2.154 (bau1p): Nr. 152 Der Reichsaußenminister an den Reichskanzler. 20. Januar 1920

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 5). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Das Kabinett BauerKabinett Bauer Bild 183-R00549Spiegelsaal Versailles B 145 Bild-F051656-1395Gustav Noske mit General von Lüttwitz Bild 183-1989-0718-501Hermann EhrhardtBild 146-1971-037-42

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 152
Der Reichsaußenminister an den Reichskanzler. 20. Januar 1920

R 43 I /340 , Bl. 138–139

[Betrifft: Auslieferungsfrage.]

Die nach Ratifikation des Friedensvertrages akut werdende Auslieferungsfrage stellt das Auswärtige Amt vor wichtige Personal-Entscheidungen.

Es ist keinerlei Zweifel, daß weder der Direktor der Friedens-Abteilung1 noch auch andere höhere Beamte des Auswärtigen Amtes sich bereit finden werden, an der Auslieferung Reichsdeutscher an die bisherigen Feinde aktiv mitzuwirken2. Diese Stellungnahme beruht auf einer Anschauung, die von[555] der großen Überzahl aller Deutschen geteilt wird, und ist im Grunde selbstverständlich innerhalb einer ausgesprochen politischen Behörde, deren Beamte bestimmt sind, auch nach der Niederlage Deutschlands ihr Land aufrechten Sinnes im Auslande zu vertreten.

1

MinDir. von Simson.

2

Das Argument der Obstruktion seitens der Beamtenschaft wird vom RAM nicht nur gegenüber dem RK verwendet, sondern soll auch nach außen gegenüber der Entente eingesetzt werden. In diesem Sinne weist er am 20. 1. den dt. Botschafter in Wien an, der um entsprechende Information gebeten hatte, um über die frz. Botschaft in Wien auf die Alliierten in der Auslieferungsfrage einzuwirken. In dem Erlaß führt der RAM aus, daß neben den Beamten der Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, die sich „wahrscheinlich sämtlich weigern“ würden, auch keine Polizeiorgane zu einer gewaltsamen Festnahme und Auslieferung bereit wären. „Wo es der Fall wäre, müßte man darauf gefaßt sein, daß Offiziere und Mannschaften der Reichswehr und Reichsmarine sofort gegen die Polizei vorgehen und die Gefangenen mit Gewalt befreien würden.“ Es würde aber nicht bei einzelnen Meutereien bleiben, vielmehr müsse „auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß die Reichswehr es unternimmt, die Regierung zu stürzen und eine militärische Diktatur aufzurichten“. Als Alternative wäre allenfalls anzunehmen, daß die Reichswehr auseinanderlaufe und heute brauchbare Soldaten „den Werbungen der Kommunisten und Spartakisten [folgten], was umso bedenklicher wäre, als sie sich im Besitz von Waffen befinden“ (PA, Deutschland Nr. 163 Geh., Bd. 3).

Wie dem auch sei, muß das Auswärtige Amt auch vom rein geschäftlichen Standpunkt aus Sorge tragen, daß nach Überreichung der Auslieferungsliste nicht ein Stillstand der Geschäfte auf einem bestimmten Arbeitsgebiete eintritt, das, nachdem der Frieden von uns akzeptiert ist, von irgend welcher Seite jedenfalls bearbeitet werden muß.

