1.2.1 (ma31p): 1. Kabinettsbildung

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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1. Kabinettsbildung

Bei den Parteien, die das bisherige Kabinett getragen hatten, herrschte in der Frage der Regierungsneubildung Unsicherheit und Ratlosigkeit. Nur darüber bestand weitgehend Übereinstimmung, daß die Sozialdemokratie durch ihr Mißtrauensvotum und die Scheidemannrede sich als potentielle Regierungspartei disqualifiziert habe und daß infolgedessen das Projekt der Großen Koalition auf absehbare Zeit erledigt sei. Der Konflikt zwischen der SPD und den Mittelparteien bot den Deutschnationalen unter der Führung Graf Westarps die erwünschte Gelegenheit, nunmehr energisch ihre Wiederaufnahme in das Kabinett zu betreiben, das sie im Oktober 1925 wegen ihrer Opposition gegen den Locarno-Vertrag verlassen hatten. Sie gaben zu erkennen, daß sie zu erheblichen Zugeständnissen bereit seien und einen Kanzler sowohl aus den Reihen der DVP wie auch des Zentrums oder der BVP akzeptieren würden. Bei ihren Bemühungen um Regierungsbeteiligung konnte die DNVP auf die Unterstützung des Reichspräsidenten rechnen, der auf die sozialdemokratische Attacke gegen die Reichswehr mit Empörung reagiert hatte. Bereits in den ersten Besprechungen mit den Fraktionen unmittelbar nach der Demission des Kabinetts versuchten Hindenburg und seine Berater, die Weichen für einen koalitionspolitischen Rechtskurs zu stellen. Als optimale Lösung schwebte Hindenburg eine bürgerliche Mehrheitsregierung vom Zentrum bis zur DNVP vor; als Notlösungen erwog er eine vom Zentrum tolerierte Minderheitsregierung der Rechten sowie ein mit der Auflösungsorder ausgestattetes „Beamtenkabinett“. Auf Anraten der Parteiführer wurden die Koalitionsverhandlungen jedoch bis zum Wiederzusammentritt der Fraktionen nach der Weihnachtspause vertagt94.

Bei diesen Verhandlungen mußte vor allem dem Zentrum und der DVP eine Schlüsselrolle zufallen. In der Volkspartei gewannen diejenigen Kräfte zunehmend die Oberhand, die seit längerem eine Koalition der Mittelparteien mit den Deutschnationalen propagierten. Auch im Zentrum gab es Politiker, die sich wie Kaas und Brüning für die Einbindung der gemäßigten Rechten in die Regierungsverantwortung einsetzten; doch auf dem linken Zentrumsflügel, bei den entschiedenen Republikanern um Joseph Wirth und innerhalb der christlichen Gewerkschaften stieß der Gedanke einer „Bürgerblock“-Regierung auf scharfe Ablehnung, da man als Folge eine Rechtsentwicklung des Zentrums, eine Verschärfung der sozialdemokratischen Opposition und den Verlust katholischer Arbeiterwähler an die Linke befürchtete. Angesichts des starken innerparteilichen Widerstandes gegen eine Verbindung mit der DNVP sah sich die Zentrumsführung zu vorsichtigem Vorgehen veranlaßt. Sie scheint zunächst gehofft zu haben, daß der von Hindenburg geförderte Plan einer Rechtserweiterung der Koalition fehlschlagen und daß es bei geschicktem Taktieren am Ende gelingen werde, das soeben gestürzte Minderheitskabinett der Mitte – wenn auch in anderer personeller Zusammensetzung – wiederaufleben zu lassen. Eine solche Lösung würde, wie Pünder in seinem Bericht an Marx von Ende 1926 meinte, der traditionellen Zentrumspolitik „eines verständigen Ausgleichs auf mittlerer Linie“ noch am ehesten gerecht werden95.

