2.216.1 (mu21p): 1. Deutsch-polnische Handelsvertragsverhandlungen.

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1. Deutsch-polnische Handelsvertragsverhandlungen.

Der Reichsminister des Auswärtigen knüpfte an die am Vortage geführten Beratungen des Reichskabinetts über den gleichen Gegenstand an1. Er erinnerte daran, daß sich das Kabinett dahin schlüssig geworden sei, daß die weiteren Verhandlungen mit Polen kontinuierlich geführt werden müßten und zwar in Warschau. Minister Hermes habe, als er von diesem Beschluß erfahren habe, erklärt, daß er sachlich auf einem anderen Standpunkt stehe als das Reichskabinett und daß er den Wunsch habe, seine abweichende Meinung vor den Ministern zu vertreten.

Minister a. D. Hermes sprach seinen Dank dafür aus, daß ihm Gelegenheit zur Vertretung seines Standpunktes gegeben worden sei. Er bemerkte, daß ihn der Beschluß des Reichskabinetts über die Art und Weise der Fortsetzung der deutsch-polnischen Handelsvertragsverhandlungen überrascht habe, da er im Widerspruch zu einem am 4. Mai im Handelspolitischen Ausschuß der Reichsregierung gefaßten Beschluß stehe2. Im Handelspolitischen Ausschuß sei man nämlich nach eingehender Aussprache einmütig zu dem Ergebnis gekommen, daß mit Polen zunächst in Warschau die Frage der Schweine zu Ende beraten würde, daß dann aber die weiteren Verhandlungen nach Berlin verlegt werden sollten. Er könne nicht zugeben, daß das, was mit Polen noch zu erledigen sei, nur noch Schlußverhandlungen seien. Gewiß wolle Polen mit Deutschland zu einem Vertragsschluß kommen, jedoch sei Polen für einen annehmbaren Vertrag noch nicht reif. Zur Zeit liege das Schwergewicht der Verhandlungen auf dem Gebiet der industriellen Wünsche. Was Polen hier an Konzessionen biete, sei durchaus unzulänglich. Obendrein seien die wenigen Konzessionen, die es biete, noch an unerfüllbare Agrarforderungen geknüpft. Er nenne hier nur die unmögliche Forderung der Einfuhr von Rindfleisch. Sachlich sei er der Überzeugung, daß die Verhandlungen mit Polen mit Ruhe und Festigkeit weiterzuführen seien. Auch von den bisherigen Verhandlungen könne man nicht sagen, daß sie deutscherseits dilatorisch geführt worden seien. Alle Verzögerungen gingen auf das Konto der Polen. Wenn man jetzt dränge, müsse man entweder den Zollkrieg abbauen oder sich mit einem ungünstigen Handelsvertrag[705] begnügen. Dies sei seine Überzeugung, von der er nicht abgehen könne. Diese Auffassung habe auch der Handelspolitische Ausschuß gebilligt, und ferner habe auch der Handelspolitische Ausschuß es einmütig für richtig gehalten, daß die Fortsetzung der Verhandlungen nach Erledigung der Schweinefrage in Berlin stattzufinden habe3. Wenn die Reichsregierung jetzt darauf bestehen sollte, von ihm zu verlangen, daß er sich zur Fortsetzung der Verhandlungen auf mehrere Monate ununterbrochen nach Warschau begebe, so müsse er zu seinem Bedauern erklären, daß er hierzu nicht in der Lage sei, einmal, weil er den Beschluß sachlich für verfehlt halte, ferner auch, weil er mit Rücksicht auf seine anderen Aufgaben unmöglich so lange dauernd von Berlin fortbleiben könne. Persönlich hänge er nicht an seinem Amt, gleichwohl bitte er das Reichskabinett, den gefaßten Beschluß nochmals zu überprüfen, andernfalls werde er sich leider zu der Bitte genötigt sehen, ihn von seinem Amt zu entbinden, was er aus sachlichen Gründen überaus bedauern werde. Er beabsichtige, an den polnischen Verhandlungsführer v. Twardowski einen Brief zu schreiben, in dem er ihm seine Bereitwilligkeit ankündige, die Industriebesprechungen in der Zeit vom 16. Juni bis 21. Juni in Warschau wieder aufzunehmen.

Minister Hermes brachte den Entwurf dieses Briefes zur Verlesung. Er schließt mit dem Satz „gleichzeitig würde ich es begrüßen, wenn Euer Exzellenz in der Lage wären, mir eine Mitteilung über die allgemeine Fortführung der weiteren Verhandlungen zu machen.“ Minister Hermes stellte anheim, ihn zur Absendung dieses Briefes zu ermächtigen.

