2.89 (sch1p): Nr. 83 Vermerk des Regierungsrats Krahmer-Möllenberg über eine Volksabstimmung in den Ostgebieten. 22. Mai 1919

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[365] Nr. 83
Vermerk des Regierungsrats Krahmer-Möllenberg über eine Volksabstimmung in den Ostgebieten. 22. Mai 19191

R 43 I /1795 , Bl. 234 f. Durchschrift

Auf Anordnung des Herrn Unterstaatssekretärs Dr. Freund habe ich am 21. 5. der Sitzung des Reichsministeriums beigewohnt2. In dieser Sitzung kamen 2 Telegramme vom Grafen Rantzau3 und von den Sachverständigen in Versailles über die Frage einer Volksabstimmung im Osten4 zur Verlesung. Beide Telegramme gingen gleichmäßig dahin, daß eine Volksabstimmung in den Ostgebieten mit Rücksicht auf das unsichere Ergebnis unter allen Umständen[366] von deutscher Seite vermieden werden müßte. In der sich entspinnenden Aussprache vertrat Herr Reichsminister Preuß die Auffassung, daß die Frage der Abstimmung ja bereits durch die der Friedensdelegation erteilte Instruktion vom Reichsministerium endgültig entschieden sei5. An dieser Entscheidung könne nichts mehr geändert werden. Auf die von dem Herrn Minister Fischbeck nachdrücklichst hervorgehobenen Bedenken, die auf preußischer Seite gegen eine Abstimmung bestehen, erklärte der Herr Reichsministerpräsident Scheidemann, daß die Instruktion für die Friedensdelegation ja in Anwesenheit und unter Teilnahme preußischer Vertreter festgestellt ist.

Der Wortlaut der Instruktion ist in der Sitzung des Reichsministeriums nicht vorgelegt worden. Nach dem Gange der Besprechung glaube ich aber schließen zu müssen, daß die Instruktion dahin lautete: Eine Abtretung der Ostmarken ist ausgeschlossen, da die Ostmarken wirtschaftlich zum Deutschen Reich gehören und ihre Abtretung sowohl die betroffene Bevölkerung wie Preußen und Deutschland wirtschaftlich auf das schwerste schädigen müßte. Eine Abtretung kann nur erfolgen, wenn die Bevölkerung sich durch Abstimmung dafür ausspricht.

Über die Frage der Abstimmung haben Herr Ministerialdirektor Dr. Meister und ich in der Sitzung des Reichsministeriums vom 15. 5.6 eingehend und mit zahlenmäßiger Begründung die von preußischer Seite zu erhebenden Bedenken vorgetragen. Der in dieser Sitzung anwesende Minister Fischbeck hat unsere Bedenken geteilt. Die Mehrheit des Reichsministeriums vertrat jedoch unter Führung der Herren Reichsminister Dr. David und Erzberger in dieser Sitzung den Standpunkt, daß, nachdem die Wilson-Punkte von uns als Grundlage angenommen seien, die Volksabstimmung nicht vermieden werden könne. Zu einem formellen Beschluß hierüber ist es meiner Auffassung nach in dieser Sitzung zwar noch nicht gekommen, jedoch scheint das Reichsministerium sich der Auffassung der Herren Minister Dr. David und Erzberger angeschlossen zu haben. Lediglich für Oberschlesien schien das Reichskabinett die von preußischer Seite geäußerten Bedenken nicht ganz von der Hand zu weisen.

Soweit ich an den Sitzungen des Reichskabinetts teilgenommen habe, kann ich jedenfalls erklären, daß von preußischer Seite unter nachdrücklichster Hervorhebung der gegen eine Abstimmung sprechenden Bedenken verlangt worden ist, der Entente gegenüber die Gebietsabtretungen im Osten lediglich mit der Begründung abzulehnen, daß diese den in der Botschaft des Präsidenten Wilson vom 11.2.19 aufgestellten Forderungen7 widerstrebt.

[367] Wie mir Herr Ministerialdirektor Dr. Meister mitgeteilt hat, ist in der Sitzung des Reichsministeriums vom 17. 5.8, an der ich nicht teilgenommen habe, seitens der preußischen Regierung eine Erklärung zu der grundsätzlichen Frage der Abstimmung nicht mehr abgegeben worden. Es standen die Einzelvorschläge für die Beratung zur Erörterung, und nur an der Erörterung der Einzelheiten hat sich der Herr Ministerialdirektor Dr. Meister beteiligt.

Ich kann unter diesen Umständen die Erklärung, die gestern im Reichsministerium über die Teilnahme preußischer Vertreter an der Instruktion über die Abstimmungsfrage gefallen ist, soweit meine persönlichen Beobachtungen reichen, nicht für zutreffend halten. Ich bitte, in Anbetracht der außerordentlichen Bedeutung der Frage zu erwägen, ob bei der preußischen Staatsregierung eine sofortige energische Stellungnahme in dieser Frage zweckmäßig erscheint, da die Auffassung der Versailler Delegation sich mit der vom preußischen Ministerium des Innern vertretenen Auffassung augenscheinlich vollständig deckt9.

