1.6 (str1p): Abbruch des passiven Widerstandes und Micum-Verträge

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Die Kabinette Stresemann I und II. Band 1Gustav Stresemann und Werner Freiherr von Rheinhaben Bild 102-00171Bild 146-1972-062-11Reichsexekution gegen Sachsen. Bild 102-00189Odeonsplatz in München am 9.11.1923 Bild 119-1426

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Abbruch des passiven Widerstandes und Micum-Verträge

Die Regierung der Großen Koalition, die aus innerpolitischen Gründen – Arbeitszeitfrage, Sachsen, Bayern – von Krisen geschüttelt und nach kurzer Lebensdauer frühzeitig beendet wurde, war im August 1923 gebildet worden, um den aussichtslos gewordenen passiven Widerstand abzubrechen, zu einer tragbaren Neuregelung der Reparationsverpflichtungen zu gelangen und die zerrüttete Währung zu stabilisieren. Dies war der Rechtfertigungsgrund ihrer Existenz. Ihre Bewährungsprobe lag in der Bewältigung dieser Aufgaben, die zugleich eng verflochten waren mit der Abwehr des Separatismus und der Kontrolle rheinischer Autonomiebestrebungen.

Der Verfall der Mark konnte nur aufgehalten und die Währung stabilisiert werden, wenn die Belastung der Reichsfinanzen durch den passiven[LV] Widerstand wegfiel und die Arbeit im Ruhrgebiet wieder aufgenommen wurde. Zehn Tage nach der Regierungsbildung zog das Kabinett Bilanz des Ruhrkampfes181. Eine Fortführung des Widerstandes schien allenfalls noch bis zum Beginn des Winters denkbar. Ob der Abwehrwille bis dahin aufrechterhalten werden konnte, hing von der ohnehin knappen Versorgung der Ruhrbevölkerung mit Lebensmitteln und Kohlen ab, vor allem aber davon, wie lange das Reich noch in der Lage sein würde, der Industrie Kredite und den Arbeitslosen Unterstützung zu gewähren. Aber auch der moralische Aspekt gab zu denken. Stresemann und dem preußischen Ministerpräsidenten Braun schien es, daß der Abwehrwille nachlasse. Sie sprachen geradezu von einer Demoralisierung der Bevölkerung. Der preußische Innenminister Severing meinte in tiefem Pessimismus, von einem passiven Widerstand könne eigentlich überhaupt nicht mehr die Rede sein: die Schutzpolizei habe sich gefügt und die Geschäftswelt ihren Frieden mit den Franzosen geschlossen; er beklagte den „moralischen Tiefstand der Arbeiterschaft“, insbesondere ihren Mangel an „gewerkschaftlicher Disziplin“182. Neben der Würdigung des Abwehrwillens und der Opfer, die die Bevölkerung des Einbruchsgebietes gebracht habe, ist in den Reichskanzleiakten jener Wochen die Klage über moralische Verfallserscheinungen, über mißbräuchliche Verwendung von Ruhrgeldern und über würdeloses Verhalten gegenüber der Besatzungsmacht ein wiederkehrendes Motiv183. Die Gewerkschaften ihrerseits warnten davor, den Durchhaltewillen, solange noch keine klare Regierungsentscheidung gefallen war, durch Pressemeldungen über einen beabsichtigten Abbau oder Abbruch des Ruhrkampfes zu schwächen184. Die inneren Schwierigkeiten, den Widerstand zu alimentieren, wuchsen. So gab das Reichsbankdirektorium eine drastische Schilderung davon, welche Listen angewendet werden mußten, um gegenüber einer immer dichter werdenden Abschließung des Ruhrgebietes auf Schleichwegen die notwendigen Zahlungsmittel dorthin zu bringen185, und der Kölner Oberbürgermeister Adenauer meldete nach seiner ersten Unterredung mit dem französischen Hohen Kommissar Tirard, daß die Franzosen sich weigerten, auf