2.2 (str2p): Nr. 2 „Ein Regierungsprogramm“ des Generals von Seeckt. [September 1923]

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Nr. 2
„Ein Regierungsprogramm“ des Generals von Seeckt. [September 1923]1

BA-MA: NL von Seeckt 139, Bl. 6–8 eigenhändig

Außenpolitik.

Einhaltung des Vers.Vertrages bis eine neue außenpolitische Konstellation Änderung erlaubt.

Daher grundsätzliche Anerkennung der Reparationspflicht, die an der Selbsterhaltung ihre Grenze findet.

Keine neue Anerkennung des Vertrages, Festhaltung der Auffassung seines Zwangscharakters, Bekämpfung seiner Schuldunterlage.

Ablehnung eines Eintritts in den Völkerbund.

Ablehnung jeder neuen Verpflichtung über die Grenzen des Vers. Vertrages hinaus, auch bezgl. des Rheinlandes.

Festhalten an der Auffassung des gegen Völkerrecht und Vertrag verstoßenden Charakter der Ruhrbesetzung und ihrer Folgen sowie der erzwungenen Aufgabe des passiven Widerstandes.

Bereitwilligkeit, zum Zweck der Reparationsleistung den Ententestaaten (und Amerika) eine Minderheitsbeteiligung an westdeutschen Werken (und den deutschen Eisenbahnen) zu gewähren.

Freihaltung der deutschen Politik von einer Festlegung gegenüber Frankreich und England. Keine Kontinentalpolitik.

[1204] Ausbau der wirtschaftlichen und politischen (militärischen) Beziehungen zu Rußland2.

Ablehnung jeder, auch wirtschaftlichen, Annäherung an Polen3.

Stellung der Beziehungen zu den östlichen Randstaaten, zur Tschecho-Slowakei, Ungarn, Türkei unter den Gesichtspunkten der russischen Politik, wobei auf gute Beziehungen zur Tsch.Sl. Wert zu legen4.

Verschieben jeder österreichischen Anschlußpolitik bis zu gründlicher Änderung der dortigen Verhältnisse.

Fernhalten von allen Deutschland nicht unmittelbar berührenden politischen Weltfragen bis zu eigener Erstarkung5. Dagegen Unterstützung jeder Art privater Weltwirtschaft.

Anstreben der Wiedererlangung von Kolonien auf friedlichem Weg.

Abstandnehmen von einer offenen, auf Angriff gerichteten Militärpolitik, dagegen Festhalten an dem Recht militärischer Selbstverteidigung und ihrer Vorbereitung innerhalb der Grenzen des Vers. Vertrages ohne Anerkenntnis willkürlicher Auslegungen desselben.

Innenpolitik einschl. Verfassung u. Justiz.

Niederwerfung aller gegen den Bestand des Reiches und gegen die ordnungsmäßige Reichs- und Staatsautorität gerichteten Bestrebungen durch Anwendung der Machtmittel des Reiches. Dazu nötigenfalls Verhängung des milit. Ausnahmezustandes.

Erhaltung und Stärkung der Reichs-Oberhoheit, insbesondere der Vollzugsgewalt.

Ausbau und Änderung der Reichsverfassung im föderativen Sinn.

[1205] Einführung einer Reichs-Ständekammer, in welcher die Berufsvertretung durch Wahl erscheint, neben dem Reichstag.

Heraufsetzung des Wahlalters auf 25 Jahre.

Befreiung von lästigen Ausländern.

Vereinigung des Kanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten.

Verschärfung der Strafen und Strafandrohung bei Roheits- und Eigentumsvergehen.

Aufhebung aller politischen Ausnahmegerichte.

Sicherung der Richterunabhängigkeit.

Politische Amnestie.

Wirtschaft einschl. sozialer Gesetzgebung6.

Entschlossene Absage an alle marxistischen Theorien und Maßnahmen, insbesondere Aufgabe aller Sozialisierungsbestrebungen.

Nichtbeteiligung der öffentlichen Gemeinwesen an Betrieben und Unternehmungen.

Aufsichtsrecht des Staates über die lebenswichtige Produktion.

Überführung der Reichs-Eisenbahn und Reichs-Post in Gesellschaftsform, wobei eine Minderbeteiligung des Privatkapitals zuzulassen ist.

Verbot der Kartelle und Syndikate. Aufhebung der Tarifverträge.

Ersatz der Gewerkschaften durch Berufskammern.

Aufrechterhaltung und Erweiterung der Arbeiter-Schutzgesetzgebung und Stellung derselben unter den Gesichtspunkt der Volksgesundheit7.

Arbeitslosenunterstützung gegen produktive Arbeit. Schrittweiter Abbau der Demobilmachungsbestimmungen. Umformung des Betriebsrätegesetzes im Anschluß an die Bildung der Berufskammern.

Anerkenntnis des Streikrechts unter festen Voraussetzungen.

Regelung der Arbeitszeit unter grundsätzlicher, aber nicht schablonenmäßiger Festhaltung des achtstündigen Arbeitstages. Übereinstimmung zwischen Lohn und Leistung.

Einführung der Berufskammern, denen vor allem der Ausgleich der wirtschaftlichen Interessen zufällt.

Durchgreifendes Vorgehen gegen Wucher und Luxusausschreitungen8, vorübergehende Einführung schwerster Strafen gegen Verstöße.

Bereitstellung von Lebensmitteln und Einwirkung auf Preisbildung bei diesen.

