1.1.2 (ma31p): 2. Innenpolitik

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 21). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

Extras:

 

Text

2. Innenpolitik

Die Flaggenfrage war nach beendeter Regierungskrise für das neugebildete Kabinett Marx kein innenpolitisches Kampfobjekt mehr. Die Demokraten hatten bei ihrem Wiedereintritt in die Koalition zu erkennen gegeben, daß sie sich mit der Flaggenverordnung des Reichspräsidenten abfinden würden, und auch die Sozialdemokraten hielten sich in ihrer Opposition gegen die Verordnung nunmehr merklich zurück. Reichskanzler Marx konnte daher, ohne im Reichstag auf nennenswerten Widerspruch zu stoßen, in seiner kurzen, die Kontinuität des innen- und außenpolitischen Kurses betonenden Regierungserklärung vom 19. Mai 1926 konstatieren, daß der Flaggenerlaß selbstverständlich in Kraft bleibe und durchgeführt werde14. Der auf eine frühere Anregung Hindenburgs zurückgehende Plan, den unheilvollen Streit zwischen den Anhängern von Schwarz-rot-gold und Schwarz-weiß-rot durch die Schaffung einer neuen Reichsflagge („Einheitsflagge“) zu entschärfen, wurde vom Kabinett Marx zwar aufgegriffen, aber dilatorisch behandelt und nach einiger Zeit stillschweigend fallengelassen. Anscheinend hatte man sich von der Aussichtslosigkeit des Projekts überzeugt und wollte deswegen keinen neuen Konflikt riskieren15.

Im Mittelpunkt der innenpolitischen Auseinandersetzungen stand seit dem Beginn des Jahres 1926 der vermögensrechtliche Streit zwischen den Ländern und ihren ehemaligen Fürstenhäusern16. Im Verlauf der Kontroverse, die Parteien, Verbände und öffentliche Meinung stark bewegte, bildeten sich vornehmlich zwei von verschiedenen Parteigruppierungen getragene Konzepte für eine Lösung der komplexen Vermögensproblematik heraus: auf der einen Seite die von den Kommunisten und Sozialdemokraten verfochtene Radikallösung einer entschädigungslosen[XXI] Enteignung der Fürsten, die plebiszitär durch Volksbegehren und Volksentscheid durchgesetzt werden sollte, und andererseits der von den bürgerlichen Mittelparteien vertretene Gedanke einer Kompromißlösung im Wege parlamentarischer Gesetzgebung.

Nachdem zunächst die KPD die Initiative zu einem Volksbegehren ergriffen und die SPD sich vorwiegend aus parteitaktischen Gründen angeschlossen hatte, stellten Kommunisten und Sozialdemokraten Anfang Januar 1926 einen gemeinsamen Zulassungsantrag für ein Volksbegehren über einen Gesetzentwurf, der die Enteignung der Fürsten und ihrer Familien zugunsten der Erwerbslosen, Kriegsopfer, Sozialrentner, Inflationsgeschädigten und anderer notleidender Bevölkerungsgruppen vorsah. Das im März – auf dem Höhepunkt einer Wirtschaftskrise mit großer Arbeitslosigkeit – durchgeführte Volksbegehren brachte den Antragstellern mit 12,5 Millionen Unterschriften einen überraschenden Erfolg. Gemäß dem von der Reichsverfassung vorgeschriebenen Verfahren wurde das begehrte Enteignungsgesetz daraufhin dem Reichstag vorgelegt, der es Anfang Mai gegen die Stimmen von SPD und KPD ablehnte. Der nun fällige Volksentscheid wurde auf den 20. Juni festgesetzt.