die Beschlagnahme der für Ruhrhilfe und Erwerbslosenunterstützung bestimmten Gelder zu verzichten186. In den Tagen vom 4. bis 6. September wurde den Vertretern der besetzten Gebiete offiziell die Absicht der Regierung mitgeteilt, über den Abbruch des Widerstandes mit Frankreich zu verhandeln187. Aber der Abbruch des passiven Widerstandes wäre für Frankreich, wenn überhaupt, dann allenfalls auf der Höhe des Kampfes ein Verhandlungsgegenstand gewesen. Jetzt war er, mit späteren Worten Stresemanns, längst eine „stumpf gewordene Waffe“188. Es war für alle[LVI] Beteiligten einleuchtend, daß die zerrütteten Reichsfinanzen zum Abbruch zwangen. Wer aber sollte nach außen hin die Verantwortung übernehmen? Stresemann – so scheint es – hätte das gerne den Rheinländern überlassen. Es hätte seine Position gegenüber dem Reichstag und gegenüber den innenpolitischen Gegnern auf der Rechten erleichtert, wäre auch insofern konsequent gewesen, als – wie es der Reichs- und Staatskommissar für gewerbliche Fragen im Ruhrgebiet Mehlich formulierte – „die Bevölkerung monatelang als Urheber des Widerstandes gefeiert worden“ war189. Gegen die Aufkündigung des Widerstandes durch Kommunalbehörden und Verbände sprach das Argument, daß durch einen solchen Schritt in der Bevölkerung der Wille zum Widerstand gegen den Separatismus geschwächt werden konnte190, und für den Abbruch durch die Regierung, daß die erstrebten Verhandlungen mit Frankreich in ihrer Hand bleiben mußten191. Schließlich hat das Kabinett klar und unzweideutig die Verantwortung für den schweren Schritt übernommen. Aber Stresemann versicherte sich zuvor der Zustimmung der Parteien, der Wirtschaftsverbände des besetzten Gebietes sowie der Länder192. Nur die Deutschnationalen erhoben Einwände. Sie verlangten, daß der Abbruch mit einer gleichzeitigen Aufkündigung des Versailler Vertrages und der Reparationsverpflichtungen verbunden sein müsse. Das entsprach der von Jarres in der Besprechung der Wirtschaftsverbände vertretenen These. Ähnlich argumentierte der bayerische Ministerpräsident Knilling. Er bestritt nicht die Unmöglichkeit, den Widerstand fortzusetzen, wollte aber den Anschein der Kapitulation vermeiden und plädierte dafür, einen „vertraglosen Zustand“ mit Frankreich eintreten zu lassen. Die am 25. September beschlossene, am 26. September erlassene Proklamation über den Abbruch des passiven Widerstandes war in ihrer Anklage gegen die Einbruchsmächte zwar deutlich, aber doch zurückhaltender als im ursprünglichen Entwurf vorgesehen193; die Reichsregierung wollte die Tür für mögliche Verhandlungen mit Frankreich nicht zuschlagen. Dennoch war der Abbruch, so wie er jetzt erfolgte, eine Kapitulation. Geßler hatte den Mut, das Unvermeidliche beim Namen zu nennen194, so sehr sich auch Parteien und Regierung im übrigen gegen die Verwendung dieses Begriffes sträubten.

In der Tat erfolgte der Abbruch des passiven Widerstandes unter ganz anderen Umständen, als sich das Stresemann bei der Übernahme des Kanzleramtes vorgestellt hatte. Es ist anhand der Akten der Reichskanzlei nicht möglich, die Außenpolitik des Reichskanzlers Stresemann in ihren einzelnen diplomatischen Schritten nachzuzeichnen195. Wohl aber lassen sie deutlich[LVII] die einzelnen Etappen des politischen Rückzugs erkennen, der von seiner durch optimistische Erwartungen gekennzeichneten Ausgangsposition schließlich zur bedingungslosen Kapitulation führte.