Am 10. Januar 1927 wurde der volksparteiliche Wirtschaftsminister Curtius von Hindenburg mit Sondierungen über die Bildung einer gesamtbürgerlichen Regierung beauftragt. Curtius scheiterte bereits nach vier Tagen am Widerspruch des Zentrums, das die Führung der Koalition nicht der DVP überlassen wollte und gegen die beabsichtigte Einbeziehung der DNVP innen- und außenpolitische Bedenken anmeldete. Ein Beschluß der Zentrumsfraktion bezeichnete die Wiederherstellung des Kabinetts der Mitte als „den gegebenen Weg zur Beilegung der Krise“96. In dieser Situation hat Stresemann in einem Brief an Marx zu bedenken gegeben, daß die Ablehnung von Koalitionsgesprächen mit der DNVP die Gefahr einer Reichstagsauflösung heraufbeschwöre. Zugleich nannte er eine Reihe von Bedingungen, unter denen ihm eine Regierungsbeteiligung der DNVP tragbar schien: Falls es gelänge, so argumentierte der Außenminister, von den Deutschnationalen verläßliche Garantien für die Verteidigung der republikanischen Verfassung und für die bruchlose Fortsetzung des bisherigen außenpolitischen Kurses zu erlangen,[XLVII] so könne dies immerhin als Beweis für die Konsolidierung der Republik gewertet werden97. Eine für den weiteren Gang der Verhandlungen bedeutsame Vorentscheidung fiel in einer Unterredung des Reichspräsidenten am 14. Januar mit v. Guérard und Brauns, in der die beiden Zentrumspolitiker auf eine entsprechende Frage Hindenburgs erklärten, daß das Zentrum schließlich auch eine Koalition mit den Deutschnationalen eingehen werde, wenn ihm das Kanzleramt zufalle und wenn zuvor die Aussichtslosigkeit einer Minderheitsregierung der Mittelparteien einwandfrei festgestellt worden sei98.

Reichskanzler Marx, am 15. Januar mit Sondierungen über die Möglichkeit eines solchen Minderheitskabinetts beauftragt, scheiterte sehr bald an den gegensätzlichen Auffassungen der von ihm befragten Parteien. Während die DDP-Vertreter für eine Kooperation der Mitte mit den Sozialdemokraten plädierten, lehnte Scholz als Unterhändler der DVP jede Bindung an die Linke als indiskutabel ab und bestand auf einem Bündnis mit der DNVP, von der Scholz annahm, daß sie sich notfalls mit der Entsendung eines „Vertrauensmannes“ in das Kabinett zufrieden geben würde. Graf Westarp teilte Marx mit, die Deutschnationalen seien zur Zusammenarbeit mit den anderen bürgerlichen Fraktionen bereit, „aber nur in der festen Form einer Rechtsmehrheitsregierung“; ein Minderheitskabinett der Mitte würde die DNVP keinesfalls unterstützen. Den Besprechungen, die Marx mit Hermann Müller-Franken über die Tolerierung einer bürgerlichen Minderheitsregierung durch die Sozialdemokraten führte, kam unter diesen Umständen nur mehr eine Alibifunktion zu, konnte doch Marx der SPD keinerlei Gegenleistungen als Preis für die Tolerierung in Aussicht stellen, vor allem nicht die Ablösung Geßlers als Reichswehrminister, die von der SPD verlangt, aber gerade deshalb von Hindenburg und der DVP beharrlich verweigert wurde. Am 20. Januar gab Marx seinen Sondierungsauftrag zurück99.

