Text
Nr. 32
Rede des Reichskanzlers in Hamburg. 31. Dezember 19221
[…] Es ist mir eine besondere Freude, an der Wende des alten zum neuen Jahr hier zu Ihnen sprechen zu dürfen, über die großen Sorgen, die unser aller Herz bewegen, zur Vereinigung des Ehrbaren Kaufmanns sprechen zu dürfen in einem Kreise, dessen Arbeit der Wirtschaft Deutschlands und ihrer Verbindung mit der Welt gewidmet ist.
Aus berufenem Munde haben wir vor einigen Tagen gehört, daß Hamburg die Brücke sei zwischen Amerika und Deutschland2. Ich nehme dieses Wort gern auf, aber was am stärksten diese Verbindung trägt, nicht nur mit den Vereinigten Staaten, sondern mit der ganzen Erde, ist nach dem Sinne jenes feinen Wortes nicht die Stadt, sondern ihr Geist: der Geist des Ehrbaren Kaufmanns. Dieser Geist pflegt die Verhandlungen des Wirtschaftlers hier in Hamburg zu beherrschen nach den Methoden, die aus ihm fließen und die mir durch fünf harte und doch glückliche und wertvolle Lehrjahre des Wiederaufbaus hier in Hamburg Lebensregel waren. Nach diesen Methoden, die aus diesem Geist fließen, werde ich die Verhandlungen des Reiches führen (Bravo!), um dem Reich und dem Volk zu dienen und zugleich der Anbahnung eines wahren Friedens der Völker, zu dem dieser Vorabend des neuen Jahres besonders mahnt. Dieser Frieden, meine Herren, kann nur erreicht werden, wenn alle Völker sich entschlossen auf den Boden der Wirklichkeit stellen. Das gilt vor allem auch für das Reparationsproblem.
Mein grundsätzlicher Standpunkt zu diesem Problem ist Ihnen aus meiner Rede im Reichstag bekannt3. Sie wissen, daß die neue Regierung vom ersten Tag an mit allen Kräften daran gearbeitet hat, eine Lösung des Problems zu[104] finden, die von uns getragen und von der Gegenseite angenommen werden kann. Wir stehen vor einem Problem, das unendlich schwierig und nur lösbar ist, wenn alle Beteiligten sich entschließen, die Dinge so zu nehmen und zu sehen wie sie sind. Schwerlich wird ein billig denkender Mensch es der neuen Regierung verargen, wenn sie für die Quadratur des Zirkels, um die sich die prominentesten Staatsmänner und die hervorragendsten Wirtschaftsautoritäten der Welt seit vier Jahren vergeblich bemühten, eine jeder Kritik entrückte Lösung in kurzen vier Wochen nicht zu finden vermochte; denn tatsächlich handelt es sich um etwas wie die Quadratur des Zirkels. Was wir vom Standpunkt des ehrlichen, ehrbaren Kaufmanns bieten können, läuft Gefahr, von der Gegenseite als unzureichend zurückgewiesen zu werden, und was weit genug geht, um ihr Wohlgefallen zu finden, entfernt sich in gleichem Maße von der grundsätzlichen kaufmännischen Ehrlichkeit. (Bravo! – Sehr gut!)
Dabei ist zu beachten, daß die richtig verstandene Leistungsfähigkeit Deutschlands sich aus finanziellen und wirtschaftlichen Faktoren ergibt. So kann auch die Lösung der Frage nicht lediglich eine bank- und finanztechnische sein, sondern nur in einem wohlgestimmten Zusammenklang von finanzieller Leistung und wirtschaftlichem Ausgleich bestehen. Rechtlich und tatsächlich ist diese Frage der Leistungsfähigkeit entscheidend. Rechtlich, weil nach dem Vertrag von Versailles die Hilfsmittel und die Leistungsfähigkeit Deutschlands das Maß für den Umfang der Verpflichtungen Deutschlands geben; tatsächlich, weil eine Überschreitung der Leistungsfähigkeit zur Vernichtung und zur Zertrümmerung der Substanz und der künftigen Leistungsmöglichkeiten führen muß, nie aber zu einer Steigerung der Leistungen selbst führen kann.