Stresemann setzte zunächst nicht geringe Hoffnungen auf die britische Regierung. Diese war aus ihrer langen Zurückhaltung herausgetreten und hatte in einer am 11. August an Frankreich und Belgien gerichteten und alsbald veröffentlichten Note die Unrechtmäßigkeit der Ruhrbesetzung festgestellt und zudem die französische These zurückgewiesen, daß sich die Überprüfung der deutschen Zahlungsfähigkeit durch einen Sachverständigenausschuß wegen der hierfür gegebenen Zuständigkeit der Reparationskommission erübrige. In einem Gespräch mit Lord D’Abernon, dem britischen Botschafter196, gab Stresemann der Genugtuung darüber Ausdruck, daß sich die britische Regierung den deutschen Rechtsstandpunkt zu eigen gemacht habe. Im Kabinett meinte er am 23. August, Deutschland sei nicht mehr isoliert, aber England sei nun „bemüht, Frankreich zu isolieren, Italien und Belgien auf seine Seite zu bringen und Amerika für die Reparationslösung zu interessieren“197. Aber die Note vom 11. August blieb ohne die erwartete Folgewirkung. England sah sich nicht in der Lage, Frankreich von seiner starren Haltung in der Reparations- und Ruhrfrage abzubringen. Am 7. September erklärte Stresemann im Kabinett resigniert: „Auf England kann man nicht warten“198. Er stellte sich nunmehr in einer zweiten Phase seiner Bemühungen, den Ruhrkampf durch einen Verhandlungsfrieden zu beenden, auf „offiziöse“ Kontakte mit Frankreich ein. Durch ein gleichsam nicht amtliches Verhandeln wollte er die französische These unterlaufen, daß erst ein Abbruch des passiven Widerstandes Gespräche möglich mache. So erklärte Staatssekretär v. Maltzan dem französischen Botschafter am 4. September, man könne der französischen Forderung, keine Verhandlungen vor Aufgabe des passiven Widerstandes, gerecht werden, „wenn nicht der Ministerpräsident, sondern Herr Poincaré nicht dem deutschen Reichskanzler, sondern Herrn Stresemann durch einen hiesigen amtlichen Vermittler eine bindende Zusicherung gebe, daß unmittelbar nach Einstellung des passiven Widerstandes die mit dem Reichskanzler besprochenen Momente, nämlich Rückkehr der Gefangenen und Vertriebenen, Wiederverfügung über Verwaltung, Administration und Eisenbahnregie eintreten würden. Herr Poincaré wäre dann immer in der Lage zu sagen, daß nunmehr, nachdem der passive Widerstand eingestellt sei, er freiwillig diese Erleichterungen gegeben habe …“199. Hinter solchem Bemühen um die Ingangsetzung offiziöser Vorverhandlungen standen die weitreichenden Angebote, die Stresemann in Fortführung von früheren Gedanken Cunos öffentlich in seinen Reden vom 24. August und 2. September gemacht hatte200, nämlich: Gewährleistung von produktiven Pfändern durch eine hypothekarische[LVIII] Belastung der deutschen Wirtschaft, Gewährleistung der französischen Sicherheit durch einen Rheinpakt201. Er hatte aufgrund seiner Kontakte mit dem französischen Botschafter den Eindruck, daß die „Atmosphäre“ für inoffizielle Verhandlungen mit Frankreich durchaus gegeben sei. Von der Hoffnung geleitet, daß Frankreich nicht den „völligen Zusammenbruch Deutschlands“ wolle, wies er noch am 15. September die Forderung Otto Brauns und Rudolf Hilferdings, den Widerstand sofort abzubrechen, zurück. Dies sei „beim jetzigen Stande der Verhandlungen“ ein schwerer Fehler202. Jedoch seine Bemühungen203 scheiterten. Weder die belgische noch die französische Regierung war dazu zu bewegen, irgendein Zugeständnis vor dem Abbruch des Widerstandes zu machen204. Auch der wiederholte Hinweis, die Folge einer bedingungslosen Einstellung des deutschen Widerstandes werde darin bestehen, daß den Einbruchsmächten die volle Last der Verantwortung für die Versorgung der Ruhrbevölkerung zufalle, machte weder in Paris und Brüssel noch in London Eindruck. Die Begegnung zwischen dem britischen und dem französischen Regierungschef Baldwin und Poincaré in Paris am 19. September schien zudem die Wiederherstellung des Einvernehmens zwischen den Ententemächten anzuzeigen. Am folgenden Tage zog die Reichsregierung die Konsequenz aus der Lage. Sie stellte sich – in einer dritten Phase ihrer Bemühungen um eine Beendigung des Ruhrkampfes – auf die bedingungslose Kapitulation ein205, allerdings immer noch in der Erwartung, daß nun wenigstens die Folge der Aufgabe des Widerstandes der Beginn von Verhandlungen mit Frankreich, und sei es zunächst nur über die Zustände an Rhein und Ruhr, sein werde206.

