1.14 (mu22p): Nr. 270 Der Reichsminister der Finanzen an den Reichsarbeitsminister. 15. August 1929

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 5). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 2 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

RTF

[874] Nr. 270
Der Reichsminister der Finanzen an den Reichsarbeitsminister. 15. August 1929

R 43 I /879 , Bl. 431-437, hier: Bl. 431-437 Abschrift

Betrifft: Reichshaushalt 1929.

Bei den Vorarbeiten für den im Fall der Annahme des Young-Plans aufzustellenden Nachtragshaushalt für das Rechnungsjahr 1929 hat sich ergeben, daß die aus der Annahme des Young-Plans zu erwartenden Ersparnisse durch die Abdeckung des Fehlbetrages des Rechnungsjahres 1928 im Betrage von 154 Millionen und des Fehlbetrages im Haushalt für 1929, mit dem infolge der Überschätzung der Einnahmen und der Unterschätzung einer Reihe von unvermeidlichen Ausgaben gerechnet werden muß, restlos aufgebraucht werden. Die Aufstellung des in der Öffentlichkeit wiederholt zugesagten Finanzprogramms für 1930 und die kommenden Jahre hat zur Voraussetzung, daß diese Jahre nicht mit Fehlbeträgen aus 1928 oder 1929 belastet werden. Daß der in Aussicht genommene Nachtragshaushalt 1929 kein verstecktes Defizit enthält, sondern die Fehlbeträge der Jahre 1928 und 1929 im vollen Umfange tatsächlich deckt, bildet daher die Grundlage und die Voraussetzung für die Finanzpolitik der nächsten Jahre.

Wird der Young-Plan nicht angenommen, würden die im Frühsommer d. J. bereits in Erscheinung getretenen Etats- und Kassenschwierigkeiten erneut und verstärkt wiederkehren und auf der Einnahme- und Ausgabeseite einschneidende Maßnahmen nötig machen, wenn die Einstellung von Zahlungen, zu denen das Reich rechtlich verpflichtet ist, vermieden werden soll.

Bei dieser Sachlage sind die von Ihnen in letzter Zeit auf verschiedenen Gebieten angeforderten Mehrausgaben geradezu erschreckend. In Betracht kommen – wenn ich hier von der Frage der Arbeitslosenversicherung absehe – vor allem drei Gebiete. Sie haben eine Überschreitung der für die Krisenfürsorge vorgesehenen Mittel für unvermeidlich bezeichnet, in dem Schreiben vom 10. August […] für die Reichsbeiträge zur Invalidenversicherung eine Mehrausgabe von 22 Millionen und in den Schreiben vom 6. und 7. August […] im Haushalt für Versorgung und Ruhegehälter eine Überschreitung in Höhe von 50 bis 60 Millionen gefordert1.

Die Gesamtmehrausgaben bei den von Ihnen federführend bearbeiteten Etats würden sich mithin auf mindestens 100 Millionen belaufen. Diese Mehrausgabe, für die im Nachtragshaushalt eine Deckungsmöglichkeit nicht besteht, bildet nicht nur für die Kassenlage des Reichs, deren Schwierigkeiten selbst bei Annahme des Young-Plans noch durchaus nicht behoben sind, eine ernste Gefahr, sondern sie bildet vor allen Dingen auch ein unübersteigbares Hindernis[875] für die Aufstellung des beabsichtigten und von den gesetzgebenden Körperschaften geforderten Finanzprogramms.

Ich versage es mir, auf die Mehrausgaben für die Krisenfürsorge und für die Reichsbeiträge zur Invalidenversicherung näher einzugehen. Ich kann in dieser Beziehung nur meinem Bedauern darüber Ausdruck geben, daß es bei Aufstellung des Haushalts für 1929 nicht möglich gewesen ist, die Reichsbeiträge zutreffend zu schätzen, und daß die letzte Regelung der Krisenfürsorge nicht in einer Form erfolgt ist, die es ermöglicht hätte, mit den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln ohne Überschreitung auszukommen.