In der von Befürwortern und Gegnern der Fürstenenteignung mit erheblichem Propagandaaufwand geführten Abstimmungskampagne hielt sich die Regierung Marx anfangs zurück, doch sah sie sich wegen der Anziehungskraft, die die Enteignungsparole auch auf Wähler der Regierungsparteien ausübte, bald zu deutlicher Stellungnahme gegen den Volksentscheid veranlaßt. In Erklärungen vor dem Reichstag und in der Presse brachte das Kabinett zum Ausdruck, daß die verlangte Konfiskation des gesamten Fürstenvermögens gegen die Verfassung verstoße und mit den Prinzipien des Privateigentumsschutzes und der Rechtsgleichheit unvereinbar sei17. Verschärft wurde der Abstimmungskampf durch einen veröffentlichten Brief des Reichspräsidenten an den Präsidenten des Reichsbürgerrats, v. Loebell, in dem Hindenburg die Enteignungsforderung als einen „sehr bedenklichen Vorstoß gegen das Gefüge des Rechtsstaats“, gegen die Grundlagen von Recht und Moral kritisierte. Der Brief provozierte scharfe Proteste der Kommunisten und Sozialdemokraten, die sich gegen die Einmischung und einseitige Parteinahme des Staatsoberhaupts wandten. Da auch der Vorwurf einer Verfassungsverletzung erhoben wurde, reagierte der Reichskanzler mit der Erklärung, es handle sich bei dem Hindenburg-Brief staatsrechtlich um eine der Gegenzeichnungspflicht nicht unterworfene persönliche Meinungsäußerung des Reichspräsidenten, deren Inhalt im übrigen mit der Auffassung der Regierung vollkommen übereinstimme18.

Kabinettsintern geäußerte Befürchtungen, der Volksentscheid könne mit einem Erfolg von SPD und KPD enden19, erwiesen sich als unbegründet. Am 20. Juni 1926 erhielt das verfassungsändernde Enteignungsgesetz bei weitem nicht die erforderliche Zustimmung der Mehrheit aller Stimmberechtigten. Die Tatsache aber, daß nicht weniger als 14,5 Millionen Jastimmen abgegeben wurden – das waren etwa vier Millionen mehr, als SPD und KPD bei den letzten Reichstagswahlen auf[XXII] sich vereinigen konnten –, ließ darauf schließen, daß den Initiatoren des Volksentscheids ein tiefer Einbruch in bürgerliche Wählerschichten gelungen war.

Das Gegenkonzept zum kommunistisch-sozialdemokratischen Enteignungsantrag bildete ein von den bürgerlichen Mittelparteien bereits im Frühjahr 1926 erarbeiteter Gesetzentwurf, der das Ziel verfolgte, die noch nicht erledigten Vermögensstreitigkeiten zwischen den Ländern und den Fürsten im Sinne eines rechtlich, finanziell und politisch vertretbaren Ausgleichs zu regeln. Dieser „Kompromißentwurf“ enthielt allgemeine Grundsätze über die Aufteilung der strittigen Vermögensobjekte, ferner über die den Fürsten zu gewährenden Kapitalabfindungen und Renten. Die letztinstanzliche Entscheidung der einzelnen Streitfälle nach Maßgabe dieser Grundsätze übertrug der Entwurf einem „Reichssondergericht“ unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten, dessen Mitglieder – vier Berufsrichter und vier Laien – vom Reichspräsidenten auf Vorschlag der Reichsregierung ernannt werden sollten. Der Entwurf des Fürstenabfindungsgesetzes war noch vom Kabinett Luther dem Reichsrat zugeleitet und von diesem am 14. Mai mit großer Mehrheit angenommen worden. Zu den zustimmenden Ländern gehörte auch Preußen, dessen Regierung den Entwurf als geeignete Basis für die Vermögensauseinandersetzung mit den Hohenzollern akzeptiert hatte.