Beim Antritt der Regierung, meine Herren, habe ich im Reichstag auf die Zeugnisse hingewiesen, die von unparteiischer ausländischer Seite über die Frage der deutschen Leistungsfähigkeit vorliegen. Nur die wichtigsten, verantwortlichsten dieser Erklärungen hebe ich heraus. Ihnen allen ist das Gutachten bekannt, das das Internationale Anleihekomitee in Paris nach einer rein wirtschaftlichen Prüfung der Sachlage im Juni dieses Jahres der Reparationskommission erstattet hat4. Dieses Dokument, nach meiner Überzeugung das weiseste und mutigste, was je über die Reparationsfrage geschrieben ist, sollte die Magna Charta, den Katechismus für alle künftigen Erörterungen und Untersuchungen des Reparationsproblems bilden. Der kurze Sinn dieses denkwürdigen Dokuments ist, daß Deutschland aus eigenen Mitteln die ihm zugemutete Reparationslast nicht tragen kann, daß es dazu vielmehr an den internationalen Kapitalmarkt appellieren muß, daß ein solcher Appell aber nur dann Erfolg verspricht, wenn die Schuldsumme des Londoner Ultimatums auf ein erträgliches Maß herabgesetzt wird, die Reparationsfrage geregelt und Europa von dem Damoklesschwert der Zwangs- und Gewaltmaßnahmen, der Sanktionen und Retorsionen befreit wird. (Bravo!) Nicht minder bedeutungsvoll sind die hiermit übereinstimmenden Gedankengänge der Gutachten, die Anfang November von den beiden Gruppen der internationalen Sachverständigen in Berlin nach eingehender Prüfung aller tatsächlichen Verhältnisse erstattet worden[105] sind5. Sie sind überdies einig darin, daß jeder Versuch zur Stabilisierung der Mark scheitern muß, solange Deutschland nicht für einige Zeit von den Zahlungen aus dem Versailler Vertrag entlastet wird.
Die Verbindung des Gedankens der endgültigen Lösung mit dem Gedanken der Anleihen regiert auch die Note der Reichsregierung vom 14. November 1922. Dieselbe Verbindung finden Sie in den Vorschlägen wieder, die ich dem englischen Ministerpräsidenten als dem Vorsitzenden der Anfang Dezember in London tagenden Premierministerkonferenz unterbreitet habe6. Diese Vorschläge waren dazu bestimmt, der endgültigen Lösung der Reparationsfrage die Wege zu eröffnen.
Meine Herren! Heute handelt es sich darum, auf diesem Wege weiterzugehen, denn neue Erörterungen und neue Untersuchungen haben uns in der Erkenntnis bestärkt, Deutschland braucht, um leisten zu können, internationale Anleihen; aber Deutschland hat nur dann Aussicht auf solche Anleihen, wenn seine Leistungspflicht endgültig klargestellt ist. Das Ziel unserer Arbeit war, die Leistungsfähigkeit Deutschlands festzustellen und Mittel und Wege zu finden, um diese Leistungsfähigkeit für die endgültige Lösung der Reparationsfrage nutzbar zu machen. Das ist in enger Fühlungnahme mit Personen und Kräften des Wirtschaftslebens geschehen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann ich Ihnen, meine Herren, nicht verschweigen, daß das erneut gewonnene Bild von dem noch verbliebenen Rest unserer Leistungsfähigkeit trübe ist. Das kann die Welt nicht wundern, hat doch die Reparationskommission selbst am 31. August dieses Jahres einstimmig die deutsche Zahlungsunfähigkeit anerkannt. Zur Erklärung bedarf es wirklich nicht der Unterstellung, die wir unlängst wieder hören mußten, daß Deutschland sich als Schuldner selbst systematisch ruiniert habe, um der Reparationszahlung zu entgehen.
