1.44 (str2p): Nr. 158 Oswald Spengler an Reichskanzler Stresemann. München, 20. Oktober 1923

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Nr. 158
Oswald Spengler an Reichskanzler Stresemann. München, 20. Oktober 1923

Pol.Arch.: NL Stresemann 3

[Betrifft: Verhandlungen mit General Smuts; Spenglers Ansichten zur politischen Lage.]

Herr Kanzler!

Es war mit leider nicht möglich, an dem angegebenen Tage in Berlin zu sein1, und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich dadurch Ihre Dispositionen etwas gestört haben sollte. Indessen werde ich Mitte nächster Woche bestimmt dort sein und dann um die Erlaubnis bitten, von Ihnen empfangen zu werden2.

Der angedeutete Schritt bei General Smuts ist am 4. Okt. erfolgt, und zwar durch dessen beglaubigten Vertreter, der jetzt in London ist3. Ich hoffe, daß er nicht zwecklos gewesen ist, obwohl ich mich keiner Täuschung darüber hingebe, daß der General sich in Verlegenheit befinden muß, wenn er befragt wird, was für ein Deutschland denn entlastet werden soll, ein marxistisches oder ein nationales.

Weil ich die Entwicklung der letzten Tage von hier aus mit der allergrößten Sorge verfolge, erlaube ich mir, Ihnen ganz offen darzulegen, und zwar auf Grund einer persönlichen Nähe in Bezug auf Personen und Dinge, worin ich[675] die Gefahr erblicke. (Obwohl ich weiß, daß ich vielleicht weniger Ihren Überzeugungen als Ihrer Haltung widerspreche4.)

Was die eine Seite betrifft, so hatte ich wenige Tage vor der Diktatur des Herrn von Kahr Gelegenheit, mit Exc. v. Seeckt eingehend zu sprechen5 und hatte ihm dringend geraten, in der heutigen Reichswehr nicht den Autoritätsbegriff aus der Zeit Moltkes und Roons vorauszusetzen6. Eine junge, politisch erregte, militärisch immerhin nicht sehr starke Schöpfung, wird die Reichswehr in den Parteikampf verwickelt und ist mithin ein Instrument, bei welchem man auf die Stimmung erhebliche Rücksicht nehmen muß. Zu meinem Erstaunen traf ich aber auf die Auffassung, daß die Organisation bis auf die kleinsten Einheiten, und zwar überall, bedingungslos in der Hand des Leiters sei. Der Versuch, diese verhängnisvoll unrichtige Ansicht zu berichtigen, verursachte eine gewisse Erregung7. Auch bei den Herren, welche innerhalb des Ministeriums sozusagen die politische Meinung zu behandeln haben, scheint diese Ansicht vorzuherrschen. Leider sind infolgedessen zahlreiche Fälle der Lösung von Personenfragen vorgekommen, welche auf den Konflikt zwischen Befehl und Überzeugung in der Truppe keine Rücksicht nahmen und infolgedessen die Stimmung in ganzen Formationen schwer erschüttert haben, in Bayern schon vor dem neuen Fall der Fall Epp8. Ich sehe in dieser Auffassung und ihren Folgen eine ungeheure Gefahr weit über den Bestand der Reichswehr selbst hinaus. Es kommt dazu, daß die wochenlangen Krisen in Berlin das Tagesgespräch in den Kasernen gebildet haben und Anschauungen haben aufkommen lassen, von welchen sich die oberste Leitung vielleicht eine ungenügende Vorstellung macht. Ich selbst war in der Lage, noch in Berlin und dann in größeren Städten Mitteldeutschlands unter den Soldaten Auffassungen zu finden, die einen möglichen Konflikt zwischen einer halbsozialistischen Regierung und der nationalen Bewegung im Sinne der Letzteren gelöst wissen wollen. Daß die bayerische Reichswehr in Folge mangelnder Rücksicht auf ihre Stimmung bereits ein selbständiger Körper geworden ist, braucht gar nicht erwähnt zu werden9, aber dieses Ergebnis kann, wenn man weiterhin die Imponderabilien vernachlässigt, sich plötzlich aus irgendeinem Anlaß mit ungeheurer Geschwindigkeit auch im Norden durchsetzen. Man darf nicht vergessen, daß Freiwillige[676] anders denken als Ausgehobene, zumal mitten in einer Revolution, und daß die politische Überzeugung in sehr vielen Fällen der Grund ihres Eintritts war.