Aber wiederum sah sich Stresemann in seinen Erwartungen widerlegt. Auch nachdem Deutschland am 26. September den Widerstand an der Ruhr eingestellt hatte, weigerte sich Poincaré nach wie vor, mit der Reichsregierung zu verhandeln207. Diese sah sich gezwungen, weiter Schritt um Schritt zurückzuweichen. Während im Innern ihre Autorität und die Einheit des Reiches durch Koalitionskrise, Buchruckerputsch, Kommunistenaufstand in Hamburg und die Konflikte mit Sachsen, Thüringen und Bayern in Frage gestellt wurde und der Wert der Mark nun gänzlich ins Bodenlose verfiel, drohte im Westen der Verlust von Rhein und Ruhr.

Unter Umgehung der Reichsregierung erstrebte die französische Besatzungsmacht örtliche Vereinbarungen mit der Ruhrindustrie. Schon vor Abbruch des passiven Widerstandes hatte die Reichsregierung mit Mißtrauen beobachtet, daß einzelne Industrielle versuchten, sich mit den Franzosen zu arrangieren, war aber zugleich bereit, solche Konktate zu nutzen208. Als[LIX] nach dem Abbruch des Widerstandes Frankreich immer noch keine Bereitschaft zeigte, mit der Reichsregierung die Fragen auszuhandeln, die sich aus einer Wiederaufnahme der Arbeit ergaben, wurde die Ruhrindustrie insgesamt vor die Notwendigkeit gestellt, unmittelbar mit der Mission Interalliée de Contrôle des Usines et des Mines (MICUM) ins Reine zu kommen. Eine erste Besprechung zwischen General Degoutte, dem französischen Befehlshaber der Invasionstruppen, und einer Sechserkommission des Bergbaulichen Vereins, deren Sprecher Stinnes war, fand am 5. Oktober in einem Augenblick, in dem die Regierung durch die Koalitionskrise gelähmt war, in Düsseldorf statt. Auch die Gewerkschaften führten Gespräche mit Degoutte209. Stresemann hatte sich im Kabinett zunächst „grundsätzlich gegen Sonderverhandlungen im besetzten Gebiet“ ausgesprochen, „ehe nicht eine offizielle Antwort von Paris oder Brüssel eingetroffen sei über die Geneigtheit, mit der deutschen Regierung überhaupt zu verhandeln“210. Er konnte jedoch den Beginn unmittelbarer Industrieverhandlungen nicht verhindern. Durch sie wurde die Reichsregierung vor die Frage gestellt, ob sie bereit sei, für zukünftige Reparationskohlenlieferungen, von deren Ingangsetzung auch die Wiederaufnahme der Arbeit an der Ruhr abhing, sowie für die von den Franzosen in Anspruch genommene Reichskohlensteuer Entschädigung zu zahlen211. Ob man diesem Verlangen der Ruhrindustrie entsprechen solle, wurde von den verschiedenen Reichsressorts unterschiedlich beurteilt. Die entschiedensten Vorbehalte äußerten Finanzminister Luther und Wirtschaftsminister Koeth. Schon gab es im Reichswehrministerium und in der linken Presse Stimmen, die von Landesverrat sprachen. Gewerkschaften und SPD waren empört darüber, daß die Bergherren in ihrer Verhandlung mit Degoutte von der Notwendigkeit gesprochen hatten, im Ruhrgebiet die Arbeitszeit zu erhöhen. In dieser Atmosphäre der Verdächtiguingen lag dem Bergbaulichen Verein daran, seine weiteren Verhandlungsschritte mit der Reichsregierung abzustimmen. Vollendete Tatsachen hingegen – im Unterschied zu dem vorsichtigeren Vorgehen der Kohlenindustrie und im Gegensatz auch zu Fritz Thyssen, der für seine Hüttenbetriebe jede Verhandlung mit der MICUM ablehnte – schuf Otto Wolff für die Gruppe Phönix-Rheinstahl. Stresemann sah im Vorgehen der Industrie und namentlich im Lieferungsabkommen Otto Wolffs mit der MICUM eine Untergrabung der Reichsautorität nach außen und innen. Die Position Poincarés, der mit dem Reich nicht verhandeln wolle, werde hierdurch gestärkt und die Regierung mehr oder weniger präjudiziert212. Stresemann ging so weit, das selbständige Vorgehen der Industrie dafür verantwortlich zu machen, daß es trotz aller Bemühungen der Reichsregierung nicht zu unmittelbaren Kontakten zwischen Berlin und Paris kam213. Die Folge aus der neuen Situation war für die Reichsregierung ein weiterer Schritt zurück. Die Sechserkommission wurde durch einen Brief Stresemanns[LX] am 12. Oktober nunmehr zu Verhandlungen über die Wiederingangsetzung der Ruhrwirtschaft ausdrücklich ermächtigt, unter dem Vorbehalt allerdings, daß die Reichsregierung „weder eine Garantie für die Zahlung der Reparationskohle noch für einen Ersatz der beschlagnahmten Kohle noch einen Ersatz für die Kohlensteuer übernehmen“ könne. Gleichzeitig wurde die vier Tage später verordnete Aufhebung der Kohlensteuer angekündigt. Man erwartete von dieser Maßnahme eine Senkung des Kohlenpreises, unausgesprochen aber sollte sie auch dem Zweck dienen, die Ruhrkohlenindustrie von den entsprechenden Zahlungen an die Besatzung zu entlasten214.