Es ist wahr, meine Herren, daß unsere deutsche Wirtschaft bedenkliche Merkmale des Ruins zeigt. Es ist Ruin, wenn unser Ackerboden nicht mehr so bestellt und gedüngt ist, wie vor dem Krieg, wenn wir für die Volksvermehrung keine neuen Häuser bauen, die Menschen zusammenpferchen und die Häuser zu schaden kommen lassen müssen, wenn die Industrie die flüssigen Betriebsmittel größtenteils verloren hat und ihre Renten, in Goldmark berechnet, überhaupt nicht mehr Gewinn zu nennen und ohne kapitalbildende Kraft sind. Aber wenn gesagt wird, daß solcher Ruin von uns angestrebt worden sei, um mögliche Leistungen unmöglich zu machen, meine Herren, glaubt jemand im Ernst, daß Deutschland nur, um seine Schuldner zu benachteiligen, Selbstmord begeht? Die Wahrheit sieht anders aus! Der schwerste und unglücklichste Krieg der neueren Geschichte hat uns wertvolle Bestandteile nationalen Gewinns und Volksvermögens genommen. Seine Folge hat eine tiefgreifende Zerrüttung unserer Wirtschaft über uns gebracht. Schlimmer noch als dies: der Vertrag von Versailles hat Deutschland von der wirtschaftspolitischen Gleichberechtigung der Völker ausgeschlossen, seiner Wirtschaft den festen Boden[106] entzogen, unsere Währung zerrüttet und unseren Wirtschaftlern die Möglichkeit klarer Dispositionen genommen. (Sehr richtig!)
Und trotz alledem haben wir in den letzten Jahren Leistungen an die Gegenseite durchgeführt, wie sie größer kein Volk in der neueren Geschichte als Kriegsentschädigung jemals gezahlt hat. (Bravo! – Sehr wahr!) Aber richtig bleibt: unsere Leistungsfähigkeit ist im Streite befangen. Was wir für ein kaum noch erträgliches Opfer halten, das uns entgegen dem ungeschriebenen Recht unseres Volkes und entgegen den Bestimmungen des Vertrags ans Leben geht, mag hinter den Erwartungen selbst der ehrlich auf eine praktische Lösung Bedachten auf der andern Seite zurückbleiben. Wer von beiden hat recht? Wo ist das unparteiische, untrügliche Barometer der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft? Im Leben des einzelnen ist das Spiegelbild seiner Leistungsfähigkeit sein Kredit. Im Leben der Völker ist es nicht anders. Unsere Leistungsfähigkeit kann am besten gemessen werden an dem Kredit, den die Finanzwelt Deutschland zu gewähren bereit ist und an dem Maß, an dem die internationalen Sachverständigen die Ernsthaftigkeit ihres Votums durch die Wirtschaft zu bekräftigen entschlossen sind, die von ihnen als aufbringbar bezeichneten Summen in der Form internationaler Anleihen auf sich zu nehmen und ihrer Kundschaft anzubieten. Kein Gläubiger der Welt aber wird Deutschland Kredit gewähren, ehe die Leistungsverpflichtung Deutschlands so bestimmt sicher umschrieben ist, daß er über die Grundlagen seines Kredits ein völlig klares Bild hat. (Sehr richtig!)
Neben diesen Notwendigkeiten, die für Deutschland wie für seine Gläubiger gelten, steht das Bedürfnis vor allem Frankreichs, alsbald mit einer bestimmten Summe rechnen zu können. Auch dieses Bedürfnis ist uns mit unseren Vertragsgegnern gemeinsam, denn wir brauchen gleichfalls bestimmte Größen für die Gegenwarts- und Zukunftsberechnung unserer nationalen Wirtschaft. So sind wir entschlossen, eine feste erste Summe auf uns zu nehmen. Wir sind bereit, diese feste Summe als Anleihen durch Vermittlung eines internationalen Finanzkonsortiums aufzubringen und, soweit dies im Anleiheweg nicht gelingt, Zins- und Tilgungsquote zu bezahlen. Da nach dem Urteil der Welt die deutsche Wirtschaft zerrüttet, zermürbt und verarmt, für die nächsten Jahre der Ruhe bedarf, soll der Betrag, der für den Dienst der Anleihe in den ersten Jahren erforderlich ist, aus dem Ertrag der Anleihe selbst gedeckt werden, um der deutschen Wirtschaft eine Zeit der Erholung und Gesundung zu gönnen. Auch der hiervon erhoffte Aufschwung unserer Wirtschaftskraft soll der Gegenseite zugute kommen. Darum machen wir uns anheischig, für eine weitere Reihe von Jahren bis zu begrenzter Höhe durch Vermittlung des gleichen Konsortiums weitere Anleihen aufzunehmen, wenn und soweit das Konsortium dies für möglich hält.
