein erkennbares Zeichen, aus dem das deutsche Volk die Überzeugung schöpfen kann, daß die Räumung tatsächlich erfolgen wird. Ich habe die Frist nicht an Zahlungen geknüpft, sondern nur an die Zeit. Ich schreibe Ihnen nichts vor, ich rate Ihnen nur: nehmen Sie meinen Vorschlag an, es ist eine „mesure de sagesse“. Wenn Sie mich veranlassen würden, von meinem Vorschlage abzugehen, dann würden Sie mich veranlassen, einen schweren Fehler zu begehen. Ich habe Tage und Nächte über die Angelegenheit nachgedacht. Haben Sie Vertrauen in das republikanische Frankreich, das ohne Haß- und Rachegedanken mit Deutschland zusammenleben will. Ich will nicht, daß Frankreichs Wohlfahrt sich auf Deutschlands Elend aufbaut. Aber wir müssen vorsichtig und langsam vorgehen, ebenso wie die Ärzte bei der Heilung von Krankheiten vorsichtige Maßregeln anwenden müssen. Sie befinden sich jetzt in einer Periode der Rekonvaleszenz.

In diesem Sinne habe ich meinen Vorschlag gemacht, und in diesem Sinne bitte ich Sie, ihn anzunehmen. Ich verstehe Ihre Wünsche und Bedenken, verstehen Sie bitte die meinen. Ich bin nicht hierher gekommen, um „bargains“ zu machen.

ReichskanzlerMarx: Mit einem großen Teil der Ausführungen des Herrn Herriot kann ich mich durchaus einverstanden erklären und bringe insbesondere dem letzten Teil dieser Ausführungen geradezu das Empfinden der Dankbarkeit und Sympathie entgegen; denn sie entsprechen der Auffassung des größten Teils des deutschen Volks, das eine Wiederannäherung wünscht. Auf der anderen Seite ist die Frage einer Verlängerung der Besetzung für ein ganzes Jahr von so schwerwiegender Bedeutung, daß wir Delegierten uns nicht in der Lage sehen, heute eine endgültige Antwort darauf zu geben. Wir müssen unter[1327] uns und mit dem Herrn Reichspräsidenten in Berlin Fühlung nehmen. Dabei muß ich es offen aussprechen, daß wir nicht geglaubt haben, daß wir einer so schweren Bedingung begegnen würden. Wir hatten bestimmt angenommen, daß ein viel kürzerer Zeitraum in Frage kommen würde.

Somit darf ich jetzt davon absehen, eine endgültige Antwort zu geben, werde aber die Entscheidung auf schnellstem Wege herbeiführen7.

Herriot: Ich verstehe durchaus die Bedenken des Herrn Reichskanzlers, und ich achte seine Beweggründe. Ich kann demgegenüber nur sagen, daß ich auf Grund der mir zuteil gewordenen Nachrichten geglaubt habe, daß die Frist von einem Jahr für die Deutsche Regierung annehmbar, ja sogar willkommen sein würde. Ich will aber keineswegs hier versuchen zu diktieren, und ich finde es ganz natürlich, daß die deutsche Delegation Bedenkzeit fordert.

Ich bitte Sie nur eindringlich zu erwägen, in welchem Geiste mein Vorschlag gemacht ist. Es ist der Ausdruck des Geistes des Friedens und des Wiederaufbaus.

Hymans: Meine Herren! Ich möchte nur einige kurze Worte hinzufügen. Ich habe mit tiefer Bewegung die Rede des Herrn Herriot und mit größter Aufmerksamkeit die Ausführungen der deutschen Herren angehört, und ich verstehe durchaus die schwierige Lage der deutschen Delegation. Aber ich glaube, daß, wenn dem deutschen Volke und dem Reichstag dargelegt wird, was hier in London geschehen ist und was man in der Frage der Durchführung des Dawes-Plans alles erreicht hat, der verständige Teil begreifen und würdigen wird, was für ein ungeheuerer Unterschied zwischen der heutigen Lage vorhanden ist und derjenigen, die noch vor kurzem bestand. Was bedeutet die Annahme des Berichts? Die steuerliche und wirtschaftliche Hoheit des Deutschen Reichs wird im ganzen Umfang wiederhergestellt. Alle strittigen Fragen werden durch Schiedsgericht geregelt, so daß in Zukunft Konflikte von vornherein ausgeschaltet bleiben. Das deutsche Volk aber kennt endlich einen gewissen Zeitpunkt, an dem das Ruhrgebiet geräumt werden soll. Soll das kein großer Fortschritt sein? Ich glaube, daß bei Aufklärung über diese Zusammenhänge das deutsche Volk und der deutsche Reichstag erkennen werden, welche großen Fortschritte erzielt sind. Es kann sich nicht alles von heute auf morgen ändern. Wir brauchen Zeit. Das aber, was erreicht ist, ist schon ein gutes Vorzeichen für die kommende Entwicklung, und wir dürfen zuversichtlich hoffen, daß die Zukunft eine bessere wird. Das müssen alle verständigen Menschen begreifen.

[Zum Schluß wird noch die Frage der Rückkehr der Ausgewiesenen erörtert.]

Fußnoten

1

Die Aufzeichnung ist undatiert und nicht unterzeichnet.

2

Vor dieser Besprechung war der dt. Delegation eine eigenhändige Niederschrift Herriots übermittelt worden, in der Herriot seinen Standpunkt zur Ruhrräumung formuliert hatte. S. Anhang, Dok. Nr. 1, Anm. 43.

3

Anhang, Dok. Nr. 4.

4

Anhang, Dok. Nr. 3.

5

„Übereinstimmung über Grundgedanken“ von Luther eigenhändig eingesetzt statt „Verständigung“.

6

Kellogg.

7

Zur Berichterstattung der dt. Delegation und zur Entscheidung des Kabinetts s. Dok. Nr. 274.

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