gez. Krahmer-Möllenberg

Fußnoten

1

Der vorliegende Aktenvermerk liegt einem Schreiben des PrIM an die PrStReg. vom 22.5.1919 bei, das abschriftlich an sämtliche RM und den PrHandM Fischbeck ging. Hierin heißt es: „Ich betone, daß von pr. Seite das Angebot einer Volksabstimmung keinesfalls gutgeheißen werden kann und auch bei den Beratungen des RKab., wie die vorstehende Niederschrift ergibt, weder von dem Herrn Minister Fischbeck noch von den Vertretern des Ministerium des Innern einem solchen Angebot zugestimmt worden ist. […] Darüber, daß von dt. Seite eine von der Entente etwa geforderte Volksabstimmung in den polnisch sprechenden Gebieten nicht abgelehnt werden kann, dürfte kein Zweifel bestehen. Die Frage aber, ob von dt. Seite bei der Ablehnung der Entente-Forderungen die Abstimmung verlangt werden solle, ist eine im wesentlichen verhandlungstaktische. Bei den schweren Bedenken, die gegen das Ergebnis einer Abstimmung bestehen, muß in erster Linie versucht werden, ohne ein solches Angebot auszukommen. Ob das möglich ist, ist eine Frage, die nur durch die Unterhändler selbst entschieden werden kann. Es muß also im pr. Interesse unter allen Umständen hervorgehoben werden, daß grundsätzlich eine Abstimmung nicht anzubieten ist, und die Unterhändler nur für alle Fälle mit der Ermächtigung zu versehen sind, ein solches Angebot zu machen, wenn sie nach Lage der Verhandlungen dies für unbedingt erforderlich erachten.

Außerdem wird in die erste Reihe der Verhandlungen auch die Frage gestellt werden müssen, in welcher Weise eine Abstimmung zu vollziehen sein würde. Die Art der Abstimmung, die die Entente für den südlichen Teil Ostpreußens vorschlägt, ist keine ehrliche Abstimmung und muß unbedingt abgelehnt werden. […]“ (R 43 I /1795 , Bl. 233). Der erwähnte von der Entente in Süd-Ostpreußen vorgesehene Abstimmungsmodus war in Art. 94–97 der all. Friedensbedingungen enthalten und unverändert in den VV übernommen worden. Vorgesehen war danach eine gemeindeweise Abstimmung unter all. Kontrolle.

2

Siehe Anwesenheitsliste der Kabinetssitzung vom 21.5.1919 (Dok. Nr. 81). Dem Kabinettsprotokoll ist nicht zu entnehmen, daß während dieser Sitzung Fragen der Ostprovinzen besprochen wurden.

3

Das Telegramm des RAM s. Dok. Nr. 77.

4

Das Telegramm der Ostsachverständigen der dt. Friedensdelegation lautete: „Wir Ostsachverständigen der Friedensdelegation in Versailles halten einstimmig jedes Angebot von Volksabstimmungen im Osten für unter allen Umständen verwerflich wegen des unter jetzigen Verhältnissen sicher zu gewärtigenden ungünstigen Ausfalls sowohl wie auch wegen der künftig daraus abzuleitenden Legalisierung der Fortnahme. Angebot der Abstimmung in einem Teil des Ostens bei Ablehnung in einem andern ist vollkommen unmöglich, ohne sofort zu allgemeiner Abstimmung weiterzuführen. Nur weitgehendes Gebietsangebot für Posen, absolute Ablehnung jeder Gebietskonzession für Oberschlesien, für die übrigen Ostgebiete Angebot aller möglichen wirtschaftlichen Konzessionen in Häfen, Eisenbahnen und Wasserstraßen an Polen bei Ablehnung territorialer Abtretungen ist ein sachlich loyales Angebot und auch durch Berufung auf Wilsonsches Programm gut zu decken. Wir lehnen jede Verantwortung dafür ab, wenn die Regierung in irgendwelchen Kundgebungen die Abstimmung überhaupt irgendwie erwähnen sollte. [Unterschriften]“ (PA, Dt. Friedensdelegation Versailles, Pol 8 a).

5

In den Richtlinien für die dt. Friedensunterhändler (s. Dok. Nr. 49) ist die Frage der Volksabstimmung in Kapitel II Abs. 4 dahingehend geregelt, daß nur in der Provinz Posen jenseits der Demarkationslinie abgestimmt werden solle, da nur hier ein geschlossenes polnisches Sprachgebiet bestehe.

6

Siehe Dok. Nr. 74, P. 4; über die erwähnte zahlenmäßige Begründung der ablehnenden Haltung der pr. Regierungsvertreter zur Abstimmungsfrage ist in den Akten der Rkei nichts zu ermitteln.

7

Während seiner Rede vor dem Kongreß am 11.2.1918 hatte Wilson erklärt, „daß jede durch den Krieg aufgeworfene territoriale Regelung im Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerungen getroffen werden muß, und nicht als Teil eines bloßen Ausgleichs oder eines Kompromisses der Ansprüche rivalisierender Staaten, und […] daß allen klar umschriebenen nationalen Bestrebungen die weitestgehende Befriedigung gewährt werden soll, die ihnen gewährt werden kann, ohne neue Elemente von Zwist und Gegnerschaft zu schaffen oder alte derartige Elemente zu verewigen, die wahrscheinlich mit der Zeit den Frieden Europas und somit der Welt stören würden.“ (Waffenstillstand, I, S. 7).

8

Siehe Dok. Nr. 76, P. 2; s. vor allem ebd., Anm. 5.

9

Die „energische Stellungnahme“ der pr. Reg. wurde von Fischbeck während der Kabinettssitzung am 22.5.1919 abgegeben, s. Dok. Nr. 82, P. 3.

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