Eine solche Regelung der finanziellen Seite der Frage würde zugleich den Weg für die Durchführung der wirtschaftlichen Notwendigkeiten ebnen, die in ihrer Auswirkung einen wesentlichen Teil des Gesamtproblems bilden, denn so würde die Grundlage dafür geschaffen werden, daß die aufeinander angewiesenen Industrien Europas, namentlich die Frankreichs und Deutschlands, zu langfristigem Ausgleich ihrer Interessen mit dem Endziel höchstmöglicher Produktivität[107] zusammenarbeiten. Zu einer solchen Kooperation sind die deutschen Wirtschaftskreise bereit. (Bravo!)
Wir sind uns, meine Herren, tief der schweren Verantwortung bewußt, die in dem vor Ihnen umrissenen Vorschlag liegt, aber wir nehmen sie auf uns, weil der Weg, den wir damit gehen, uns zunächst aus dem Sumpfboden der gegenwärtigen Wirtschaft auf zwar steinigen, aber festen Boden führen wird. Von dem aus können und werden wir mit aller Kraft darangehen, die Mark wieder zu einem festen Wertmesser zu machen und unser Budget wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Dann wird sparen wieder Sinn haben, Fleiß und kaufmännische Berechnung werden zu Ehren kommen, der Ertrag der Arbeit eines Lebens kann wieder festgehalten, kurz, unsere Wirtschaft wieder ehrlich gesunden und sittlich werden. (Bravo!) Wir nehmen die schwere Verantwortung einer solchen Lösung vor allem aber deshalb auf uns, weil am Ende des Weges, den wir gehen wollen, die Freiheit des deutschen Volkes steht. (Bravo!) Diese Hoffnung wird in unserem Volk in allen Schichten und Erwerbsständen die letzte Kraft auslösen, für die Freiheit zu arbeiten und Opfer zu bringen; Opfer des Besitzes, Opfer der Arbeit und Arbeit für jeden nach dem Maß seiner Kraft.
Die Reichsregierung weiß, daß die wirtschaftlichen Kräfte Deutschlands, namentlich der Industrie und der Bankwelt, trotz der sorgenvollen Frage, ob die Grenze unserer Leistungsfähigkeit nicht schon überschritten sei, entschlossen sind, die Reichsregierung bei der Durchführung ihres Vorschlags zu unterstützen. (Bravo!) Die Reichsregierung ihrerseits ist gewillt, die ganze Kraft der Wirtschaft auf der Seite des Staates für dieses Ziel zu sammeln. So wird sie in der Lage sein, dem Anleihekonsortium jede vernünftige Sicherheit einzuräumen. Die Bestimmung dieser Sicherheiten im einzelnen bleibt Sache der Verhandlungen. Zur Mitwirkung hierbei und insbesondere zu Verhandlungen wegen einer zu übernehmenden Garantie ist die deutsche Wirtschaft bereit. (Bravo!)
In der Stärke des Staates, meine Herren, in der Kraft der Wirtschaft im Staate und in ihrem Willen zum Staat liegt die wertvollste Bürgschaft für die Einlösung der Unterschrift, die die Reichsregierung geben will, und Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, daß ich keine Unterschrift geben werde, zu deren Einlösung ich mich nach den inneren Verhältnissen des Partners, den ich zu vertreten habe, nicht stark genug fühle. (Lebhaftes Bravo!) Das bedingt noch ein anderes. Wir werden gleichzeitig unserer Wirtschaft, um sie für die ungeheure Last tragfähig zu machen, die freie Bewegung ihrer Kräfte nach Möglichkeit heben und werden in der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung viel mehr als bisher das Ziel des höchsten Leistungsgrades der Wirtschaftskraft voranstellen müssen. (Bravo!) Ich brauche Einzelheiten hier nicht zu wiederholen In meiner Reichstagsrede habe ich, anknüpfend an die Note der Reichsregierung vom 14. November, hierfür Aufschluß gegeben. Ein wirklicher Erfolg dieser Bemühungen ist nur dann möglich, dann aber auch sicher, wenn die endgültige Regelung des Reparationsproblems nunmehr erfolgt.