Der Herr Reichskanzler erwiderte, es sei kein Zweifel, daß durch die bisherigen Verhandlungen auf einer Reihe von Gebieten Fortschritte erzielt seien. Deutschland sei stets bereit gewesen, mit den Polen in ruhiger und fester Form weiterzuverhandeln. Jetzt sei aber der Zeitpunkt gekommen, wo über die Möglichkeit eines Vertragsabschlusses auf breiter Basis Klarheit geschaffen werden müsse. Die Polen müßten vor die Frage gestellt werden, ob sie einen Vertrag wollten oder nicht. Bei der von Polen unternommenen diplomatischen Demarche sei Einverständnis darüber erzielt worden, daß die weiteren Verhandlungen kontinuierlich geführt werden sollten. Die polnischen Verhältnisse und die Abhängigkeit der polnischen Unterhändler von ihren Heimatsbehörden brächten es mit sich, daß die Verhandlungen nur in Warschau selbst gefördert werden könnten. Er bat den Minister Hermes, nochmals zu prüfen, ob er nicht doch mit Warschau als Verhandlungsort einverstanden sei, damit in der Sache selbst[706] Klarheit geschaffen werde. Einen Wechsel in der Person des deutschen Verhandlungsführers wünsche das Kabinett keinesfalls.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte aus, daß sich bei der polnischen Demarche ergeben habe, daß Polen selbst in der Sache vorwärts wolle und sich zu diesem Zweck bereit erklärt habe, soweit nötig während des ganzen Sommers weiterzuverhandeln4. Es gebe also nur zwei Möglichkeiten, entweder suche Polen einen Vorwand zum Abbruch der Verhandlungen oder Polen wünsche einen positiven Abschluß der Verhandlungen, wobei klar sei, daß die Verhandlungen noch einige Monate andauern müßten. Wenn deutscherseits jetzt nicht kontinuierlich weiterverhandelt werde, werde man uns die Schuld für die Stockung in den Verhandlungen zumessen. Die deutsche Industrie habe jedoch ein überaus lebhaftes Interesse daran, das polnische Geschäft zu forcieren. Es sei durchaus zuzugeben, daß zur Zeit die Schwierigkeiten der Verhandlungen mit Polen weniger bei den Agrarfragen als bei den Industriefragen lägen. Die nächsten Monate müßten darum in erster Linie für die Bereinigung der Industriefragen verwendet werden, und zwar müsse man ohne Drängen auf Ja oder Nein verhandeln, damit die für die Wirtschaft unerträgliche Unsicherheit schwinde. Bei den polnischen Verhältnissen sei sachlich auch nur dann etwas zu erreichen, wenn die Verhandlungen selbst in Warschau geführt würden.

Ministerialdirektor Dr. Ritter machte anschließend Ausführungen über die Verhandlungen im Handelspolitischen Ausschuß, von denen Minister a. D. Hermes gesprochen hatte. Schon damals habe das zur Erörterung stehende Thema dahin gelautet:

1. Kontinuierliche Verhandlungen,

2. Warschau als Verhandlungsort. Allerdings habe man sich auf Grund der Aussprache schlecht und recht damit abgefunden, Berlin als Verhandlungsort in Aussicht zu nehmen. Dabei sei man jedoch von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Verhandlungen sofort wieder aufgenommen und energisch in Warschau begonnen würden. Diese Voraussetzungen hätten sich jedoch nicht erfüllt. Zudem habe Deutschland stets die Erfahrung gemacht, daß unsere Delegationen bei Verhandlungen am Orte des Vertragsgegners besser und schneller zum Ziele kommen. Was die Frage der Kontinuität der Verhandlungen anlange, so könne gesagt werden, daß die Verhandlungsmaterie auf 50–60% festliege. Jetzt komme es in erster Linie darauf an, das noch bestehende Nebelbild klarer zu umreißen. Dies werde nur gelingen, wenn man Monate lang am Feinde bleibe. Ein Beweis, daß man mit kontinuierlichen Verhandlungen zu einem positiven Ergebnis kommen werde, sei allerdings nicht zu führen. Er persönlich sei jedoch der Überzeugung, daß man in drei Monaten mit den Verhandlungen fertig sein könne.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft gab zu bedenken, daß ein etwaiger Wechsel in der Person der Verhandlungsführer sachlich unerwünschte[707] Rückwirkungen auf die Verhandlungen haben würde. Polen werde einen Wechsel in der Person des Verhandlungsleiters sicherlich dahin interpretieren, daß Deutschland die Agrarfragen jetzt vernachlässigen wolle. Aus diesem Grunde rate er zur Vorsicht und zur Beibehaltung von Minister Hermes als Verhandlungsführer. Auch der Reichsminister der Justiz führte aus, daß ein Wechsel in der Person des Verhandlungsleiters innerpolitisch sehr schwer tragbar sein werde. Im übrigen glaube er, Minister Hermes dringlichst nahelegen zu sollen, nochmals zu prüfen, ob er nicht doch kontinuierlich und zwar in Warschau weiterverhandeln könne.