Und damit komme ich auf den eigentlich[en] Anlaß dieses Briefes. Was dem Konflikt mit Bayern den ungeheuren Ernst gibt, ist der Umstand, daß hier eine rein nationale Haltung, nicht der Partikularismus, angegriffen wird, was den Einzelheiten einen so erbitternden Beigeschmack gibt. Nicht nur hier, sondern überall in Norddeutschland, wohin auch meine persönlichen Beziehungen reichen, betrachtet man Kahr als den Führer einer entschiedenen nationalen Haltung ohne Parteifärbung10. Seine Stellung ist nicht unerschütterlich, wenn er von Berlin aus angegriffen wird, wie es nicht nur durch die Sozialisten, sondern vor allem durch die Berliner „Franzosenpresse“ so planmäßig geschieht, daß der Verdacht einer Autorisation selbst in Berlin ausgesprochen wird. Wenn er aber geht, so folgt der reine Partikularismus, und damit der Bruch, den Kahr zu hindern suchte gegen die Überzeugung immer weiterer Kreise, daß die Reichsleitung sich von dem sozialistischen Druck nicht mehr befreien könne. Wenn in diesem Augenblick, wo die von der Sozialdemokratie seit 10 Jahren geforderte – immer wieder! – Unterwerfung dem Feinde gegenüber auch die Niederlage an der Ruhr ohne den geringsten Erfolg auch nur einer Atempause herbeigeführt hat, dennoch der Schein einer Koalition aufrecht erhalten werden soll, so begreift das außerhalb der Fraktionen niemand mehr. Der Riß zwischen der Gruppe der Parlamentarier und dem übrigen Deutschland ist heute so scharf als möglich und der Überdruß an dem System nimmt erschreckende Formen an. Seit Bethmann haben wir ohne Pause Erfahrung auf Erfahrung gehäuft, daß sich nur gegen die Sozialdemokratie regieren läßt, wenn überhaupt regiert werden soll. Die Versuche, mit dieser Partei oder richtiger, mit dem Parteiklüngel (oft im Widerspruch zur Arbeiterschaft) auszukommen, haben alle Fehler, Niederlagen und Verwüstungen verschuldet. Als infolge der Hilferding-Krise11 eine reine Rechtsregierung in Sicht war, ging ein Aufatmen durch alle Schichten der Bevölkerung, auch die Arbeiterschaft, vor allem auch die Reichswehr12. Der Versuch, im alten Stile weiterzuarbeiten, hat eine namenlose Erbitterung verursacht, und das Wort Reichstag ist in der Bevölkerung beinahe zum Schimpfwort geworden. Die schlimmsten Befürchtungen sind aber inzwischen übertroffen worden. Dieselbe Partei, die innerhalb der Regierung alle Schritte beherrscht, arbeitet in Mitteldeutschland in offenem Kampf gegen diese. Es ist heute schon selbstverständlich, daß die dringendsten Maßregeln, wie die Aufhebung des Achtstundentages (heute ein Wunsch der ganzen anständigen Arbeiterschaft), der Demobilmachungsordnung u.s.w. verhindert oder unwirksam gemacht werden13, daß man in Sachsen und Thüringen den Bolschewismus schonend behandelt und daß dies allein genügt, um den für jede Währungsreform notwendigen Kredit des Reiches zu vernichten. Daß außerdem die Reichswehr bis jetzt mehr gegen rechts als gegen links angesetzt wurde,[677] daß die nationale Haltung in München auf dieselbe Stufe gestellt wird wie die antinationale in Dresden, und zwar in dem Augenblick, wo Frankreich gegenüber an das Nationalgefühl appelliert wird oder werden sollte, hat die Erbitterung, wie gesagt, auch in Norddeutschland auf die Spitze getrieben14. Ich gebe mich keinem Zweifel darüber hin, daß entweder die Koalition oder das Reich zu Ende gehen wird. Der Versuch, „Jakobiner und Royalisten“ vor den Staatswagen zu spannen, würde selbst unter normalen Umständen mißglücken. In diesem Augenblick bedeutet er das Aufhören einer wirklichen Regierungstätigkeit. Daß innerhalb der Fraktionen Dinge für möglich gehalten werden, die außerhalb niemand auch nur einen Augenblick ernst nimmt, ist leider heute in allen Ländern der Welt die beständige Erfahrung15. Dazu gehört eine solche Koalition. Es ist immer die Opposition, welche dadurch Entscheidungen verhindert, ohne die Verantwortung zu übernehmen. Auch heute wird die Gegenwirkung aus dem Kabinett jenachdem in die Gewerkschaften, die Länder oder auf die Straße verlegt, und man macht heute überall für die Folgen ausschließlich die Person verantwortlich, welche allein den Koalitionsgedanken aufrecht erhält. Wenn nicht sofort ein Kabinett aus Vertrauensmännern ausschließlich der Rechtsparteien, einschließlich der bayerischen Volkspartei, die Geschäfte übernimmt, wie es vor einigen Wochen schon so gut wie gesichert war, sehe ich den Zerfall der Wirtschaft, der Reichswehr und damit des Reiches als unvermeidlich an. Im Lande gibt es darüber nur eine Meinung, aber es besteht die Gefahr, daß die Parteipresse diesen Tatbestand so lange fälscht, bis es zu spät ist.