Diese endgültige Lösung verlangt die Vereinigung aller Kräfte; aber dann ist auch notwendig, daß alle Kräfte nur auf diesen Wirtschaftsplan der Reparation[108] vereinigt werden ohne Nebenlasten und Nebenleistungen. Das ist die Voraussetzung für die praktische Durchführbarkeit des Vorschlags. Darum muß die endgültige Lösung alles, was neben der Reparation auf Deutschland an sonstigen Lasten aus dem Vertrag liegt, in sich aufnehmen, abgelten und erledigen. (Bravo!) Sie muß dem deutschen Volk die wirtschaftspolitische Freiheit und Gleichberechtigung wiedergeben (Bravo!), sie muß den Abbau der Besetzung der deutschen Lande am Rhein bringen (Lebhaftes Bravo!), wie aus tief empfundenen seelischen und sittlichen Gründen, so schon deshalb, damit die sich täglich mehrende unproduktive Last und alle Hemmungen, die auf unserer deutschen Wirtschaft dort liegen, endgültig verschwinden. (Bravo!) Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort müssen geräumt werden. (Sehr richtig!) Sie muß die Absage sein an jede Politik von Sanktionen und Retorsionen, von Zwangsmaßnahmen und Gewaltmaßnahmen. (Bravo!) Es ist doch auch, meine Herren, kein Verzicht auf Rechte, die der Vertrag von Versailles der Gegenseite gibt, wenn anerkannt wird, daß keine Bestimmung des Vertrages den Zugriff auf deutsches Privatvermögen – auch nicht den Zugriff auf Staatsvermögen – freigibt und kein Versäumnis Deutschlands den Vertragsgegner zu militärischen Maßnahmen berechtigt.
Das, meine Herren, ist, in den Umrissen gezeichnet und im großen gesprochen, die sachliche Lösung des Problems, die wir für möglich halten und für die wir die Kraft unserer Wirtschaft einsetzen wollen. In London kam es nicht zu Verhandlungen zwischen Alliierten und Deutschen. Nur in Verhandlungen aber, meine Herren, – ich komme immer wieder auf diese Methode zurück, weil von ihr die Erreichung des Zieles abhängt – nur in offener Aussprache von Mann zu Mann kann die Lösung gefunden und besiegelt werden. (Sehr richtig!)
Das Schicksal unserer bisherigen Vorschläge hält uns ab, schon heute ohne Aussicht auf Verhandlungen unsere neuen Vorschläge der Gegenseite in allen Einzelheiten zu unterbreiten. (Sehr richtig! – Bravo!) Dagegen haben wir sie ersucht, einem Vertreter der Reichsregierung Gelegenheit zu geben, der in Paris zusammentretenden Konferenz unseren Vorschlag als Antrag der Reichsregierung schriftlich vorzulegen und mündlich zu erläutern. (Bravo!)7
Meine Herren! Hoffen wir, daß die von uns gewünschte sachliche Aussprache nicht durch Entschlüsse der Gegenseite vereitelt wird, die nicht nur über Deutschland, sondern über ganz Europa unabsehbares Unheil bringen würden. (Sehr richtig!) Ich denke an die Pfänderpolitik, von der in der Presse der Gegenseite die Rede ist. Für eine solche Politik ist kein Raum. (Bravo!) Wer trotzdem solche Pfänderpolitik heischt, hat nicht wirtschaftliche, sondern[109] politische Ziele im Auge. (Sehr richtig!) Wer sie nimmt, begeht Vertragsbruch und Gewalt. (Lebhaftes Bravo!) Die Verwirklichung der politischen Pfänderpolitik bedeutet den Tod aller wirtschaftlichen Reparation. (Sehr richtig!) Aber nicht wir allein, andere auch erkennen die Erfolglosigkeit solcher Zwangsmaßnahmen und die ernsten Gefahren, die in ihnen liegen.
Vor meiner Abreise nach Hamburg habe ich aus der Presse von der Rede Kenntnis erhalten, die der Secretary of State, Hughes, in der Historischen Gesellschaft in Newhaven gehalten hat8. Er hat danach von hoher Warte die unlösbaren Zusammenhänge beleuchtet, durch die das Schicksal Europas mit dem Problem der Reparationen verflochten ist. Da mir der offizielle Wortlaut noch nicht vorliegt, muß ich mir versagen, zu seinen Ausführungen und Vorschlägen im einzelnen Stellung zu nehmen, aber soviel kann ich schon heute sagen, daß die Gedankengänge des amerikanischen Staatsmannes sich nahe mit unserer Auffassung berühren und wir ihnen aufrichtig ernsteste Beachtung wünschen.
