2.256 (mu21p): Nr. 256 Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an das Auswärtige Amt, den Reichsminister der Finanzen, den Reichswirtschaftsminister, den Staatssekretär in der Reichskanzlei. 23. Juli 1929

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[833] Nr. 256
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an das Auswärtige Amt, den Reichsminister der Finanzen, den Reichswirtschaftsminister, den Staatssekretär in der Reichskanzlei. 23. Juli 1929

R 43 I /294 , Bl. 313-315 Durchschrift

Betrifft: Young-Plan und Reparationssanktionen1.

Durch den Bericht des Sachverständigen-Ausschusses vom 7. Juni 1929 (Young-Plan) ist die Frage der Reparationssanktionen nicht gelöst worden. Die kommende Regierungskonferenz wird sich daher mit dieser Frage zu befassen haben.

Der Young-Plan spricht sich zwar für die Freigabe der Kontrollen des Dawes-Plans aus2, die Reparationssanktionen beruhen jedoch auf dem Versailler Vertrag. Die maßgebenden Bestimmungen sind, wie bekannt, einerseits §§ 16 a3, 17 und 18 der Anlage II des VIII. Teiles (Reparationsteil) des Versailler Vertrages hinter Artikel 244, andererseits Artikel 430 des Versailler Vertrages. Während die erstgenannte Bestimmung (§ 18) als Sanktionen, falls Deutschland vorsätzlich seinen Reparationsverpflichtungen nicht nachkommt, „wirtschaftliche und finanzielle Sperr- und Vergeltungsmaßregeln“, „überhaupt solche Maßnahmen“ vorsieht, „welche die genannten Regierungen“ (Gläubigerstaaten) „als durch die Umstände geboten erachten“, ermöglicht Artikel 430, falls Deutschland sich weigert, die Gesamtheit oder einzelne der ihm nach dem Versailler Vertrag obliegenden Reparationsverpflichtungen zu erfüllen, die Wiederbesetzung geräumter Gebiete, die auf Grund des Artikels 429 des Versailler Vertrages vertragsmäßig besetzt waren (Kölner Besatzungszone und – falls geräumt – Koblenzer und Mainzer Besatzungszone).

In beiden Fällen ist Voraussetzung, daß die Reparationskommission die vorsätzliche Nichterfüllung Deutschlands feststellt. Nach dem Young-Plan (Teil 6 Ziffer C und Anlage I Abschnitt XII) werden die Beziehungen der Reparationskommission zu Deutschland durch die Einrichtung der Bank für den internationalen Zahlungsverkehr allerdings beseitigt4. Es findet also keinerlei Geschäftsverkehr zwischen Reparationskommission und Deutschland mehr statt. Die Beziehungen der Reparationskommission zu den Gläubigerstaaten aber werden dadurch nicht berührt. Es verbleibt also insbesondere die in den beiden angegebenen Vertragsstellen (§§ 16 a, 17 der Anlage II zu dem Reparationsteil und Artikel 430) vorgesehenen Möglichkeit, daß auf Anzeige eines[834] Gläubigerstaates die Reparationskommission die vorsätzliche Nichterfüllung Deutschlands feststellt, worauf den Gläubigerstaaten die Sanktionsrechte erwachsen würden. Dies ist um so bedeutsamer, als die schwerste Form der Sanktion, die Besetzung deutschen Gebietes, in Artikel 430 ausdrücklich zugelassen ist und in § 18 der Anlage II zum Reparationsteil gemäß französischbelgischer Auslegung mitverstanden ist. Auf Grund dieses § 18 unternahmen diese beiden Mächte den Ruhreinbruch im Januar 1923. Die damaligen Meinungsverschiedenheiten zwischen diesen beiden Mächten einerseits und England andererseits bezogen sich im wesentlichen weniger auf die Frage, ob Neubesetzung als Sanktionsmaßnahme zulässig ist, als vielmehr auf die Frage, ob eine solche Sanktionsmaßnahme von jedem Gläubigerstaat isoliert oder nur von der Gesamtheit der Gläubigerstaaten kraft einstimmigen Beschlusses vorgenommen werden kann. Ersteres war die französisch-belgische, letztere die englische Auffassung5.