Die Überschreitung beim Haushalt für Versorgung und Ruhegehälter bedeutet für mich eine um so schmerzlichere Überraschung, als ich Sie bereits in meinem Schreiben vom 5. Juni und 9. Juli 19292 […] gebeten hatte, alles daran zu setzen, daß das Haushaltsjahr 1929 unter keinen Umständen wieder eine Überschreitung bei diesem Fonds bringt. Ich hatte in diesem Schreiben zum Ausdruck gebracht, daß bei rechtzeitiger strenger Kontrolle der Ausgaben und weitgehender Beschränkung – selbst zeitweiser völliger Aussetzung – von Kann-Bewilligungen dieses Ziel trotz der nach Ihrer Ansicht für 1929 knapp bemessenen Mittel sich erreichen lassen müßte. Auch die nachträgliche Bewilligung der für Juli 1929 besonders erbetenen Verstärkungsmittel von 3 Millionen habe ich nur unter der Voraussetzung eintreten lassen, daß möglichst umgehend die Maßnahmen getroffen würden, die die Vermeidung einer nochmaligen Überschreitung der Haushaltsmittel für 1929 gewährleisten. Ich habe Sie bei dieser Gelegenheit dringend gebeten, die etwa notwendige Beschränkung von Kann-Bewilligungen schon jetzt in die Wege zu leiten, wenn andere Maßnahmen nicht genügend Erfolg versprechen. Im Hinblick auf die eingangs geschilderte Gesamtsituation bin ich zu meinem Bedauern nicht in der Lage, Ihnen die für August 1929 über das Jahreszwölftel hinaus verlangte Verstärkung der Betriebsmittel anzuweisen. Ich muß vielmehr auf meiner Forderung bestehen, daß durch sofortige Beschränkung der Kann-Bewilligungen eine Überschreitung der Haushaltsmittel für das laufende Rechnungsjahr vermieden wird3.

[876] Der in Ihrem Schreiben vom 7. August 19294 […] vertretenen Auffassung, daß die Kann-Bezüge bei Erfüllung der vorgesehenen gesetzlichen Voraussetzungen unter allen Umständen gewährt werden müßten, vermag ich mich nicht anzuschließen. Die im Haushalt zur Verfügung gestellten Mittel umfassen zwei Bestandteile des Versorgungsrechts, einmal die Bewilligungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, und auf der anderen Seite die Kann-Bewilligungen. Diejenigen Bewilligungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, müssen unter allen Umständen gewährt werden. Reichen hierfür die vorgesehenen Haushaltsmittel nicht aus, so ist der Ausgleich nicht durch Überschreitung, sondern durch eine Beschränkung der Kann-Bewilligungen herbeizuführen. Sowohl Sie wie ich würden uns einer Verletzung der elementarsten haushaltsrechtlichen Bestimmungen schuldig machen, wenn eine Überschreitung der Haushaltsmittel einträte, ohne daß der Versuch einer Deckung durch Beschränkung der Kann-Bewilligungen gemacht worden ist. Die von Ihnen erwähnten Regierungserklärungen können nur den Sinn gehabt haben, daß die Kann-Bewilligungen nicht von dem reinen Ermessen der mit ihrer Gewährung betrauten Stellen abhängen sollen. Sie können aber selbstverständlich nichts daran ändern, daß für die Kann-Bewilligungen die allgemeinen haushaltsrechtlichen Bestimmungen gelten.