Sie werden, meine Herren, den Eindruck gewonnen haben, daß wir getan haben, was immer in unserer Kraft steht, um den materiellen Ansprüchen der anderen Seite Rechnung zu tragen. Aber wir haben uns gefragt, ob nicht, besonders um unserer bedrängten Volksgenossen am Rhein willen und zur Beschleunigung ihrer Befreiung von der Besatzung noch mehr geschehen sollte. In Frankreich, meine Herren, wird die Notwendigkeit der Besetzung der Rheingebiete auch mit der Besorgnis vor kriegerischen Absichten Deutschlands begründet. Diese Besorgnis ist irrig. Um den Beweis hierfür zu liefern, haben wir die französische Regierung durch Vermittlung einer dritten Macht wissen lassen, daß Deutschland bereit ist, gemeinsam mit Frankreich und anderen am Rhein interessierten Großmächten sich gegenseitig zu treuen Händen einer am Rhein nicht interessierten Großmacht für ein Menschenalter, also ein Mehrfaches der im Vertrag von Versailles vorgesehenen Besetzungsfrist, feierlich zu verpflichten, ohne besondere Ermächtigung durch Volksabstimmung gegeneinander keinen Krieg zu führen. Eine solche Verpflichtung würde alle beteiligten Völker statt auf Krieg auf Frieden einstellen und die denkbar sicherste Friedensgarantie bilden9. Zu meinem Bedauern muß ich mitteilen, daß Frankreich dieses Anerbieten abgelehnt hat. (Lebhafte Pfuirufe!)10
[110] Meine Herren! Am Ende des alten Jahres stehen wir vor der Frage, ob mit ihm die Politik der Gewalt zu Grabe getragen und das neue Jahr wirklich den Frieden bringen soll, den Europa und die ganze Welt dringend braucht; den wirklichen Frieden, zu dem Seine Heiligkeit der Papst in seiner erhabenen Weihnachtsbotschaft die Völker der Erde aufruft, wofür ihm tief empfundener Dank aller, die guten Willens sind, sicher ist. Wir glauben, nicht besser als auf dem von uns erstrebten Weg an der Erreichung dieses hohen Ziels mitarbeiten zu können. Daß das neue Jahr uns hierzu verhelfen wird, bleibt unsere Hoffnung. Aber nicht mit einer Hoffnung möchte ich schließen, sondern mit einem Wort des Entschlusses, zu dem wir uns vor aller Welt bekennen: Wir alle im deutschen Volk wollen uns, wenn unsere Hoffnung wahr wird, in starker Opfer- und Arbeitsgemeinschaft, wenn aber neue Enttäuschungen kommen, in dem gleich starken Willen zusammenfinden, uns durch nichts, aber auch gar nichts trennen zu lassen und weiter in Einigkeit und Recht um die Freiheit des Volkes und Vaterlandes ringen. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)
Fußnoten
- 1
Am 3.1.23 wurde dieses Wortprotokoll von der Handelskammer Hamburg dem RK zugesandt. Der durch die Presse verbreitete Text der Rede bringt Kürzungen und einige stilistische Glättungen. Hier sind nur die Begrüßungsworte fortgelassen worden. Der 27seitige Entwurf der Rede Cunos, vom RAM und von MinR Ritter mit zahlreichen handschriftlichen Verbesserungen versehen, findet sich im AA (Büro RM 1 f, Reden des Reichskanzlers über auswärtige Politik Bd. 3).
- 2
Äußerung des amerik. Botschafters Houghton anläßlich seines Besuchs in Hamburg.
- 3
Regierungserklärung Cunos vom 24.11.22.
- 4
Der Schlußbericht des Internationalen Anleihekomitees vom 10.6.22 ist in seinen wichtigsten Passagen abgedruckt bei Bergmann: Der Weg der Reparation, 1926, S. 173–175.
- 5
Gutachten vom 7. und 9.11.22, der dt. Reparationsnote vom 14.11.22 angefügt, in RT-Drucks. Nr. 6138, Bd. 379, abgedruckt.
- 6
Noten vom 14. 11. und 9.12.22 abgedruckt ebd., außerdem in Ursachen und Folgen Bd. IV, S. 416 ff. und S. 433 ff.
