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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 2Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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Lage.

Der Reichskanzler eröffnete die Sitzung und teilte mit, daß er zu ihrer Einberufung veranlaßt sei durch Berichte über die Vorgänge in Dresden, die ihm von seiten des Reichsministers des Innern unterbreitet worden seien. Nach diesen habe sich die Absetzung der sächsischen Regierung auf Veranlassung des Reichskommissars Dr. Heinze durch militärische Organe in provokatorischer Weise vollzogen, so daß in der Fraktion des Reichsministers des Innern ein starker Widerspruch entstanden sei1.

Der Reichskanzler gab eine Schilderung des Verlaufs der gesamten Aktion, insoweit die von ihm getroffenen Maßnahmen in Frage kämen, und gab der Auffassung Ausdruck, daß allerdings manches in Dresden geschehen sei, was anders hätte gemacht werden können, andererseits jedoch der Reichskommissar vor der schwierigen Aufgabe gestanden habe, für die Regierungsgeschäfte verantwortlich zu sein, obgleich die bisherige sächsische Regierung nicht zurückgetreten sei2.

Was die angeblich provokatorische Haltung der militärischen Organe anbelange, so stehe der Bericht, den er vom zuständigen Wehrkreiskommando über die Vorgänge erhalten habe im Widerspruch zu der Darstellung des Reichsministers des Innern. Er sei daher der Ansicht, daß man zunächst eine ganz genaue und objektive Darstellung abwarten müsse.

Im übrigen sei er überzeugt, daß eine Provokation weder von militärischer Seite, noch insbesondere von seiten des Reichskommissars beabsichtigt sei. Er begrüße in diesem Zusammenhange den soeben erlassenen Aufruf des Reichskommissars, in welchem der Genannte als sein Hauptziel „die Bildung[880] einer parlamentarischen Regierung auf verfassungsmäßiger Grundlage“ bezeichne3.

Der Reichsminister des Innern gab eine eingehende Schilderung der Vorfälle in Dresden, wie sie ihm seitens einer parlamentarischen Zeitungskorrespondenz und durch zwei Augenzeugen übermittelt worden sei. Er sehe als insbesonders provokatorisch an den Aufzug der Truppen zur Besetzung des Ministeriums mit Musik, das Auffahren von Maschinengewehren gegen das Ministerium, die militärische Besetzung des Landtags und das Hinausgeleiten des Ministerpräsidenten sowie des Ministers Böttcher durch Militärpersonen. Dieses ganze Verfahren werde im Inland eine tiefe Erregung wachrufen, insbesondere aber im Ausland den Eindruck erwecken, als ob im Reiche noch der krasseste Militarismus herrsche4. Er glaube, es liege eine bewußte Provokation der Reichswehr vor, die sich gegen den bisherigen sächsischen Ministerpräsidenten richte. Bei dieser Sachlage halte er die Bildung einer neuen Regierung in Sachsen für kaum möglich. Er selber und seine Fraktionskollegen im Reichsministerium seien auch nicht in der Lage, für die Geschehnisse die Verantworttung zu tragen, und sähen keine andere Möglichkeit, als daß sie aus dem Ministerium ausschieden. Allerdings könne dies nicht sofort geschehen, da nach den Statuten der Fraktion der Rücktritt aus dem Ministerium von der Fraktion beschlossen werden müsse5.

Der Reichskanzler wies erneut auf die erheblichen Unterschiede in der Darstellung der Vorgänge in Dresden, die zwischen den ihm zuteil gewordenen Berichten und der Schilderung des Reichsministers des Innern beständen, hin. Insbesondere sei zu betonen, daß nach den ersteren der Ministerpräsident Dr. Zeigner bei seiner Herausgeleitung aus dem Gebäude des Ministeriums mit Militärpersonen überhaupt nicht in Berührung gekommen sei. Er warne dringend davor, Entschlüsse zu fassen, ehe nicht eine wirklich objektive Darstellung der Vorgänge zur Verfügung stände.