Der Reichswirtschaftsminister stellte an Minster Hermes die Frage, ob er nicht wenigstens den Versuch machen wolle, sich auf mehrmonatige Verhandlungen in Warschau einzustellen unter Zurückstellung anderer Interessen.

Minister Hermes erwiderte, daß bei ihm nie der Gedanke maßgebend gewesen sei, die Polen unter allen Umständen zu Verhandlungen in Berlin zu bewegen. Nachdem sich die Verhandlungen aber so lange hingezögert hätten, habe er es für durchaus billig gehalten, von dem Passus im Stresemann-Jackowski-Übereinkommen Gebrauch zu machen, wonach die Verhandlungen sowohl in Warschau wie auch in Berlin geführt werden sollen5. Wenn die Reichsregierung ihm daher die Beibehaltung seines Amtes nicht unmöglich machen wolle, müsse ihm gestattet sein, wenigstens vorübergehend auf etwa vier Wochen in Berlin zu verhandeln, um dann wieder nach Warschau zu gehen. Abschließend stellte der Herr Reichskanzler als Ergebnis der Aussprache fest:

1. daß das Reichskabinett mit der von Minister Hermes beabsichtigten brieflichen Anfrage bei dem polnischen Verhandlungsführer v. Twardowski über die allgemeine Fortführung der weiteren Verhandlungen einverstanden ist,

2. daß das Reichskabinett an dem früheren Beschluß über die Notwendigkeit kontinuierlicher Verhandlungen festhält,

3. daß die Verhandlungen zunächst wie bisher in Warschau fortzuführen sind,

4. daß das Reichskabinett von dem Wunsch des Ministers Hermes, die Verhandlungen zeitweise nach Berlin zu verlegen, Kenntnis genommen hat,

5. daß das Reichskabinett auf seinen, des Reichskanzlers Vorschlag es für richtig gehalten hat, die Frage der zeitweisen Verlegung der Verhandlungen nach Berlin im Augenblick nicht zu vertiefen, sie vielmehr zurückzustellen, bis die Antwort auf den von Minister Hermes an v. Twardowski gerichteten Brief vorliegt.

Fußnoten

1

Siehe Dok. Nr. 214, P. 2.

2

Vgl. zum Kabinettsbeschluß Dok. Nr. 214, P. 2.

3

Diese Ansicht hatte Hermes dem RAM bereits am 28. 5. vorgetragen. Abweichend hiervon hatte MinDir. Ritter gegenüber Stresemann ausgeführt: „[…] es sei richtig, daß vor einigen Wochen der HPA, auf den Hinweis von Hermes, daß es ihm unmöglich sei, die Verhandlungen in Warschau fortzuführen, sich auf eine Anregung von Posse hin in einem gewissen Moment schlecht und recht damit abgefunden hat, daß der Versuch gemacht werden solle, die Polen zur Fortsetzung der Verhandlungen in Berlin zu veranlassen. Eine Genugtuung habe der HPA darüber nach seinem Eindruck nie empfunden, sondern dies als einen unvermeidlichen Notbehelf angesehen. Es haben sich auch sofort nachher bei den Herren des HPA Bedenken dagegen geltend gemacht, und es ist heute allgemeine Auffassung im HPA, daß es falsch wäre, die Verhandlungen nach Berlin zu verlegen“ (Vermerk vom 28. 5.; R 43 I /1108 , Bl. 153-155).

4

Der Wunsch nach kontinuierlichen Verhandlungen auf Basis der Verhandlungen, die mit dem Gesandten Rauscher geführt worden seien, war vom Gesandten Knoll dem RAM am 29. 5. vorgetragen und durch ein Telgramm Rauschers bestätigt worden (Vermerk Stresemanns vom 29. 5.; Telegr. Nr. 82 vom 30. 5.; R 43 I /1108 , Bl. 152, 156 f.).

5

Diese Absicht war in Punkt 4 des Abschnitts III im Vertrag vom 23.11.27 festgelegt worden (R 43 I /1107 , Bl. 25-27).

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