Bei der ersten Lesung im Reichstag am 10. Juni erklärte Marx, daß die Regierung auf eine beschleunigte Beratung und Verabschiedung des Fürstenabfindungsgesetzes entschieden Wert lege und daß sie im Falle des Scheiterns der Vorlage „die ihr geboten erscheinenden Konsequenzen“ ziehen werde20. Der Entwurf war auf ausdrücklichen Wunsch des Reichspräsidenten und gemäß einem Rechtsgutachten des Reichsjustizministeriums als verfassungsändernd bezeichnet worden, mußte also vom Reichstag mit Zweidrittelmehrheit angenommen werden. Ein Vorschlag des Innenministers Külz, durch eine nachträgliche Änderung der Präambel den Entwurf als verfassungsgemäß zu deklarieren, um seine parlamentarischen Erfolgschancen zu verbessern, wurde vom Kabinett und den Koalitionsparteien wohl ernsthaft erwogen, aber nicht realisiert21. Das Fürstenabfindungsgesetz behielt seinen verfassungsändernden Charakter, und damit stand das Minderheitskabinett vor der Aufgabe, nicht nur die Sozialdemokraten zur Zustimmung zu bewegen, sondern auch die Billigung bzw. Stimmenthaltung von Teilen der deutschnationalen Fraktion zu erreichen, wenn die erforderliche Mehrheit zustande kommen sollte. Nach der bisherigen Einstellung der beiden großen Oppositionsparteien waren die Aussichten hierfür gering. Während der Beratungen im Rechtsausschuß und bei der zweiten Lesung im Reichstagsplenum, die Ende Juni stattfanden, beantragten sowohl die Deutschnationalen wie auch die Sozialdemokraten aus entgegengesetzten Motiven die Abänderung wichtiger Bestimmungen der Regierungsvorlage. Die DNVP forderte einschneidende Korrekturen im Interesse der Fürsten, die SPD verlangte dagegen zusätzliche Verbesserungen zugunsten der Länder sowie die Wahl des geplanten Reichssondergerichts durch den Reichstag.

Die Koalitionsfraktionen, die der SPD bereits in verschiedenen Punkten entgegengekommen waren, wollten substantielle Änderungen nicht mehr zulassen, doch[XXIII] blieb das Kabinett weiterhin um eine Verständigung vor allem mit den Sozialdemokraten bemüht. Man hoffte offenbar, daß die SPD nach dem negativen Ausgang des Volksentscheids und der Auflösung ihres widerwillig geschlossenen Bündnisses mit den Kommunisten doch noch auf den Boden des Fürstenabfindungsgesetzes treten werde, zumal die sozialdemokratisch geführte Preußenregierung die Verabschiedung des Gesetzes im eigenen Interesse befürwortete. Um die Bedenken der Sozialdemokraten gegen die Zusammensetzung des Reichssondergerichts zu zerstreuen, stellte Marx ihnen eine informelle Mitwirkung bei der Auswahl der Richter in Aussicht. Schließlich wurde auch die Möglichkeit einer Reichstagsauflösung ins Spiel gebracht, die den Sozialdemokraten, ganz im Gegensatz zur DNVP, zu diesem Zeitpunkt erwünscht gewesen wäre. Das Kabinett ermächtigte Marx, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Müller-Franken mitzuteilen, daß das Kabinett vom Reichspräsidenten die Auflösung des Reichstags erbitten und – bei Verweigerung der Auflösungsorder – demissionieren werde, falls „ungefähr 120 Sozialdemokraten“ bei der bevorstehenden Endabstimmung für den Regierungsentwurf über die Fürstenabfindung votierten und der Entwurf durch das Verhalten der DNVP zu Fall käme22.

Die Sondierungen und Angebote des Reichskanzlers waren indes vergeblich, denn am Vorabend der entscheidenden Reichstagssitzung beschloß die SPD-Fraktion mit 73 gegen 38 Stimmen, die Regierungsvorlage abzulehnen. Das Kabinett kam daraufhin zu der Überzeugung, daß angesichts der Unnachgiebigkeit der Sozialdemokraten und der Deutschnationalen sowohl eine Reichstagsauflösung wie auch ein Rücktritt der Reichsregierung zwecklos seien. In diesem Urteil wurde das Kabinett durch einen Brief Hindenburgs an den Reichskanzler bestärkt. Der drohenden Abstimmungsniederlage im Reichstag kam die Regierung zuvor, indem sie ihren chancenlosen Entwurf während der dritten Lesung am 2. Juli 1926 zurückzog, nachdem die Sprecher von SPD und DNVP den ablehnenden Standpunkt ihrer Fraktionen vorgetragen hatten23.