Es kann sich also, so wie die Dinge liegen, nur darum handeln, die Auslieferungssachen, deren Zuständigkeit ganz zweifellos außerhalb des Ressorts des Auswärtigen Amtes liegen, so bald wie möglich auch formell der Bearbeitung dieser Behörde zu entziehen. An sich wäre in erster Linie das Reichsjustizministerium zuständig, in zweiter Linie das Reichsministerium des Innern als Reichs-Polizei-Zentral-Behörde. Da aber das Reichsjustizministerium schon jetzt bei der Übernahme des normalen Auslieferungs-Referates des Auswärtigen Amtes Schwierigkeiten macht, so ist anzunehmen, daß es nicht bereit sein würde, im jetzigen Stadium die Auslieferungen zu übernehmen. Der Standpunkt des Reichsministeriums des Innern ist hier nicht bekannt, wird aber zweifellos auch kein entgegenkommender sein, da jede Behörde bestrebt sein wird, diese Aufgabe sich möglichst fernzuhalten. Bei dieser Sachlage wird nichts anderes übrig bleiben, als die Angelegenheit sobald wie möglich im Kabinett zur Sprache zu bringen3 und eine Lösung der Frage dahin zu versuchen, daß vielleicht eine unmittelbar dem Kabinett unterstehende Kommission4 speziell mit der Auslieferungsfrage befaßt und mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet wird.

3

Lt. hschr. Vfg. des RK vom 23. 1. soll die Angelegenheit in der nächsten Kabinettssitzung behandelt werden.

4

Randvermerk Brechts: „Wer wird da eintreten?“

Jedenfalls wollte das Auswärtige Amt nicht versäumen, in dringlicher Form schon jetzt auf das Vakuum hinzuweisen, das nach Überreichung der Auslieferungsliste in der Friedens-Abteilung des Auswärtigen Amtes zweifellos entstehen würde5.

5

Ohne daß das Schreiben vom RKab. behandelt worden wäre, vermerkt UStS Albert am 26. 1. am Rand: „Nun wohl zurückstellen?“ – Inzwischen hatte Frhr. von Lersner in einer Note vom 25. 1. dem Präs. der Pariser Friedenskonferenz, Millerand, die nach Ansicht der RReg. objektive Unmöglichkeit, einem Auslieferungsbegehren der Entente zu entsprechen, dargestellt. Er bezog sich dabei ausdrücklich auf die den All. bekannte dt. Aufzeichnung zur Auslieferungsfrage vom 5.11.19, in der die vermeintlich ausweglose Lage der RReg. bereits geschildert worden war (vgl. Dok. Nr. 100, P. 1, insbesondere Anm. 3). In dieser Aufzeichnung war als Ersatz für den Verzicht der Entente auf die Auslieferung die Verfolgung von Kriegsverbrechen und -vergehen durch dt. Justizorgane angeboten worden, wofür deutscherseits mit einem entsprechenden Ges. vom 18.12.19 die juristische Handhabe geschaffen worden war (vgl. Dok. Nr. 125, P. 6). In der Note vom 25. 1. bot die RReg. – gestützt auf die Kabinettsbeschlüsse vom 11.11.19, TOP 1 – weitergehende Garantien, wie z. B. die Aufhebung der bestehenden Amnestiegesetze, an, um „auf diesem Wege die den Artikeln 228 bis 230 des Friedensvertrags zugrundeliegenden Absichten der alliierten und assoziierten Mächte tatsächlich verwirklichen“ zu lassen (Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919. Bd. II, S. 942 ff.). Die Absicht der RReg., „die Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag nach bestem Können und ohne Hintergedanken auszuführen“, legt der neue dt. Geschäftsträger in Paris, der bisherige RSchM Mayer, dem frz. MinPräs. und AM Millerand bei seinem Antrittsbesuch am 29. 1. nochmals dar. Angesichts der existenzbedrohenden Wirkung der Auslieferungsforderung habe er Millerand aber auch auf den Völkerrechtsgrundsatz „ultra posse nemo obligatur“ hingewiesen (Der dt. Geschäftsträger in Paris an den RAM, 29.1.20; PA, Handakten Simson, Nr. 56). – Die in der Note vom 25. 1. enthaltenen Vorschläge gehen in den Entw. eines Ergänzungsgesetzes zum Ges. zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und -vergehen vom 18.12.19 ein, den der RJM am 26.2.20 der NatVers. vorlegt (s. Dok. Nr. 172, P. 1).

Müller

Extras (Fußzeile):