[881] Im übrigen weise er daraufhin, daß dem sächsischen Ministerrat völlig ausreichende Zeit gelassen worden sei, um ohne Berührung mit irgend welchen Militärorganen das Gebäude zu verlassen, und daß der Ministerrat ja ausdrücklich beschlossen habe, nur der Gewalt zu weichen. Tatsächlich habe sich die Amtsentsetzung doch ohne jede Gewaltmaßnahme vollzogen, stelle somit ein doch erheblich weniger provokatorisches Vorgehen dar, als die von sozialdemokratischer Seite unlängst empfohlene Verhaftung der kommunistischen Mitglieder der Regierung durch Militärorgane bedeutet haben würde6.

Der Reichsverkehrsminister erblickte das politisch bedenklichste Moment der Aktion in Dresden in der Besetzung des Parlaments, äußerte aber im übrigen die Auffassung daß es unzulässig sei, auf Grund derartiger rein formaler, unerheblicher und durch den Zufall bedingter Tatbestände7 Entschlüsse von so schwerer politischer Tragweite zu fassen. Er erinnere daran, daß das jetzige Kabinett schon mehrfach als das letzte parlamentarische Reichskabinett bezeichnet worden sei und appeliere an den vaterländischen Sinn der sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts, sich nicht in der Erregung zu Handlungen hinreißen zu lassen, welche für das gesamte deutsche Volk zum schwersten Verhängnis werden können.

Der Reichswirtschaftsminister würdigte das Vorgehen der Vollstreckungsorgane in Dresden vom militärischen Standpunkte aus und äußerte die Auffassung, daß vielleicht gerade das gewählte Verfahren, der Aufzug mit Musik, psychologisch das beste Mittel dargestellt habe, Zusammenstöße und Erregung der Bevölkerung zu vermeiden.

Der Reichsminister für Wiederaufbau stellte sich auf den Standpunkt des Reichsministers des Innern und wies darauf hin, daß es unter den gegebenen Umständen kaum möglich sein würde, eine Regierung in Sachsen zustande zu bringen.

Der Reichskanzler ging nochmals auf die Vorgänge, die zur Einsetzung des Reichskommissars und der danach erfolgenden Amtsentsetzung der sächsischen Minister geführt hätten, ein und teilte mit, daß er erneut mit Dresden in Verbindung treten wolle, damit alles geschehe, um so schnell wie möglich eine Regierung dort zustande zu bringen.

Er habe gerade über die Entwicklung der außenpolitischen Lage außerordentlich günstige Berichte erhalten, welche es für aussichtsreich erscheinen ließen, daß in wenigen Tagen befriedigende Verhandlungen über die Reparationsfrage stattfinden könnten8. Es würde geradezu ein Verhängnis sein, wenn alles, was sich hier anbahne, zunichte gemacht würde durch eine Entwicklung im Innern, welche die Reichsregierung stürze und die Reichseinheit zerrisse.

Der Reichsminister der Finanzen unterstrich die Ausführungen des Reichskanzlers und wies auf die günstigen Entwicklungsmomente in Wirtschaft und[882] Finanzlage des Reiches hin9. Das Reich stände möglicherweise in diesem Augenblick vor einer Gesundung seiner Währung und einer Wiederaufrichtung seiner Finanzen. Alle günstigen Ansätze solcher Genesung würden aber zunichte gemacht, wenn erneut eine schwere innerpolitische Krise anbräche.

Der Reichsminister des Innern fürte aus, daß die Entscheidung bei der Fraktion der sozialdemokratischen Partei liege. Er bitte, inzwischen von seiten der Regierung eine Verlautbarung in der Presse herauszugeben, welche geeignet sei, die Parteigegensätze abzuglätten.

Der Reichskanzler stellte eine derartige Pressenotiz in Aussicht und schloß die Sitzung mit dem nochmaligen Appell an die sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts vor übereilten Entschließungen sich und ihre Partei nach Möglichkeit zurückzuhalten10.