Die letzte Verhandlungsphase wurde eingeleitet durch ein – von Meissner und Pünder vorbereitetes – Schreiben Hindenburgs an Marx vom 20. Januar, in dem der Kanzler ersucht wurde, nunmehr beschleunigt ein arbeitsfähiges Kabinett „auf der Grundlage einer Mehrheit der bürgerlichen Parteien“ zu bilden. Gleichzeitig appellierte Hindenburg an die für die Regierungsbildung in Frage kommenden Reichstagsfraktionen, alle Bedenken und Meinungsverschiedenheiten „im Interesse des Vaterlandes beiseite zu stellen“; die neue Regierung solle, „wenn ihr auch Vertreter der Linksparteien nicht angehören, dennoch die besondere Pflicht haben, in gleicher Weise wie andere Staatsnotwendigkeiten die berechtigten Interessen der breiten Arbeitermassen zu wahren“100. Dieser Appell des Reichspräsidenten, der in erster Linie darauf hinzielte, die Abneigung des linken Zentrumsflügels gegen eine Mitte-Rechts-Koalition zu überwinden, verfehlte seine Wirkung nicht. Nachdem die Zentrumsfraktion ihre politischen Ziele in einem der Öffentlichkeit übergebenen „Manifest“ präzisiert hatte, ermächtigte sie Marx zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen in der von Hindenburg gewiesenen Richtung. Als Verhandlungsgrundlage[XLVIII] stellte Marx im Einvernehmen mit seiner Fraktion besondere „Richtlinien“ auf, die die Kontinuität der Innen- und Außenpolitik auch in einem nach rechts erweiterten Kabinett sichern und vor allem ein verfassungs- und vertragskonformes Verhalten der Deutschnationalen als künftiger Regierungspartei gewährleisten sollten. Zu diesem Zweck verlangten die Richtlinien u. a. die Anerkennung der Rechtsgültigkeit der verfassungsmäßigen republikanischen Staatsform, den Schutz der Verfassung und der Reichsfarben gegen Verunglimpfungen und rechtswidrige Angriffe, die Fortführung der bisherigen Außenpolitik im Sinne gegenseitiger friedlicher Verständigung auf der Basis des Locarno-Vertrags und der loyalen Mitarbeit im Völkerbund; des weiteren enthielten die Richtlinien Leitsätze über die Reichswehrpolitik, den Erlaß eines Reichsschulgesetzes und den Ausbau der Sozialpolitik. Bereits am 26./27. Januar stimmten die Verhandlungsführer der DNVP den Richtlinien und einem vertraulichen Zusatzprotokoll zu, desgleichen die Vertreter des Zentrums, der DVP und der BVP. Dagegen erklärte die DDP, daß sie sich an der geplanten Koalition nicht beteiligen werde, da die Richtlinien in ihrem schulpolitischen Teil einseitig die Konfessionsschule begünstigten und weil eine angemessene Vertretung der DDP im künftigen Kabinett nicht gewährleistet sei. Zwischen den verbliebenen Koalitionsparteien entbrannte nach der programmatischen Einigung ein heftiger Streit um die Verteilung und Besetzung der Ministerposten, wobei sich im wesentlichen der Standpunkt des Zentrums durchsetzte. Die DVP mußte trotz heftigen Sträubens das bisher von ihr besetzte Verkehrsministerium an die DNVP abtreten, und die DNVP war wegen des energischen Einspruchs von Marx und Stresemann gezwungen, die von ihr präsentierte Ministerkandidatur des dem völkischen DNVP-Flügel angehörenden Abgeordneten Graef zurückzuziehen101.

Die Amtszeit des Kabinetts Marx IV begann am 29. Januar 1927 mit der Ernennung des Kanzlers und von acht Ministern; die Ressorts für Inneres und Justiz konnten wegen der anhaltenden Personalquerelen mit der DNVP erst zwei Tage später besetzt werden. In diesem Kabinett waren die Deutschnationalen als stärkste Koalitionsfraktion mit vier Ministern vertreten, die alle dem gemäßigten Flügel ihrer Partei angehörten: Oskar Hergt, 1917 / 18 letzter königlich-preußischer Finanzminister und von 1918 bis 1924 Vorsitzender der DNVP, wurde zum Reichsjustizminister und Vizekanzler ernannt; die Leitung des Innenministeriums übernahm der Landrat a. D. und Rittergutsbesitzer Walter v. Keudell; Martin Schiele, vormals Innenminister im Kabinett Luther I und führender Landbundvertreter, trat an die Spitze des Ernährungsministeriums; Verkehrsminister wurde das Vorstandsmitglied der christlichen Eisenbahnergewerkschaft und der evangelischen Arbeitervereine Wilhelm Koch. Das Zentrum stellte mit Marx den Kanzler, der in Personalunion das Ministerium für die besetzten Gebiete verwaltete, sowie mit Brauns wiederum den Arbeitsminister; außerdem fiel dem Zentrum der wichtige Posten des Reichsfinanzministers zu, auf den es den langjährigen badischen Finanzminister Köhler berief. Die Deutsche Volkspartei war im Kabinett nur noch durch Außenminister Stresemann und Wirtschaftsminister Curtius vertreten. Die Bayerische Volkspartei besetzte das Amt des Postministers mit Georg Schätzel, dem bisherigen Leiter der[XLIX] Münchener Abteilung des Postministeriums. Wehrminister Geßler war, um dem Kabinett weiterhin angehören zu können, aus der DDP ausgetreten, nachdem die Demokraten sich gegen eine Regierungsbeteiligung ausgesprochen hatten102.