Doch auch diese Position ließ sich nicht halten. Der Rückzug ging weiter. Stresemann suchte der von Stinnes formulierten Alternative, Obstruktion gegen die französischen Forderungen oder Unterwerfung, wovon die erste den sicheren, die zweite den möglichen oder wahrscheinlichen Verlust des Ruhrgebietes bedeuten werde, dadurch zu entkommen, daß er angesichts wachsender Arbeitslosenzahlen und zur Vermeidung einer Hungerkatastrophe das Kabinett veranlaßte, auf das Angebot der Ruhrindustrie einzugehen, auf eine gewisse Zeit Reparationskohle unter Inanspruchnahme eigenen Kredits, aber unter grundsätzlicher Anerkennung einer Entschädigungspflicht seitens des Reiches zu liefern, unter dem Vorbehalt allerdings, daß die Hoheitsrechte des Reiches gewahrt, das hieß in concreto die Verbindung der Ruhr mit der deutschen Wirtschaft nicht durch eine Zollgrenze und Ausfuhrbeschränkungen seitens der Einbruchsmächte zerschnitten würde215. Eine erneute Schwierigkeit tauchte auf, als die MICUM, deren Vorsitzender Franzen jetzt anstelle des Generals Degoutte die Verhandlungen mit den Vertretern der Industrie führte, auf der zukünftigen Bezahlung der Kohlensteuer, auch nachdem sie durch Reichsverordnung aufgehoben war, bestand. An dieser deutlichen Verneinung der deutschen Hoheitsrechte im Ruhrgebiet scheiterten zunächst die Industrieverhandlungen216. Hierzu erklärte Stresemann am 25. Oktober vor den Vertretern des besetzten Gebietes in Hagen: „Zahlten wir heute die Kohlensteuer noch an Frankreich, dann erklärten wir den Einbruch für rechtsgültig, dann würden wir alles, was wir gegen die Rechtswidrigkeit gesagt haben, de facto zurücknehmen. Gewissermaßen ein wirtschaftliches Schuldbekenntnis ausgedrückt in wirtschaftlicher Steuerzahlung. Selbst wenn wir das Geld hätten, könnten wir das nicht aus politischen Gründen; denn ein zweites Schuldbekenntnis in bezug auf Ruhr und Rhein wird hoffentlich keine deutsche Regierung und kein deutscher Mann jemals mitmachen“217. Im Gegensatz zu dieser Bekundung von Entschiedenheit ließ jedoch das Auswärtige Amt, um die festgefahrenen Verhandlungen wieder in Gang zu bringen, und wohl kaum ohne Einverständnis Stresemanns, die Bergherren wissen, daß die „Zahlung der Kohlensteuer keine Frage des Prinzips der Hoheitsrechte“ sei, nachdem die Reichsregierung der Wirtschaft[LXI] freie Hand zur Verständigung mit den Besatzungsbehörden gegeben habe218.