Die nächsten Schritte gegen Frankreich kann nur eine Rechtsregierung unternehmen. Der Versuch, auch nur die Neutralität der Sozialdemokratie zu gewinnen, würde wieder alles mißlingen lassen. Aber auch England, wie ich erst kürzlich bei einer Reise in Holland feststellen konnte16, gewöhnt es sich mehr und mehr ab, mit einer Regierung in Deutschland zu rechnen, da es die Entschlußunfähigkeit einer halbsozialistischen Regierung im voraus als Faktor in Rechnung stellt. In allen Ländern Europas haben wir heute die Scheidung von Sozialismus und Nationalismus. Wir haben sie auch in Deutschland, und zwar als vollzogene Tatsache, worüber sich nur die kleine Gruppe der Parlamentarier täuscht. Diese Täuschung ist ein Hindernis für die wirtschaftliche Gesundung, für die Annäherung an die heutigen Gegner Frankreichs und endlich für die geistige und nationale Einheit im Innern. Eine Diktatur zur Verteidigung dieser Koalition bedeutet den Versuch, das nationale Element zu Gunsten des Sozialismus zu zerstören, ein Versuch, der die schwersten Erschütterungen, und zwar in allerkürzester Zeit zur Folge haben wird.

Ich wende mich deshalb unter den Eindrücken der letzten Tage ganz persönlich an Sie, Herr Kanzler. Wenn Sie die Umbildung der Regierung in dem angedeuteten Sinne nicht mit Ihren Anschauungen und Ihrer parlamentarischen Vergangenheit[678] vereinbar finden, so sehe ich nur die Möglichkeit, durch das Opfer Ihrer Stellung der Entwicklung die Bahn frei zu geben, bevor das Reich an den aus der Koalitionspolitik entstandenen Konflikten innerhalb der Reichswehr aus den Fugen geht. Seit dem Mehrheitsbeschluß vom 19. Juli 1917 haben wir im wesentlichen stets dieselbe Politik gehabt. Wir sind jetzt am Ende der Möglichkeit, für dies Prinzip und diese Gruppierung lediglich der Berufspolitiker weitere Opfer zu bringen.

Ich hielt mich für verpflichtet, Ihnen dies alles ganz offen vorzutragen. Es handelt sich nicht um persönliche Eindrücke, sondern um ganz allgemeine Überzeugungen, die soweit verbreitet sind, daß sie praktische Folgen haben werden17.

Ich verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ganz ergebener

Oswald Spengler

Fußnoten

1

Der Besuch Spenglers bei Stresemann war für den 16.10.23, 12 Uhr vorgesehen (BA: NL Stockhausen  15).

2

Daß es zu einem Besuch Spenglers bei Stresemann im Oktober 1923 gekommen ist, ließ sich nicht ermitteln.

3

Zur Kontaktnahme der RReg. mit General Smuts s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 200.

4

Zu Spenglers politischer Haltung und seiner Einstellung gegenüber dem Kabinett Stresemann II s. O. Spengler, Briefe 1913–1936, S. 260, 273, 281 ff.

5

Zu dem Bemühen Spenglers mit Seeckt in Kontakt zu kommen s. O. Spengler, Briefe S. 261, 265 f. – Über den Besuch schrieb Seeckt seiner Frau am 25.9.23: „Daß neulich Herr Spengler bei mir war, erzählte ich wohl; ich wollte, er wäre mit dem Abendland untergegangen – ein politischer Narr“ (BA-MA: NL von Seeckt  223, Bl. 143). – In den Lieber-Aufzeichnungen steht in der Rubrik „Wehrmachtsfragen“ am 15.11.23: „Vortrag Spengler im Ministerium“ (BA-MA: NL von Rabenau 40, Bl. 54).

6

Zu Seeckts Vorstellungen von Gehorsam s. Anhang Nr. 4 sowie seinen Aufruf an die Reichswehr vom 4.11.23 und seine Stellungnahme zum Verhalten der Infanterie-Schule München im Dezember 1923 (Anm. 96 und 101 zu Anhang Nr. 1).

7

Vgl. hierzu Spenglers Äußerung zu diesem Besuch gegenüber Paul Reusch, in: Briefe, S. 284.

8

Zum Fall Epp s. Anm. 10 zu Dok. Nr. 98.

9

S. demgegenüber aber das Vorgehen Seeckts gegen Lossow bereits im Frühjahr 1923, andererseits aber auch das Verhalten der Infanterieschule München (Anhang Nr. 1).

10

S. hierzu das Schreiben des Mecklenburg-Strelitzer Landbundes an Seeckt v. 30.10.23 (Anm. 81 zu Anhang Nr. 1).

11

Spengler bezieht sich auf die Demission des ersten Kabinetts Stresemann.

12

Zu politischen Bestrebungen in den ersten Oktobertagen s. Anhang Nr. 1.

13

Zu den Einzelheiten der Diskussion über das Ermächtigungsgesetz s. Dok. Nr. 102.

14

S. dazu auch die Absicht Kriegsheims gegen Thüringen zu marschieren in Anhang Nr. 1.

15

Der Satz ist handschriftlich eingefügt.

16

Spengler hatte sich im Juni in Holland aufgehalten, s. dazu auch seinen Brief an Paul Reusch vom 11.7.23, in: Briefe, S. 258 f.

17

Eine Erwiderung auf diesen Brief wurde nicht ermittelt. Zum weiteren Verhalten Spenglers gegenüber der Politik Stresemanns s. Vermächtnis I, S. 321.

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