Text
Politische Lage.
Der Reichskanzler bittet um Mitteilung der Stellungnahme der Fraktionen.
Reichsminiser der Finanzen: Die Mehrheit der Sozialdemokratischen Fraktion habe es abgelehnt, die sozialpolitischen Fragen durch Ermächtigungsgesetz zu regeln1.
[460] Reichskanzler Unter diesen Umständen sehe er keinen Weg, das Ermächtigungsgesetz zustande zu bringen.
Der Reichsarbeitsminister fragt, ob der Weg der gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit in der Fraktion nicht erörtert sei. Er habe vorher ausgeführt, daß die Zentrumsfraktion hierzu grundsätzlich bereit sei2.
Reichsminister des Innern Nach der Erklärung des Kanzlers hätte die Fraktion angenommen, daß die Deutsche Volkspartei diesen Weg ablehne.
Der Reichskanzler bestätigt die Richtigkeit dieser Auffassung.
Der ReichsverkehrsministerOeser: Der Aufruf der Deutsch-Nationalen Volkspartei3 zeige, was der jetzigen Situation folgen könne. Seine Fraktion sei bereit, die Arbeitszeit gesetzlich zu regeln und die andere Frage auf dem Verordnungswege zu erledigen4. Weiter könne man noch erörtern, ob nicht Verordnungen auf sozialpolitischem Gebiet dem 6. Ausschuß vorzulegen seien. Ein weiteres Hinausziehen der Krisis sei unmöglich.
Der Reichsmin. für Wiederaufbau: Die Sozialdemokraten seien in der Bayernfrage entgegengekommen, ebenso in der Ermächtigung zu finanz- und wirtschaftspolitischen Verhandlungen. Seines Erachtens spiele die Arbeitszeit keine entscheidende Rolle. Es sei unverantwortlich, wegen dieser Frage das Kabinett zu sprengen. Für seine Partei sei es unmöglich, die Arbeitszeit durch Verordnung zu regeln, sie könne die Arbeiterschaft nicht verprellen. Die Sozialdemokraten wollten auf finanziellem und wirtschaftlichem Gebiet energisch eingreifen, in der Arbeitszeitfrage könne sie aber nicht weiter entgegenkommen.
Auch er sehe jetzt keinen Ausweg. Der Achtstundentag sei das Einzige, was der Arbeiterschaft noch geblieben sei. Er bitte dringend, das Kabinett nicht an dieser Frage scheitern zu lassen.
Der Reichsverkehrsminister Alle Mitglieder des Kabinetts hätten ernsthaft versucht, es zu halten. Er verstehe die schwierige Lage der Sozialdemokraten; es könne jetzt aber nur ein Programm geben, Arbeit und Sparsamkeit. Eine gesetzliche Regelung wäre an sich wünschenswert. Es würde sich aber für diesen Weg keine Mehrheit im Parlament finden. So könnte günstigenfalls die Krisis auch nur vertagt werden, nach 14 Tagen würden die Folgen noch schwerere sein.
Er sehe im Augenblick nicht, wie ein neues Kabinett gebildet werden könne.
Der Reichskanzler Zweifellos habe jedes Kabinettsmitglied alles getan, um die Krisis zu beheben, er habe in diesem Sinne besonders auch in seiner Fraktion gewirkt. Seine Fraktion sei in der Frage des Ermächtigungsgesetzes aber der Meinung, daß finanzielle, wirtschaftliche und sozialpolitische Fragen ein untrennbares Ganzes seien. Wie sehr diese Fragen schleunigster Regelung bedürften, könne man daraus ersehen, daß der Bergbauliche Verein bereits trotz entgegenstehenden Gesetzes den 8½ stündigen Arbeitstag einführe5.
[461] Der Reichspostminister stellte fest, daß das Zentrum bereit gewesen sei, die Arbeitszeit durch Gesetz zu regeln6.
- 6
Wie Anm. 2.