- 7
Am 31.12.22 telegrafierte das AA der dt. Botschaft in Paris: „Bitte der dortigen Regierung baldmöglichst unter Hinweis auf heutige Hamburger Rede Reichskanzlers, die Standpunkt der RReg. in Reparationsfrage ausführlich darlegt, offiziell mitzuteilen, daß RReg. im engsten Einvernehmen mit maßgebenden Vertretern deutschen Wirtschaftslebens die in Deutschland vorhandenen Möglichkeiten für eine endgültige Regelung der Reparationsfrage geprüft und danach einen Plan ausgearbeitet hat, zu dessen Durchführung die Unterstützung deutscher Wirtschaft, namentlich Bankwelt und Industrie, gesichert ist. Sie wollen hieran Ersuchen knüpfen, daß einem Vertreter der RReg. Gelegenheit gegeben werde, unseren Plan der in Paris zusammentretenden Konferenz zu unterbreiten und mündlich zu erläutern.“ (Telegrammwechsel zwischen dem AA und der dt. Botschaft in Paris in R 43 I/36, Bl. 234).
- 8
Hughes schlug in seiner Rede am 29.12.22 in Newhaven die Einberufung eines internationalen Sachverständigenausschusses vor, der Höhe und Art der dt. Reparationszahlungen unter Berücksichtigung der dt. Leistungsfähigkeit feststellen sollte. Auf diesem Wege seien die USA bereit, an der Lösung der Reparationsfrage teilzunehmen. Mit Mißfallen sähe man in den USA, daß Schritte erwogen würden, die, anstatt Reparationen zu erbringen, eine Katastrophe herbeizuführen drohten. Amerika hege nicht den leisesten Wunsch, daß Frankreich irgendeinen Teil seiner gerechten Ansprüche verliere, aber es wünsche Deutschland nicht vernichtet zu sehen. Keine wirtschaftliche Wiederherstellung Europas sei möglich, sofern Deutschland sich nicht wieder erhole. Entsprechende Meldungen enthielten die Abendausgaben der dt. Zeitungen vom 30.12.22. Engl. und dt. Text der Rede Hughes in: Archiv der Friedensverträge Bd. II, 1926, S. 220 ff.
- 9
Am 13.12.22 war der dt. Botschafter in Washington telegrafisch aufgefordert worden, der amerik. Reg. vertraulich zu erklären: „Wenn Regierung und Volk der Vereinigten Staaten zur Rettung Europas mit dem Vorschlage hervortreten sollten, daß die am Rhein interessierten Mächte, nämlich Frankreich, England, Italien, Deutschland, sich gegenseitig zu treuen Händen der Regierung der Vereinigten Staaten feierlich verpflichten möchten, für ein Menschenalter ohne besondere Ermächtigung durch Volksabstimmung keinen Krieg gegeneinander zu führen, so würde Deutschland nicht zögern, eine solche Verpflichtung zu übernehmen.“ (AA Büro RM 5, Reparationen Bd. 9; gedruckt im Weißbuch des AA ‚Materialien zur Sicherheitsfrage‘, 1925, S. 10). Am 15. 12. trug Botschafter Wiedfeldt dem amerik. Außenminister die Erklärung vor und berichtete darüber nach Berlin: „Hughes begrüßte Erklärung betr. am Rhein interessierten Staaten sehr, bezeichnete ihn als wirklichen Schritt vorwärts, zumal derartige Sonderabkommen der beteiligten amerikanischen Politik homogen sind gegenüber allgemeinem Völkerbund; will vorsichtig bei anderen Staaten vorfühlen.“ (Telegramm vom 15.12.22 im AA, a.a.O.). In R 43 I waren zur Entstehung und Übermittlung dieses Angebots keine Akten zu ermitteln.
- 10
Poincaré hatte den frz. Botschafter in Washington entsprechend angewiesen. Das dt. Angebot wurde als Versuch gewertet, die drohenden Sanktionsmaßnahmen abzuwenden; zudem könne ein derartiges Angebot für Frankreich nur im Zusammenhang mit einer positiven amerik.-engl. Garantie von Wert sein. Formal sei auch die vorgesehene Volksabstimmung und die Beschränkung auf ein Menschenalter für Frankreich unbefriedigend und unannehmbar. Zu den diplomatischen Verhandlungen zwischen der frz. und amerik. Regierung vgl. Foreign Relations of the United States 1922, Vol. II, S. 204 ff. Am 2.1.23 gibt der amerik. Außenminister eine Presseerklärung zum dt. Vorschlag einer Friedenssicherung ab und erklärt die frz. Ablehnung mit verfassungsrechtlichen Bedenken, die in Frankreich einer Volksabstimmung über Krieg und Frieden entgegenständen.