Wohnungsbau in Verbindung mit Beschäftigung Arbeitsloser. Aufhebung der Mieterzwangsgesetzgebung, Bauabgabe usw., aber unter Anwendung des Wucherbegriffs.

[1206] Freiheit der Entwicklung der Landwirtschaft unter Aufhebung der Zwangswirtschaft, aber unter Verpflichtung zu sozialen Leistungen (Wohnungsbau usw.) und der Ausnutzung des Bodens.

Finanzen und Steuern9.

Starke Erfassung des nicht produktiv arbeitenden Kriegs- und Nachkriegsgewinnes durch einmalige Abgabe, aber Freilassung aller kleinen und mittleren Gewinne.

Gründung der direkten Steuern auf den Begriff des Verbrauchs.

Aufhebung der Einkommen- und dauernden Vermögenssteuer.

Kein Lohnabzug.

Vereinfachung der Steuergesetzgebung.

Finanzielle Selbständigkeit der Staaten unter Aufsicht des Reiches.

Vereinfachung der Verwaltung.

Steigerung der Schutzzölle, Steigerung der Finanzzölle und Verbrauchssteuern auf Genuß- und Reizmittel.

Förderung der Ausfuhr und Drosselung der Einfuhr.

Einführung einer auf der Goldbasis beruhenden Währung. Hierzu Heranziehung und in Verkehrbringung des Reichsbankgoldes und -silbers, Devisenablieferung aus der Einfuhr – Hypotheken auf den gesamten Grundbesitz.

Beibehaltung und Ausgestaltung der Reichsbank.

Allmähliche Einziehung des laufenden Papiergeldes.

Fußnoten

1

Zur sachlichen und inhaltlichen Einordnung s. gegenüber F. v. Rabenau, Seeckt, S. 359 ff., wo eine Vermischung von Programm und Regierungserklärung (s. Anhang Nr. 3) vorgenommen worden ist, jetzt E. Kessel, Seeckts politisches Programm von 1923, S. 902 ff. mit einem Hinweis auf die Bedeutung Minoux’ für die Aussagen Seeckts, H. Meier-Welcker, Seeckt, S. 391 f., C. Guske, Das politische Denken des General von Seeckt, S. 258 f.

2

Die „Lieber-Aufzeichnungen“ enthalten eindeutige Angaben über die Zusammenarbeit der Reichswehr und der Roten Armee: „2. 9. genehmigt Seeckt die Teilnahme eines russischen Offiziers an deutschen Manövern. Die deutsche Truppe macht auf diesen starken Eindruck. Von v. Br[ockdorff]-R[antzau] erwartet das T.A. weitere Schwierigkeiten in der Russenangelegenheit. Br.-R. hat offenbar gegen Seeckts Pläne bei Ebert gebohrt. Seeckt will Ebert durch Geßler orientieren lassen. Hasse befürchtet, daß dies dann überhaupt nicht geschähe und Br.-R.s Intrigue siege. – 20. 9. wird Oberst Thomsen bestimmt, als leitender Führer des Luftfahrpersonals nach Rußland zu gehen. Hasse sagt, er dürfe nicht in Abhängigkeit von Br.R. geraten, ‚dem intriganten Querkopf‘. – 25. 9. verlangt Hilferding (Finanzminister) die Einstellung der Zahlungen in der Russenangelegenheit. Ferner hat auch Junkers erhebliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Entwertung der deutschen Währung“. (BA-MA: NL von Rabenau  40, Bl. 32/33). Über die militärischen Beziehungen zu Rußland im November ist ferner verzeichnet: „13. 11. Thomsen nach Rußland. – 14. 11. Die Waffenlieferungen aus Rußland sollen micht mehr im T.A. sondern im Waffenamt bearbeitet werden.“ Außerdem: „27. 11. Hasse orientiert die russische Botschaft über die litauischen Bündniswünsche [Defensivabkommen gegenüber Polen]. Rußland hält das litauische Angebot nicht für ehrlich. 29. 11. Schwierigkeiten der Flugzeuganfertigung in Rußland“ (ibid., Bl. 53).

3

Zu Seeckts Einstellung gegenüber Polen s. a. sein Schreiben an Kahr (Anhang Nr. 4).

4

Vgl. dazu aber auch die Überlegungen zu einem Krieg mit der Tschecho-Slowakei, Anm. 10 zu Seeckt an Kahr (Anhang Nr. 4).

5

Im Abschnitt „Westfragen“ ist in den „Lieber-Aufzeichnungen“ angegeben: „15. 9. sondiert der italienische Botschafter in Berlin wegen Deutschlands Haltung im Falle eines italienisch-jugoslawischen Konflikts. England sei Italiens Gegner wegen Korfu, Frankreich wegen Fiume. Wegen der Schwäche Jugoslawiens erscheint ein bewaffneter Konflikt unwahrscheinlich. Seeckt, von Stresemann befragt, hat diesem geraten zu antworten, wir würden uns so verhalten wie Italien 1915“ (BA-MA: NL von Rabenau  40, Bl. 32).

6

Die folgenden Ausführungen könnten sich auf die Unterhaltung Seeckts mit Minoux gründen.

7

Vgl. hierzu Brauns’ Vorstellungen von einem sanitären Maximalarbeitstag in Dok. Nr. 97, 102.

8

S. hierzu Seeckts Verordnung gegen Schlemmerlokale im November 1923 (Anhang Nr. 1).

9

S. hierzu die Vorstellungen in Helfferichs und Minoux’ Plänen für eine Währungsstabilisierung sowie Seeckts finanzpolitische Aktionen im November 1923.

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