Der Reichsarbeitsminister Das Zentrum sei der Meinung, daß für eine Sanierung der Wirtschaft und Finanzen auch auf sozialpolitischem Gebiet Konzessionen nötig seien. Das Herausbrechen einer einzelnen Maßnahme aus dem Verordnungswege sei deshalb schwierig, weil [seine] Partei keine Garantie hätte, wie sich die Sozialdemokratische Partei bei der Schlußabstimmung im Reichstag verhalten würde.
Reichsminister für Wiederaufbau Er wolle offen erklären, daß die Sozialdemokratischen Mitglieder des Kabinetts keine Sicherheit bieten könnten, daß die Fraktion für das Gesetz stimmen werde. Er wiederhole nochmals, daß die Frage der Arbeitszeit deshalb von keiner weittragenden praktischen Bedeutung sei, weil es sich hier einfach um eine Frage der politischen Macht handele.
Der Reichsarbeitsminister Der Weg, den seine Fraktion gewollt hätte, hätte gerade den Schutz der Arbeiterschaft bezweckt. Er empfinde es als tragisch, daß das Kabinett jetzt an dieser Fragen zusammenbreche.
Der Reichskanzler Die Auffassung des Minister Brauns sei richtig, daß der Schutz der Arbeiterschaft bezweckt würde. Die Groß-Industrie sei Gegner des Braunsschen Vorschlages gewesen, denn sie glaube, noch mehr erreichen zu können.
Alles wäre in Ordnung gewesen, wenn die ganzen Fragen einheitlich im Verordnungswege hätten geregelt werden können.
Der Reichswehrminister Die Lage sei seines Erachtens geklärt. Es steht aber noch in Frage, ob die Entscheidung im Reichstag fallen oder ob der Reichskanzler dem Herrn Reichspräsidenten mitteilen solle, das Kabinett sei an einem toten Punkt angelangt.
Das Volk verlangt jetzt feste Führung; rasche Entschlüsse seien nötig, sonst würde die Bewegung über das Kabinett hinweggehen.
Der Reichskanzler Er habe vor zwei Tagen die Ansicht vertreten, daß das Kabinett vor den Reichstag treten und das Ermächtigungsgesetz verlangen solle. Dagegen habe sich Breitscheid gewandt. Er, der Kanzler, habe gestern nochmals angeregt, diesen Weg zu gehen, es sei aber nicht dazu gekommen7. Nachdem nunmehr positive Fraktionsbeschlüsse vorlägen, sei es unmöglich, vor den Reichstag zu treten und so zu tun, als ob die Fraktionsbeschlüsse nicht existierten.
Nunmehr sehe er keinen anderen Weg, als den der Demission.
Der Reichsarbeitsminister Jetzt vor den Reichstag zu treten, sei für das Kabinett nur dann möglich, wenn die sozialdemokratischen Minister mit denen der bürgerlichen Parteien für das Ermächtigungsgesetz eintreten würden. Dies sei aber nach den Äußerungen der sozialistischen Kabinettsmitglieder wohl nicht mehr denkbar.
Der Reichsminister für Wiederaufbau Es sei für die Kabinettsmitglieder seiner Fraktion nicht möglich, in dieser Frage sich gegen die Fraktion zu stellen.
[462] Der Reichsarbeitsminister Damit falle die Möglichkeit fort, vor den Reichstag zu treten.
Der Reichskanzler Die Sache läge also so, daß, nachdem in einer grundsätzlichen Frage ein Fraktionsbeschluß der Sozialdemokratie erholt sei, die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder nicht mehr mit denen der bürgerlichen Parteien in dieser Frage vor den Reichstag treten könnten. Da auf der anderen Seite andere Parteien der Auffassung seien, daß der gesamte in Rede stehende Fragenkomplex durch das Ermächtigungsgesetz geregelt werden müßte, bliebe nur noch übrig die Demission zu erklären. Die jetzigen Minister müßten Geschäfte bis zur Neubildung weiterführen. Er stelle das Einverständnis des Kabinetts hierin fest8.
Der Reichskanzler sprach hierauf in warmen Worten den Kabinettsmitgliedern den Dank für ihre Arbeit aus.
Reichsminister Oeser dankte als ältestes Kabinettsmitglied dem Reichskanzler für seine Geschäftsführung9.