2.86.2 (sch1p): 2. [Erweiterung der deutschen Zugeständnisse an die Entente]

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Das Kabinett ScheidemannReichsministerpraesident  Philipp Scheidemann Bild 146-1970-051-17Erste Kabinettssitzung der neuen deutschen Reichsregierung am 13.2.1919 in Weimar Bild 183-R08282Versailles: die deutschen Friedensunterhändler Bild 183-R11112Die Sozialisierung marschiert! Plak 002-005-026

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2. [Erweiterung der deutschen Zugeständnisse an die Entente]

Graf Bernstorff verliest ein Telegramm der Friedensdelegation, in der diese vorschlägt, eine Erweiterung der Zugeständnisse zu erwägen, damit die Entente die Ablehnung nicht verantworten kann. Zugeständnisse auf territorialem Gebiete kämen nicht in Frage, insbesondere sei auch die Abstimmung im Osten[354] bedenklich. Aus diesen Gründen schlägt die Delegation größere Opfer auf finanziellem Gebiet durch Zusage sukzessiver Zahlungen von 20, 40 und 40 Milliarden vor1.

[355] Reichsminister Wissell berichtet anschließend, daß bei den Verhandlungen in Spa der Gedanke ausgesprochen sei, den Gegnern Beteiligungen an der deutschen Industrie, vielleicht sogar an den deutschen Eisenbahnen, anzubieten, und dadurch zugleich das feindliche Ausland an dem Wiederaufblühen der Industrie in Deutschland zu interessieren.

Die anschließende Aussprache hat folgende Ergebnisse:

Reichsminister Dernburg legt eingehend dar, daß er die finanziellen Vorschläge der Delegation für undurchführbar halte. Er unterbreitet hierzu noch die näheren Vorschläge der Herren Warburg und Melchior (Anlage)2. Er sehe keine Möglichkeit, die Mittel selbst bei Erschließung aller nur denkbaren Quellen auch nur annähernd zu beschaffen. Wenn das Kabinett gegen sein Votum die Zugeständnisse beschließen sollte, sei er zu weiteren Mitarbeit bereit. Er fasse es dann so auf, daß man hoffe, die Situation 3–4 Jahre lang halten zu können, und in dieser Zeit eine Wendung in der Gesamtgeschichte Europas[356] erwarte, die Deutschland vor den Konsequenzen der übernommenen Verpflichtungen bewahre. Das Kabinett hält auf Grund der sachlichen Darlegungen des Ministers die Übernahme der weitgehenden finanziellen Verpflichtungen für unmöglich.

Das Kabinett wiederholt seinen Beschluß, daß der Grundsatz der Abstimmung in den Gegenvorschlägen als oberster Grundsatz letzten Endes auch für Oberschlesien als anwendbar zugestanden werden müsse3.

Der Gedanke einer Beteiligung amerikanischen, englischen und französischen Kapitals an der deutschen Industrie, namentlich soweit sie im Bezug von Rohstoffen oder im Absatz auf das feindliche Ausland angewiesen ist, soll weiter verfolgt werden. Minister Wissell wird zu diesem Zweck Beratungen mit den Interessenten abhalten und hierzu die Kabinettsmitglieder einladen4. Der Gedanke einer Beteiligung an den Eisenbahnen wurde dagegen von der Mehrheit als indiskutabel abgelehnt.

Fußnoten

1

Das von allen sechs Delegierten unterzeichnete Telegramm an Paxkonferenz vom 20.5.1919 lautete:

„Der Vorsitzende der deutschen Friedensdelegation hat uns über seine Besprechungen in Spa Mitteilung gemacht. Wir halten uns für verpflichtet, daraufhin dem Kabinett und dem Herrn Reichspräsidenten folgendes zu erklären:

Der Entwurf des Friedensvertrages hat bisher bei den feindlichen Völkern keinen Widerstand gefunden, von dem erwartet werden könnte, daß er sich binnen absehbarer Zeit durchsetzen würde. Die feindlichen Regierungen werden daher nur dann gzwungen sein, in Verhandlungen über Abänderungen des Vertragsentwurfs einzutreten, wenn unsererseits so klare und so umfangreiche Zugeständnisse gemacht werden, daß jene Regierungen es vor ihren eigenen Völkern schwer verantworten könnten, die Verhandlungen abzubrechen und mit Zwangsmitteln gegen uns vorzugehen, und daß sie, wenn sie derartige Schritte tun, sich selbst und nicht uns ins Unrecht setzen.