Damit war nicht nur der Versuch einer reichsgesetzlichen Regelung der Fürstenabfindung endgültig gescheitert, auch die Bestrebungen zur Bildung eines Kabinetts der Großen Koalition hatten einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Reichskanzler Marx und diejenigen Kräfte im Regierungslager, die sich für die Große Koalition engagiert hatten, waren über das intransigente Verhalten der SPD enttäuscht und sahen in der Ablehnung des Fürstenkompromisses den Beweis dafür, daß die Partei die Teilnahme an der Regierungsverantwortung nicht ernsthaft wolle. Auch für den kommenden Herbst und Winter rechneten Marx und die Regierungsparteien nicht mit der Möglichkeit einer Großen Koalition, eine Auffassung, die nach Pünders Feststellung auch von sozialdemokratischen Politikern wie dem preußischen Ministerpräsidenten Braun und dem Reichstagspräsidenten Löbe geteilt wurde. Da andererseits die – von Hindenburg favorisierte – Einbeziehung der Deutschnationalen in die Regierung beim Zentrum und der DDP nach wie vor[XXIV] auf Ablehnung stieß, richtete man sich darauf ein, die bestehende Minderheitskoalition der Mitte für längere Zeit fortzusetzen24.

Die Vermögensauseinandersetzung mit den ehemaligen Landesherren war nach dem fehlgeschlagenen Versuch einer reichsrechtlichen Regelung wieder den Ländern überlassen. Deren Position war jetzt insofern günstiger, als ein vom Reich im Februar 1926 erlassenes „Sperrgesetz“ die Fürsten daran hinderte, ihre Vermögensansprüche gegenüber den Ländern weiterhin mit Hilfe der Zivilgerichte durchzusetzen. Das Sperrgesetz wurde vom Reichstag zweimal bis Ende Juni 1927 verlängert, um beiden Parteien Gelegenheit zu geben, ihre noch nicht erledigten Streitigkeiten außergerichtlich im Wege des Vergleichs beizulegen25. Die preußische Regierung fand sich schon im Juli 1926 zur Aufnahme von Kompromißverhandlungen mit dem Bevollmächtigten des ehemaligen preußischen Königshauses bereit. Der Reichspräsident, der die Verhandlungen mit lebhaftem Interesse verfolgte, riet dem Vertreter der Hohenzollern zur Mäßigung, andererseits bat er den Reichskanzler, sich für eine entgegenkommende Haltung der Preußenregierung einzusetzen. Nach einer Mitteilung des Staatssekretärs Meissner erwog Hindenburg seinen Rücktritt für den Fall „einer zu starken Linksentwicklung des Kompromisses oder gar einer Enteignung“ der Hohenzollern. Dank der Konzessionsbereitschaft beider Seiten konnte bereits am 6. Oktober 1926 zwischen Preußen und dem vormaligen Königshaus ein Vertrag über die Vermögensauseinandersetzung unterzeichnet werden, den der preußische Landtag wenig später gegen die Stimmen der Kommunisten und bei Stimmenthaltung der Sozialdemokraten billigte26. Die meisten Länder, darunter auch die süddeutschen, hatten sich schon zu einem früheren Zeitpunkt mit ihren Fürsten geeinigt, nur in Thüringen, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und vor allem in Lippe mußte noch jahrelang mit den Fürstenhäusern verhandelt werden, bis auch hier eine abschließende Regelung des Vermögensstreites zustande kam27.

Im Gegensatz zur Auseinandersetzung über die Fürstenabfindung spielte sich ein verfassungspolitisch höchst bedeutsamer Vorgang fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ab: die Erörterung über einen vom Reichsinnenministerium vorbereiteten Entwurf für ein Ausführungsgesetz zu Artikel 48 der Reichsverfassung. Nachdem der Reichstag auf Antrag der SPD die Reichsregierung in einer Entschließung aufgefordert hatte, das in Art. 48 Abs. 5 vorgesehene Ausführungsgesetz vorzulegen, leitete Innenminister Külz einen Referentenentwurf im August 1926 den[XXV] nächstbeteiligten Ressorts als Diskussionsgrundlage zu. Der Entwurf schrieb u. a. für alle auf Art. 48 gestützten Verordnungen die Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder des Reichsinnenministers vor; auf Verlangen des Reichstags waren die getroffenen Maßnahmen „unverzüglich“ aufzuheben; vor Anordnung der Reichsexekution gegen ein unbotmäßiges Land sollte nach Möglichkeit der Staatsgerichtshof gutachtlich gehört werden, und bei Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes sollte stets ein ziviler Beauftragter neben den Militärbefehlshaber treten28.