Mit dieser Rückversicherung und nachdem die Firma Krupp in einer Sonderabmachung mit der MICUM die Verpflichtung auch zur Zahlung der Kohlensteuer anerkannt hatte219 und eine Reihe anderer Unternehmen sich ebenfalls auf ihre Weise mit der MICUM arrangierten220, sah sich die Sechserkommission legitimiert, auf diesem Wege zu folgen221. Die Regierung hatte angesichts der auf sie zukommenden Lasten bei drohenden Massenentlassungen in der Ruhrindustrie keinen Ausweg; sie mußte abermals nachgeben. „Der Kampf um das besetzte Gebiet“, so erklärte Stresemann vor dem Kabinett am 1. November, „habe jetzt seinen Höhepunkt erreicht, und jeder Schritt, welcher einer Derelinquierung des Gebiets und der Bevölkerung durch das Reich gleichkomme, würde einen verhängnisvollen politischen Fehler darstellen“222. Der Sechserkommission wurde mitgeteilt, daß seitens des Reiches eine Ersatzverpflichtung auch für die Kohlensteuer anerkannt werde unter der Voraussetzung, daß diese wie alle anderen Lieferungen der Ruhrindustrie an die Besatzungsmächte dem deutschen Reparationskonto gutgeschrieben würde223. Für den Abtransport der Kohle durch die deutsche Binnenschiffahrt sollte ähnlich verfahren werden224.

Auch das Rheinische Braunkohlensyndikat in Köln erstrebte ein Abkommen entsprechend dem Vorgang der Ruhrkohlenindustrie. Dessen Verhandlungen mit der MICUM fanden ihren Niederschlag in einem vorläufigen Abkommen, das neben den kostenlosen Lieferungen und den Zahlungen an die Einbruchsmächte eine weitgehende Kontrolle der MICUM über den Export in das unbesetzte Deutschland und in das Ausland vorsah. Nach Auffassung der Kommission bedeutete die vorgesehene Regelung „eine vollkommene Unterwerfung der gesamten Industrie unter die Direktiven der MICUM“225.

Vor dem endgültigen Abschluß der Verhandlungen zwischen Ruhrkohle und MICUM tauchten jedoch neue Schwierigkeiten auf, als diese sich Mitte November weigerte, den Wert der von der Industrie getätigten Lieferungen und Zahlungen dem deutschen Reparationskonto gutzuschreiben226. Sie wollte aus einer Pfänderkasse, in die der Wert aller Zahlungen und Lieferungen der Industrie einfließen sollte, zunächst die Kosten für die Ruhrbesetzung nehmen und nur den Überschuß dem Reparationskonto gutschreiben. Natürlich weigerte sich die Reichsregierung gegenüber der Industrie zunächst, irgendeine Ersatzpflicht für Leistungen anzuerkennen, die nicht dem Reparationskonto gutgeschrieben würden227. Schließlich jedoch kam ein Kompromiß zustande,[LXII] da sowohl den Franzosen, die nach Meinung der deutschen Unterhändler Zeichen von Nervosität zeigten, wie den Deutschen daran gelegen sein mußte, die Wiederaufnahme der Arbeit im Ruhrgebiet nicht an dieser Frage scheitern zu lassen228. Am 23. November 1923, dem gleichen Tage, an dem Stresemann zurücktrat, wurde in Düsseldorf das MICUM-Abkommen unterzeichnet, demzufolge die Kohlen- und Sachlieferungen dem Reparationskonto gutgeschrieben wurden, die Kohlensteuer aber der Pfänderkasse, aus der sich zunächst die Besatzung für ihre eigenen Zwecke bediente. Der Repko notifizierte die Reichsregierung, daß sie sich mit diesem Vertrag habe „abfinden müssen“, aber eine Erstattungsverpflichtung gegenüber der Industrie nur insoweit übernommen habe, als Leistungen dem Reparationskonto tatsächlich gutgeschrieben würden. Zugleich legte sie eine abermalige Rechtsverwahrung ein gegen Ruhrbesetzung, Pfänderpolitik und insbesondere auch gegen das „Verfahren unmittelbarer Verträge der Besatzungsbehörden mit deutschen Werken“229.