Fußnoten

1

Vgl. dazu Dok. Nr. 196 mit Anm. 1.

2

S. Anm. 2 zu Dok. Nr. 192.

3

S. Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1204 h, dort mit dem Datum vom 30. 10. – Über sein Vorgehen in Sachsen führte Heinze am 6.11.23 vor der RT-Fraktion der DVP aus, er habe „sofort Zeigner abgesetzt und suchte mir Männer zur Führung des Ministeriums, Reichsleitung fiel mir (telefonisch) in den Arm (Zwischenruf Dr. Becker: wer denn?). Heinze: Stresemann. Ich sollte kein Kabinett bilden, mindestens keine Ministerliste veröffentlichen. Am Dienstag kam Fischer im Auftrag Stres., ich sollte schnellstens für Wahl eines Kabinetts durch Landtag sorgen, konnte nicht retardierend wirken, oder von mir aus unsere Landtagsfraktion instruieren, sonst würde ich selbstverständlich meines Amtes enthoben worden sein. Ich fuhr dann nach Berlin, um Erweiterung meiner Vollmacht zu erbitten, leider wurde Kabinett noch in derselben Nacht gebildet. Als ich Koch und Petersen in Berlin bat, Druck auf Demokraten in Dresden auszuüben, wurde mir geantwortet, Stres. wünsche doch einen Druck auf DVP, daß sie Fellisch dulde. (Bewegung) Geßler gibt mir vollkommen Recht und ist ebenso enttäuscht wie ich“ (Pol. Arch.: NL Stresemann  87).

4

Die „Times“ meldete, wie WTB Nr. 2352 v. 31.10.23 berichtete, große Truppenzusammenziehungen in Sachsen, „die Grund zum Argwohn böten. Zahlreiche Aktionen der Militärbehörden […] stellten Verletzungen des Versailler Vertrages dar; insbesondere wird dies bezüglich der Neueinstellungen und Bewaffnungen behauptet“. Amtlicherseits wurde in Deutschland bedauert, daß die „Times“ Hetznachrichten zum Opfer gefallen sei. Vgl. hierzu auch Anhang Nr. 1.

5

S. den Fraktionsbeschluß der SPD vom 31.10.23 in Vermächtnis I, S. 191; vollständiger in Ursachen und Folgen V, Dok. Nr. 1204 i.

6

S. dazu die Äußerung Hermann Müller-Frankens in Dok. Nr. 193.

7

S. dazu Dok. Nr. 209.

8

Zur Frage der deutschen Reparationen s. Dok. Nr. 189.

9

Im Börsenbericht der „Zeit“, Nr. 251 v. 30.10.23, wurde über die Lage am 29. 10. mitgeteilt: „Die ausländischen Zahlungsmittel sowie die wertbeständigen Anleihen lagen bei Beginn der neuen Woche nicht sonderlich fest. Die erhebliche Steigerung der Markkurse an der Neuyorker Börse, der nicht ungünstige Stand der Verhandlungen zwischen der Ruhrindustrie und den französischen Behörden, die Nachricht über eine amerikanische Getreideanleihe für Deutschland und die energische Haltung der Reichsregierung gegenüber Sachsen ließen die allgemeine politische Lage eher etwas günstiger erscheinen. Selbst die Möglichkeit einer neuen Kabinettskrise wird von der Börse nicht als ungünstiges Symptom betrachtet, da man sich hiervon eine weitere Klärung der Verhältnisse verspricht. Alle diese Faktoren riefen im Zusammenhang mit der noch immer bestehenden, wenn auch etwas gemilderten Geldknappheit, eine starke Zurückhaltung am Markte der ausländischen Zahlungsmittel hervor; es zeigte sich sogar ein geringes Angebot. Die Reichsbank konnte deshalb ohne große Mühe die Kurse regulieren.“ Vgl. aber Anm. 36 zu Dok. Nr. 212.

10

Zur weiteren Behandlung im Kabinett s. Dok. Nr. 212, P. 2.

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