Dieser Entwurf stieß bereits bei den zuständigen Ministerialbeamten der Reichskanzlei auf Kritik, zumal man hier den Einspruch des Reichspräsidenten und des Reichswehrministeriums erwartete29. Von Reichswehrminister Geßler wurde der Entwurf dann auch entschieden abgelehnt, weil er die Ermessens- und Handlungsfreiheit des Reichspräsidenten in unzulässiger bzw. unzweckmäßiger Weise beeinträchtige. Aus früheren Erfahrungen mit dem Notstandsartikel der Verfassung zog Geßler den Schluß, daß es nicht auf ein limitierendes Ausführungsgesetz ankomme, sondern vielmehr darauf, „durch eine Stärkung der Reichsgewalt in normaler Zeit der Notwendigkeit einer Anwendung des Artikel 48 das Wasser abzugraben“; die Möglichkeit hierzu biete die „Wiedervereinigung der Macht Preußens mit der Reichsgewalt“ sowie die „Verstärkung der präsidialen Gewalt“ nach dem Beispiel der amerikanischen Verfassung30. Auch Hindenburg wandte sich nachdrücklich gegen den von Külz vorgelegten Entwurf wie gegen jede „formalistische Festlegung“ oder gar Beschränkung der Präsidialrechte; die Vergangenheit habe gezeigt – so Hindenburg an Marx –, daß nicht die vom Vertrauen des Parlaments abhängige Reichsregierung, sondern nur der mit den Ausnahmebefugnissen des Art. 48 ausgestattete Reichspräsident in der Lage sei, in Zeiten von Unruhe und Aufruhr „durchzugreifen“ und die Staatsautorität wiederherzustellen; es wäre daher nicht zu verantworten, „daß diese für staatliche Notstandsfälle verfassungsmäßig vorgesehenen Sonderrechte des Reichsoberhaupts geschmälert, eingeengt oder in ihrer Ausübung beschränkt würden“. Von einer Einbringung des Entwurfs im Reichstag riet Hindenburg dringend ab, da dies zu schweren Konflikten führen würde und es schließlich acht Jahre ohne ein Ausführungsgesetz gegangen sei31.

Vor dieser eindeutigen Willensäußerung Hindenburgs, der sich selbst als „Hüter“ der im Art. 48 begründeten Rechte bezeichnete, wichen der Innenminister und der Kanzler zurück. Sowohl Külz wie auch Marx versicherten dem Reichspräsidenten, daß der Entwurf keineswegs dringlich sei und daß man natürlich keine Beeinträchtigung der Präsidialbefugnisse beabsichtige32. Damit war der Entwurf des Ausführungsgesetzes erledigt; er gelangte nie an den Reichstag und noch nicht einmal vor das Kabinett. Der Reichstag gab sich mit der vagen Mitteilung des Innenministeriums zufrieden, daß sich der Entwurf „in Vorbereitung“ befinde, und entwickelte in dieser Frage keine nennenswerte Initiative mehr.