Die Zugeständnisse, welche wir zu machen in der Lage sind, können einmal in der Abtretung von Territorien bestehen, zweitens in der Übernahme finanzieller und wirtschaftlicher Verpflichtungen, drittens in weitgehendem Entgegenkommen auf dem Gebiete der Abrüstung.

Die Delegation ist der Ansicht, daß die erstere Art der Entschädigung am schwersten zu ertragen sein würde; sie bringt Verluste mit, die auch Fortschritte der Demokratie in den Staaten der Gegner nicht ausgleichen würden. Als territoriales Opfer betrachten wir die Volksabstimmung in Oberschlesien, West- und Ostpreußen, denn ein Angebot der Volksabstimmung im gesamten Osten wäre im höchsten Maße bedenklich, wenn es nicht gelingt, aus dem Friedensvertrage die Klausel zu entfernen, wonach die abzutretenden Gebiete von der Last der Kriegsschuld befreit sind. Diese Klausel würde nämlich den Polen bei ihrer Agitation ein Argument in die Hand spielen, dem wir kaum ein gleichwertiges entgegenstellen können. Die Streichung der Klausel ist aber nicht zu erwarten.

Demgegenüber ist auf finanziellem und wirtschaftlichem Gebiet eine spätere Verständigung nicht ausgeschlossen, und eine Abrüstung Deutschlands muß unzweifelhaft zur Abrüstung auch bei den anderen Staaten führen. Will man also Zugeständnisse auf territorialem Gebiet auf ein Mindestmaß einschränken, so erscheint der Friedensdelegation zunächst weitergehendes Opfer auf finanziellem und wirtschaftlichem Gebiet möglich und erforderlich. Derartiges Opfer würde den feindlichen Regierungen gestatten, ihren Völkern gegenüber den Standpunkt zu vertreten, daß zwar nicht alles, aber viel erreichbar sei. Je weniger wir finanziell zugestehen, um so mehr wird uns in territorialer Beziehung abgefordert werden. Im englischen und französischen Parlament und in der anglofranzösischen Presse sind erbitterte Angriffe gegen den Vertragsentwurf gerichtet worden, weil die Deutschland auferlegten Entschädigungen zu gering seien. Wir glauben, daß wir bei unserer Auslegung [der] Lansing-Note (Beschränkung der Schadenersatzpflicht auf die besetzten Gebiete) [nicht dechiffriert] stehenbleiben, den Rechtsstandpunkt bezüglich dieser Entschädigungspflicht aber nicht zu sehr in den Vordergrund rücken sollten, daß wir vielmehr solche praktischen Anerbietungen machen müssen, die später feindliche Regierungen ihren Völkern gegenüber in die Lage versetzen, darauf eingehen zu können. Dazu [nicht dechiffriert] nach unserer Überzeugung, daß wir als Grundlage für die Entschädigungspflicht bestimmte Ziffern angeben, die dann als feste Höchstmaße in den Vertrag aufzunehmen wären. Die in dem Friedensentwurf genannten Summen von 20, 40 und eventuell weiteren 40 Milliarden Mark müssen hierfür den Ausgangspunkt bilden, dergestalt, daß durch Änderung der Verzinsungs- und Tilgungsbedingungen die jährliche Belastung erträglich wird.

Bezüglich der Zuständigkeit der Commission des Réparations steht die Delegation ganz auf dem von Exzellenz Dernburg in Spa vertretenen Standpunkt, wonach sie nur im Zusammenwirken mit einer deutschen Stelle, im Streitfall unter einer neutralen Instanz, tätig wird. Bezüglich der wirtschaftlichen Entschädigungsleistungen – Schiffe, Kohle usw. – müßte gleichfalls bis an die äußerste Grenze des Erträglichen entgegengekommen werden; in dieser Hinsicht schweben allerdings noch die Erörterungen mit den Sachverständigen. Die Zugeständnisse auf militärischem Gebiet scheinen nach [nicht dechiffriert] uns zugesandter Denkschrift nicht glücklich formuliert zu sein.. Wir schlagen vielmehr vor, die von den Gegnern festgestellten Bedingungen im wesentlichen anzunehmen. Besonders halten wir die Einschränkung nicht für ratsam, daß die Zugeständnisse sich unter der Voraussetzung einer allgemeinen Abrüstung verstehen. Weiter halten wir es für wichtig, daß Deutschland grundsätzlich in die Herabsetzung der Heeresstärke auf 100 000 Mann einwilligt, lediglich mit dem Vorbehalt, daß der Völkerbund die deutschen Grenzen gewährleistet. Im Anschluß daran ist für einen bestimmten Zeitraum im Hinblick auf die starke Erschütterung der inneren Ordnung Deutschlands eine höhere Jahresziffer zu beanspruchen.