Im Zusammenhang mit der Annahme des Dawes-Planes wurden auf der Londoner Konferenz vom August 1924 lediglich Erschwerungen für die Verhängung der Reparationssanktionen auf Grund der Anlage II zum Reparationsteil (Anlage IV des Londoner Schlußprotokolls vom 16. August 1924 – RGBl. 1924 Teil II, S. 349 –) erreicht. Durch die Einschaltung der §§ 2 a und 16 a sowie durch die Änderung des § 17 der genannten Anlage II wurden für die Abfassung des Reparationsverfehlungsbeschlusses der Reparationskommission, durch die Artikel 2, 3 und 4 des die genannte Anlage IV bildenden Abkommens der Reparationsgläubiger-Regierungen für die Durchführung der Sanktionen gewisse uns günstige Einschränkungen der Rechtslage getroffen, auf Grund deren der Ruhreinbruch erfolgt war. Bekannt ist jedoch, daß die französische Regierung die Ruhrbesetzungsthese in London nicht aufgegeben hat. Diese These ist vielmehr in dem Artikel 5 der genannten Anlage IV mitvorbehalten worden. Da Einstimmigkeit der Beschlüsse der Gläubigerstaaten nicht zwingend notwendig ist und Frankreich die Rücksichtnahme auf die Gläubiger der Dawes-Anleihe durch Erklärung seiner eigenen Mithaftung oder auf andere Weise wahren könnte, wären also nach dem bestehenden Rechtszustand Reparationssanktionen sogar in der Form von Besetzungen deutschen Gebietes auch in Zukunft nach französischer Auffassung zulässig. Artikel 430 des Versailler Vertrages blieb in London außer Erörterung.

Es ist keine Frage, daß das Weiterbestehen der Möglichkeit von Reparationssanktionen mit den Grundlagen des Young-Planes unvereinbar ist, aber auch mit der politischen Lage. Durch die freiwillige Belastung zweier Generationen hat Deutschland ein moralisches Recht darauf, daß diese Sanktionsmöglichkeiten endgültig ausgeschaltet werden. Den äußeren Anlaß, sich mit der Frage zu befassen, wird die Beratung des Abkommens bieten können, das zur Inkraftsetzung des Young-Planes erforderlich ist, da dieses Abkommen sich mit dem Arbeitsergebnis der Londoner Konferenz von 1924, insbesondere auch mit der oben genannten Anlage IV des Londoner Schlußprotokolls, befassen[835] muß. Es könnte sein, daß die Gegenseite lediglich die Übertragung der für den Dawes-Plan eingeführten Erschwerungen für die Verhängung der Reparationssanktionen auf den Young-Plan vorschlagen würde. Von deutscher Seite dürfte jedoch m. E. zu verlangen sein, daß alle Möglichkeiten von Reparationssanktionen endgültig ausgeschaltet werden.

Bezüglich der §§ 16 a, 17 und 18 der Anlage II zum Reparationsteil würde die Beseitigung formalrechtlich besonders leicht sein, da sie auf Grund des § 22 dieser Anlage durch einstimmigen Beschluß der in der Reparationskommission vertretenen Regierungen erfolgen könnte, die ja an der Inkraftsetzung des Young-Planes ebenfalls interessiert sind. Gegenüber dem Artikel 430 ist von der Gegenseite der Einwand zu erwarten, daß zu seiner Beseitigung eine formelle Umänderung des Versailler Vertrages mit all ihren Umständlichkeiten notwendig sei. Demgegenüber ist jedoch festzustellen, daß an dem Artikel 430 unmittelbar, abgesehen von Deutschland, lediglich die Reparationsgläubigermächte beteiligt sind, da nur diese durch den Nichterfüllungsbeschluß der Reparationskommission die Möglichkeit der Wiederbesetzung schaffen können. Es würde deshalb genügen, wenn die Reparationsgläubiger-Regierungen in dem über die Inkraftsetzung des Young-Planes zu treffenden Abkommen sich verpflichten würden, zu einer Wiederbesetzung im Sinne des Artikels 430 nicht zu schreiten.