[XXVI] Während der sog. Stabilisierungsphase des Weimarer Staates, in der sich die innenpolitischen Verhältnisse konsolidierten und die parlamentarische Gesetzgebungsmaschinerie leidlich funktionierte, ist von der Ermächtigung des Art. 48 bekanntlich nicht Gebrauch gemacht worden. Indes waren immer noch zahlreiche Präsidialverordnungen vorwiegend finanziellen und wirtschaftlichen Inhalts aus der Amtszeit Eberts in Kraft, die im Widerspruch zur ursprünglichen Intention des Art. 48 inzwischen den Charakter von gesetzlichen Dauerregelungen angenommen hatten, obwohl von einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung längst nicht mehr die Rede sein konnte. Da das Innenministerium deswegen verfassungsrechtliche Bedenken vorbrachte, hat sich sowohl das vierte Kabinett Marx wie auch das folgende Kabinett Müller II mehrfach mit der Frage der Aufhebung jener Verordnungen aus den Jahren 1920 bis 1924 beschäftigt. Das bemerkenswerte Ergebnis der Beratungen war, daß einige Verordnungen weiterhin in Kraft blieben, weil sie von der Mehrheit des Kabinetts für unentbehrlich gehalten wurden – etwa zur Bekämpfung der Steuersabotage und zur Abwendung von Streiks in lebenswichtigen Betrieben –, und weil eine baldige Umwandlung der Präsidialverordnungen in ordentliche Parlamentsgesetze bei den gegebenen Mehrheitsverhältnissen nicht erreichbar schien33. Gelegentlich haben der Reichspräsident und das Kabinett sogar den Erlaß neuer Verordnungen nach Art. 48 erwogen34. Wenn solche Überlegungen auch nicht in die Tat umgesetzt wurden, so blieb doch der Art. 48 auch während der verhältnismäßig ruhigen Jahre der Weimarer Republik im Kalkül der politisch Verantwortlichen ein stets griffbereites Instrument der Exekutive zur Behebung innenpolitischer, wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Notstände, insbesondere auch ein Instrument präsidialer Rechtsetzung für den Fall eines tatsächlichen oder vermeintlichen Versagens des parlamentarischen Gesetzgebers.

Fußnoten

14

RT-Bd. 390, S. 7321  f.

15

Dok. Nr. 16, P. 2; 17 a.

16

Vgl. diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, S. LXIII f.; Schüren, Der Volksentscheid zur Fürstenenteignung 1926; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S. 577 ff., 590 ff.; Winkler, Der Schein der Normalität, S. 270 ff.

17

Dok. Nr. 17 b; 20, Anm. 1; 27, P. 4.

18

Dok. Nr. 19, P. 2; 20, P. 2.

19

Dok. Nr. 16, P. 1.

20

Dok. Nr. 20, Anm. 1.

21

Dok. Nr. 1, P. 1 a; 16, P. 1; 17 b; 29, P. 1.

22

Dok. Nr. 38, P. 1; 43, P. 3; 47.

23

Dok. Nr. 48.

24

Dok. Nr. 64; 71.

25

Dok. Nr. 30, P. 1; 45, P. 1; 124, P. 4; 152, P. 3; 249, P. 3 a; 259, P. 6; 262, P. 1.

26

Dok. Nr. 78.

27

Dok. Nr. 246, P. 2 a; 249, P. 3 a. – Einen Sonderfall der Fürstenabfindung bildete die Regelung der Staatsrenten der bis 1866 depossedierten und mediatisierten Fürsten, Grafen und Herren. Diese älteren landes- und standesherrlichen Renten, die für den Verlust von Hoheitsrechten, Privilegien, Einkünften und Grundbesitz gewährt worden waren, hatten die Revolution von 1918 und die Inflation überdauert und wurden nach der Währungsstabilisierung von seiten der Rentenberechtigten den Ländern zur Aufwertung präsentiert. Auf Drängen der preußischen Regierung erstellte das Kabinett Marx IV im Jahre 1927 den Entwurf eines Reichsgesetzes über die Aufwertung und Ablösung der sog. Standesherrenrenten. Nach langwierigen parlamentarischen Verhandlungen, in deren Verlauf die Fassung des Entwurfs mehrfach geändert wurde, konnte das „Gesetz zur Regelung älterer staatlicher Renten“ Ende 1929 verabschiedet werden. Siehe Dok. Nr. 239; 249, P. 3 b; 256, P. 4; 265; 278, P. 3; 279, P. 6; 384, P. 1.

28

Dok. Nr. 70.

29

Dok. Nr. 70, Anm. 12; Nr. 80.

30

Dok. Nr. 116.

31

Dok. Nr. 122.

32

Dok. Nr. 122, Anm. 3 und 7.

33

Dok. Nr. 439, P. 1; 444, P. 2; 449, P. 2; Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 14, P. 6; Nr. 126, P. 1 und 2.

34

Dok. Nr. 68, P. 3; 458, P. 1; 465; Schreiben Hindenburgs an Marx vom 4.2.27, in: Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 58, S. 266 ff.

Extras (Fußzeile):