Bei der durch die Unmöglichkeit, über den Etatsansatz hinaus Mittel bereitzustellen, herbeigeführten Notwendigkeit, die Kann-Bewilligungen einzuschränken, wird es sich im Augenblick in erster Linie um die Kapitalabfindungen handeln müssen. Die hierfür im Haushalt vorgesehenen Beträge machen für sieben Monate rund 38 Millionen aus; diese Summe kann durch vorläufige Einstellung jeder weiteren Bewilligung von Kapitalabfindungen zur Deckung der zwangsmäßigen Ausgaben verwendet werden. Bei entsprechender Zuhilfenahme allein schon dieser Mittel werden Sie nicht nur den zwangsläufigen Mehrbedarf für die nächsten Monate gewinnen, sondern auch die Notwendigkeit eines Nachtragshaushalts vermeiden können. Das wird um so eher möglich sein, wenn Sie die bisherigen Sparmaßnahmen erweitern und namentlich auch auf die Gebiete ausdehnen wollten, auf die die Vertreter des Herrn Reichssparkommissars und des Rechnungshofs sowie meine Vertreter in der Besprechung in Ihrem Ministerium am 31. Juli 1929 eingehend hingewiesen haben5. Mit weiteren Vorschlägen würden meine Vertreter nötigenfalls zur Verfügung stehen. Alle diese Vorschläge sollen im wesentlichen ein weiteres Anwachsen der Zahl der Kriegsbeschädigten verhindern. Es sollen hierunter keinesfalls die Kreise derjenigen Kriegsbeschädigten leiden, die infolge ihrer schweren Kriegsbeschädigung auf weitgehende Fürsorge des Reiches Anspruch haben. Das würde aber unvermeidlich eintreten, wenn bei der ohne vorbeugende Maßnahmen ständig anwachsenden Zahl der Kriegsbeschädigten die Entwicklung der Finanzlage früher oder später eine Begrenzung der Mittel für Kriegsbeschädigte unvermeidbar[877] machen würde. Gerade aus den von Ihnen betonten allgemeinpolitischen und sozialpolitischen Gründen scheint mir im Interesse der Schwerbeschädigten die Notwendigkeit der von mir angestrebten vorbeugenden Maßnahmen gegeben zu sein.

[„Zur Klarstellung der gesamten Lage“ wird eine Ressortbesprechung im RFMin. vorgeschlagen.]

In Vertretung

gez. Popitz

Fußnoten

1

Diese Schreiben waren nach einer handschriftlichen Notiz in der Rkei „nicht eingegangen“.

2

Die Schreiben waren in der Rkei „nicht eingegangen“.

3

In einer Kabinettsvorlage des RArbM sind acht Gruppen der Kann-Bewilligungen aufgeführt worden, die hier wahrscheinlich gemeint sind: 1. Zuschüsse für Offiziere des Beurlaubtenstandes (2 Mio RM), 2. für deren Hinterbliebene (4 Mio RM), 3. Härteausgleich für Geisteskranke und ähnliches (3 Mio RM), 4. Erziehungsbeihilfe (20 Mio RM), 5. Witwenbeihilfe einschließlich Zusatzrente (9 Mio RM), 6. Waisenbeihilfe einschließlich Zusatzrente (3 Mio RM), 7. Elternbeihilfe (25 Mio RM), 8. Kapitalabfindung (63 Mio RM). Hierzu führte der RArbM aus: „1. Die Zahlung der unter Ziffer 1 und 2 genannten Zuschüsse beruht auf Verwaltungsanordnungen und dient der Beseitigung von Härten, die die Gesetzgebung für die genannten Personenkreise geschaffen hat. 2. Die unter Ziffer 3 und 4 genannten Ausgaben sind vom RT besonders gefordert und die dafür eingesetzten Summen besonders bereitgestellt worden. 3. Die unter Ziffer 5, 6 und 7 genannten Beihilfen stellen einen Teil der Versorgung dieser Personenkreise dar und sind im Gesetz verankert. Sie können, wie es im Gesetz heißt, beim Vorliegen gewisser Voraussetzungen gewährt werden. Von den auf einem Rechtsanspruch beruhenden Renten unterscheiden sie sich dadurch, daß sie nicht im Rechtsweg verfolgbar sind. Gelegentlich der Einführung der Elternbeihilfe in die Gesetzgebung hat der Regierungsvertreter im RT-Ausschuß ausdrücklich erklärt, daß die Kannvorschrift ebenso wie die Mußvorschrift gehandhabt werden solle. 4. Die Kapitalabfindung kann ebenfalls unter gewissen Voraussetzungen gewährt werden. Von den vorerwähnten Kannbewilligungen unterscheidet sie sich dadurch, daß ihr Versagen im Einzelfall keinen Einkommensausfall für den Antragsteller bedeutet. Andererseits erlischt der Anspruch auf die Rententeile, an deren Stelle die Kapitalabfindung tritt, so daß diese eine künftige Entlastung des Reichs herbeiführt“ (24. 8.; R 43 I /879 , Bl. 439-449, hier: Bl. 439-449).

4

Das Schreiben war in der Rkei „nicht eingegangen“.

5

In R 43 I nicht ermittelt.

Extras (Fußzeile):