Die Frage der Reparationssanktionen ist von solcher Bedeutung, daß ich als Reichsminister für die besetzten Gebiete mich verpflichtet fühle, dringlich die Bereinigung dieser Frage im Sinne der vollständigen und endgültigen Ausschaltung der Möglichkeiten der Reparationssanktionen zu fordern, da ja im Falle der Ergreifung von Sanktionen gerade Besetzungen gegenüber dem wehrlosen Deutschland besonders zu befürchten sind. Bei der Wandelbarkeit der französischen Politik sollte m. E. eine so gefährliche Waffe den Gläubigerstaaten und der Reparationskommission entwunden werden, damit die Durchführung des Young-Planes in ruhiger, wirtschaftlicher Entwicklung erfolgen, aber auch dann, wenn sie infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten Deutschlands ins Stocken geriete, mit friedlichen Mitteln in Ordnung gebracht werden kann. Dies ist besonders notwendig, weil die Reparationssanktionen nach dem Versailler Vertrag in Verbindung mit dem Young-Plan bis zum 31. März 1988, d. h. bis zum Ende der Reparationsleistungen Deutschland bedrohen würden.

Für baldige fällige Mitteilung über Ihre Stellungnahme wäre ich dankbar6.

gez. Wirth

Fußnoten

1

In einer Notiz am Kopf des Schreibens verwies MinR Vogels auf die „Vorschläge zur Abänderung des Versailler Vertrags in Verbindung mit der Endlösung des Reparationsproblems“ im Material für die deutschen Sachverständigen. Diese Vorschläge befinden sich in R 43 I /278 , Bl. 376-389.

2

Siehe Ziffer 161 in Kapitel 11 Abschnitt 3 des Young-Plans (RGBl. 1930 II, S. 460 ).

3

Der § 16 a wurde auf Grund des Londoner Protokolls vom 30.8.24 nachträglich in den VV eingefügt.

4

Siehe Ziffer 72 des Young-Plans und Ziffer 115 der Anlagen (RGBl. 1930 II, S. 430  und 504 ).

5

Vgl. hierzu „das Kabinett Cuno“ und Teil III der Arbeit des Reichsarchivs über die Entstehung des Young-Plans (BA: Nachlaß Pantlen  8).

6

Der RFM schloß sich den Ansichten des RMbesGeb. an: Die Aufhebung der Sanktionsbestimmungen sei eine notwendige Folge des Young-Plans. Es werde darauf hinzuweisen sein, daß die Sanktionsbestimmungen nur den Sicherungsansprüchen aus dem Versailler Vertrag entsprochen hätten. Durch den Young-Plan seien neue Zahlungsverpflichtungen geschaffen worden, die die Beschlüsse über Maßnahmen bei vorsätzlichen Verfehlungen Deutschlands unwirksam machen würden. Der Standpunkt Deutschlands, wie er auf der Londoner Konferenz 1924 vertreten worden sei, müsse aufrecht erhalten werden, „daß einseitige Änderungen der Anlage II [des VV] auf Grund des § 22 nicht mehr zulässig seien“. Von Briand sei in der Kammer die Aufhebung des Art. 234 VV gefordert worden; werde dieser Artikel beseitigt, dann sei auf die Aufhebung der Anlage II VV und aller Bestimmungen zu dringen, die „durch die endgültige Regelung der Reparationszahlungen nach dem Young-Plan überholt sind“ (3.8.29; R 43 I /295 , Bl. 21 f.).

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