Fußnoten

181

Dok. Nr. 18.

182

Vgl. Besprechung mit Reichs-, Landes- und Gemeindebeamten Dok. Nr. 18, Anm. 15 und Besprechung Stresemanns mit Otto Wolff, Verm. 1, S. 94.

183

Dok. Nr. 56; 59; 76; 79.

184

Dok. Nr. 39, vgl. ferner Dok. Nr. 56, Anm. 4 u. Dok. Nr. 60, Anm. 10 u. 12.

185

Dok. Nr. 42.

186

Dok. Nr. 58.

187

Dok. Nr. 43.

188

Dok. Nr. 179.

189

Dok. Nr. 49.

190

Dok. Nr. 43, Anm. 2.

191

Dok. Nr. 50.

192

Dok. Nr. 76; 77; 79; 80.

193

Dok. Nr. 81 u. Anm. 16.

194

Dok. Nr. 81.

195

Vornehmlich auf den deutschen diplomatischen Akten beruhen W. Weidenfeld, Die Englandpolitik Gustav Stresemanns (1972), und M.-A. Maxelon, Stresemann und Frankreich (1972); neben den deutschen sind auch die französischen unveröffentlichten Akten in vollem Umfange ausgewertet worden von J. Bariéty, Les relations franco-allemandes après la première guerre mondiale (Paris 1977).

196

Dok. Nr. 8.

197

Dok. Nr. 18.

198

Dok. Nr. 47; unter dem gleichen Datum ausführliche Richtlinien zur auswärtigen Politik in: Vermächtnis 1, S. 108 ff.

199

Aufzeichnung über dieses Gespräch in Nachlaß Bd . 261.

200

Auszüge in: Vermächtnis 1, S. 98 f. u. 100 f.

201

Dok. Nr. 34.

202

Dok. Nd. 59.

203

Dok. Nr. 61; 62; 64.

204

Information der deutschen Auslandsvertretungen durch StS v. Maltzan 18. 8., Dok. Nr. 65, Anm. 7.

205

Dok. Nr. 71.

206

Vgl. Aufzeichnung Min.Dir. Schubert vom 20. 9., Dok. Nr. 71, Anm. 10; Dok. Nr. 82.

207

Dok. Nr. 83 u. Anm. 8; 97.

208

Dok. Nr. 30.

209

Dok. Nr. 111; 176; 177.

210

Dok. Nr. 97.

211

Dok. Nr. 120.

212

Dok. Nr. 123; 125; 153.

213

Dok. Nr. 125.

214

Dok. Nr. 128; 131.

215

Dok. Nr. 146; 149; 155; 156; 160.

216

Dok. Nr. 162.

217

Dok. Nr. 179.

218

Dok. Nr. 179, Anm. 27.

219

Dok. Nr. 197.

220

Dok. Nr. 208, Anm. 2.

221

Dok. Nr. 208.

222

Dok. Nr. 212.

223

Dok. Nr. 213.

224

Dok. Nr. 213; 218.

225

Dok. Nr. 229.

226

Dok. Nr. 246; 250; 258.

227

Dok. Nr. 262; 275, Anm. 4.

228

Dok. Nr. 275.

229

Dok. Nr. 278; 281.

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