Die Vorstellung des neuen Kabinetts im Reichstag verlief nicht ohne Mißtöne. Bei der Debatte im Anschluß an die Regierungserklärung des Kanzlers103 bekundeten die Koalitionsparteien wohl ihren Willen zur Zusammenarbeit, zugleich traten jedoch die innerhalb der Koalition bestehenden politischen und ideologischen Differenzen deutlich in Erscheinung. So betonte Scholz die besonderen Vorbehalte der DVP zum angekündigten Reichsschulgesetz, und Graf Westarp glaubte hervorheben zu müssen, daß die Anerkennung der republikanischen Verfassung durch die Deutschnationalen nicht gleichbedeutend sei mit einem „Gesinnungsbekenntnis“ zur Republik und mit der Preisgabe monarchistischer Überzeugungen. Die Reden von Westarp und Scholz veranlaßten den Zentrumssprecher v. Guérard zu einer scharfen Erwiderung. Bei der Abstimmung über den Antrag, der Regierung das Vertrauen auszusprechen, demonstrierte die Koalition hingegen Einigkeit; der Antrag wurde mit der klaren Mehrheit von 235 gegen 174 Stimmen angenommen104. Als einziger Abgeordneter der Koalitionsfraktionen stimmte der ehemalige Reichskanzler und prominente Zentrumsabgeordnete Joseph Wirth mit der Opposition und verweigerte damit der von ihm auch weiterhin bekämpften „Bürgerblock“-Regierung ostentativ das Vertrauen105. Zu einem für das Kabinett peinlichen Zwischenfall kam es, als von den Sozialdemokraten und Kommunisten eine Reihe schwerwiegender Vorwürfe gegen den deutschnationalen Innenminister v. Keudell erhoben wurden; u. a. wurde ihm vorgehalten, er habe während der Zeit des Kapp-Putsches als damaliger Landrat die Anordnungen der Putschisten befolgt. Marx verhinderte einen Eklat, indem er die Prüfung der Angelegenheit sogleich persönlich in die Hand nahm und als Ergebnis seiner Untersuchung dem Parlament mitteilte, daß die Anschuldigungen gegen Keudell „wegen rechtswidrigen Verhaltens in der Vergangenheit nicht berechtigt“ seien. Keudell selbst versicherte vor dem Reichstag unter Hinweis auf den von ihm geleisteten Eid, daß er seine Pflichten als Verfassungsminister der Republik gewissenhaft erfüllen wolle. Daraufhin wurden die von der Opposition gegen den Innenminister eingebrachten Mißtrauensanträge abgelehnt106.

Fußnoten

94

Dok. Nr. 162, P. 8. Zu den Verhandlungen über die Kabinettsbildung vgl. Stürmer, Koalition und Opposition, S. 179 ff.; Haungs, Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung, S. 122 ff.; v. Hehl, Wilhelm Marx, S. 394 ff.

95

Dok. Nr. 164.

96

Zu den Sondierungen von Curtius siehe die in Anm. 3 zu Dok. Nr. 167 angegebenen Quellen.

97

Dok. Nr. 167.

98

Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 55.

99

Dok. Nr. 168, 169, 171, 172.

100

Dok. Nr. 170 und 173.

101

Dok. Nr. 176 und 177.

102

Im Januar 1928 wurde RWeM Geßler durch Groener ersetzt; siehe S. LI f.

103

Siehe RT-Bd. 391, S. 8791  ff.

104

Zum Abstimmungsergebnis siehe RT-Bd. 391, S. 8890  ff. – Die Regierungskoalition verfügte im Reichstag über 249 von 493 Abgeordnetenmandanten; vgl. Politisches Jahrbuch 1927 / 28, S. 99.

105

Vgl. Becker, Joseph Wirth und die Krise des Zentrums, S. 375 ff.

106

Dok. Nr. 182, P. 3; 183; 184.

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