Die Delegation bittet deshalb dringend, daß die Reichsregierung sich auf ihren Standpunkt stellt. Für die Folgen, die eintreten würden, wenn die Verhandlungen hier scheitern, weil wir nicht befugt wären, die Zugeständnisse zu machen, die nach Deutschlands gegenwärtiger Lage unvermeidlich sind, kann die Delegation die Verantwortung nicht übernehmen.“ (PA, Dt. Friedensdelegation Versailles, Pol 13).

2

Die finanziellen Vorschläge von Warburg und Melchior lauteten – die Höhe der jeweils einzusetzenden Markbeträge und Prozentsätze blieben dabei ausgespart –: „Vorbehaltlich der Feststellung der Schäden nach den vorhergegangenen Bestimmungen erklärt sich Dtl. bereit, 4% mit 1% Amortisation ausgestattete Goldmarkobligationen im Gesamtbetrag von M…. alsbald zu bezahlen und die Annuität sicherzustellen. 1. durch Anrechnung der uns gutzubringenden Positionen durch Lieferung von Naturalien und durch den Ertrag unserer in Gold einzunehmenden Zölle; 2. soweit der errechnete Schaden unter der Summe von M…. bleibt, ist die betreffende Obligation uns zurückzugewähren; geht der Schaden über den Betrag von M…. hinaus, so wird Dtl. einen weiteren unverzinslichen Generalbond im Maximalbetrag von M…. an die all. und ass. Regg. übergeben und denselben nach Maßgabe seiner Leistungsfähigkeit auf Grund der folgenden Vorschriften tilgen: a) durch weitere Naturalleistungen [in] im einzelnen noch zu bestimmenden Ausmaße, b) durch Überweisung eines Betrages von …% des dt. Einnahme-Budgets im Minimum von M…. dt. Währung per annum.

Hinsichtlich der den All einzuräumenden Kontrolle wird festgesetzt: Die Commission des Réparations soll das dt. Budget bis 1921 darauf prüfen, daß die dt. Steuerleistung nicht geringer ist als diejenige unserer drei Hauptgegner (Frankreich, England, Amerika). Dtl. verpflichtet sich für den Fall, daß es mit einer der hiernach festgestellten Zahlungsverpflichtungen, sei es für die Goldfonds, sei es für die zinsfreien Bonds, im Rückstand bleibt, eine Schuldentilgungskasse unter Kontrolle der All. einzurichten, in welche, neben dem Ertrag der Zölle, bestimmte Monopole sowie Erträgnisse indirekter Abgaben einzuzahlen sind.“ (R 43 I /1349 , S. 245). Der finanzielle Teil der dt. Gegenvorschläge unterschied sich nur in einigen Punkten von dem zitierten Vorschlag; vor allem wurde das Haushaltsprüfungsrecht der all. Repko abgelehnt; auch die Zahlungsmodalitäten sollten anders geregelt werden. Ein Vergleich der zur Wiedergutmachung angesetzten finanziellen Mittel ist nicht möglich, da die von Warburg und Melchior vorgesehenen Summen in dem in den Akten der Rkei vorhandenen Dokument nicht eingetragen sind. Vgl.: Materialien betr. die Friedensverhandlungen, Teil III: Die dt. Gegenvorschläge zu den Friedensbedingungen der all. und ass. Mächte, hrsg. v. AA, Charlottenburg 1919, S. 67 ff.

3

Siehe Dok. Nr. 74, P. 4.

4

Weitere Hinweise auf derartige Beratungen sind in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln.

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