1.117.1 (wir2p): [Wirtschaftliche Notlage]

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Die Kabinette Wirth I und II (1921/22). Band 2Bild 146III-105Bild 183-L40010Plak 002-009-026Plak 002-006-067

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[Wirtschaftliche Notlage]

Der Herr Reichskanzler hieß die Erschienenen willkommen und gab zunächst eine kurze Darlegung des augenblicklichen Standes der Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und den Vertretern der Reparationskommission. Der heutige Tag sei für das deutsche Volk als einer der ernstesten anzusehen. Die Vorschläge der Reichsregierung seien von den Vertretern der Entente als unzureichend bezeichnet werden, während die Entente ihrerseits ungeheuliche Forderungen gestellt hätte1. Es werde wohl dem Reich nichts übrigbleiben, als diese Forderungen abzulehnen, und der nachfolgende Kabinettsrat werde sich mit dieser Frage beschäftigen. Wie die Entscheidung auch ausfallen werde, so werde sie der Notwendigkeit Rechnung tragen müssen, daß die Erfüllung da eine Grenze finde, wo die Brotversorgung für das deutsche Volk in Gefahr komme.

Die Gewerkschaften, als deren Sprecher Herr Graßmann auftrat, unterbreiteten sodann die in den anliegenden 2 Niederschriften enthaltenen Vorschläge zur Abwendung bzw. Milderung der deutschen Wirtschaftskatastrophe.[1048] Die Vorschläge wurden zur Verlesung gebracht und kurz durchgesprochen2. Bei den meisten der Vorschläge konnte der Reichskanzler erklären, daß diese bereits Gegenstand eingehender Beratungen des Reichskabinetts gewesen seien, und in kürzester Zeit eine Entscheidung der Regierung hierüber zu erwarten sei. Soweit die Vorschläge neu seien, müßten erst die Ressorts im einzelnen Stellung nehmen.

Seitens der Gewerkschaften wurde angeregt, daß die Tatsache, daß das Umlageverfahren bezüglich des Getreides funktioniere, wohl einer Veröffentlichung in der Presse bedürfe. Der Reichskanzler erklärte, daß er diesen Wunsch für berechtigt halte und dem Reichsernährungsministerium hiervon Mitteilung machen werde. Auch wurde dem Wunsch Ausdruck gegeben, daß die Regierung in dieser schwierigen Situation nicht nur mit den Arbeitnehmern, sondern auch mit den Arbeitgebern Fühlung nehme. Evtl. müsse man auch der Frage eines absoluten Alkoholverbots nähertreten, ebenso einem Verbot des Butterhandels, solange wenigstens, bis für Kinder und Kranke die nötige Milch beigeschafft sei. Dies ließe sich natürlich nicht ohne Wiedereinführung der Zwangswirtschaft durchführen.

In der Debatte erklärte der Reichskanzler daß es seine Absicht sei, den Schritt der Gewerkschaften außenpolitisch zu verwerten und in geeigneten Mitteilungen an die deutschen Auslandsvertreter dahin zu wirken, daß die berufenen Persönlichkeiten des Auslands von der durch die Gewerkschaften heute betonten entsetzlichen Notlage des deutschen Volkes Kenntnis erhielten.

Herr Graßmann gab Mitteilung, daß die Gewerkschaften bereits telegraphische Hilferufe nach Amsterdam und London heute hätten abgehen lassen.

Der Reichskanzler bat die Gewerkschaften, all ihren internationalen Einfluß im Interesse der deutschen Wirtschaft geltend zu machen.

Nachdem der Herr Reichskanzler sich entfernt hatte, leitete Staatssekretär Zapf vom Reichsfinanzministerium die weiteren Verhandlungen, die sich insbesondere auf steuerlichem Gebiete bewegten.

Es wurde beschlossen, daß die Gewerkschaften der Reichskanzlei gemeinsame Vorschläge schriftlich in allernächster Zeit unterbreiten sollten, die dann den einzelnen zuständigen Ressorts von der Reichskanzlei zugeleitet werden könnten, um diese Ressorts in die Lage zu versetzen, mit den Gewerkschaften die einzelnen Materien durchzusprechen. Nach Abschluß dieser Verhandlungen solle erneute Kabinettsberatung stattfinden, wenn erforderlich, nach nochmaliger Beratung mit den Gewerkschaften.

Anliegende Notiz für die Presse wurde zur Verlesung gebracht und von den Gewerkschaften gebilligt3. Die Veröffentlichung soll durch die Reichsregierung erfolgen.

Fußnoten

1

Näheres siehe Dok. Nr. 353.

2

In der Anlage findet sich 1. eine zweiseitige Aufzeichnung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, gezeichnet von Baltrusch, zur Abwendung bzw. Milderung der deutschen Wirtschaftskatastrophe; die darin aufgezählten möglichen Maßnahmen sind untergliedert in währungspolitische, finanz- und handelspolitische, ernährungspolitische Maßnahmen, Transportfragen und Maßnahmen zur Produktionssteigerung (Auszug siehe Dok. Nr. 355 Anm. 6); 2. eine zweiseitige Aufzeichnung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Teuerung vom ADGB (Auszug siehe Dok. Nr. 355 Anm. 3 und 4, R 43 I /1132 , Bl. 231-234).

3

In R 43 I /1132 , Bl. 235.

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