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Nr. 170
Aufzeichnung des Ministerialrats Wienstein. 18. November 1930
Betrifft: Frage, ob auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung verfassungsändernde Bestimmungen erlassen werden können1.
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Die Vermerke Wiensteins und Hagenows (Dok. Nr. 172) stützen sich u. a. auf zwei Gutachten von Carl Schmitt und Richard Thoma über die Verfassungsmäßigkeit der NotVO vom 26.7.30. Schmitt bejahte in seinem Gutachten vom 28.7.30 die Frage, ob der RPräs. befugt sei, auf Grund des Art. 48 Abs. 2 RV finanzgesetzvertretende VOen zu erlassen (Gutachten in R 43 I/1870, Bl. 323–335). Thoma bestätigte ebenfalls die Rechtmäßigkeit der NotVO vom 26.7.30 (Gutachten vom 7.10.30 in R 43 I/1870, Bl. 360–379; eine Zusammenfassung beider Stellungnahmen findet sich in Wiensteins Vermerk vom 6.11.30, R 43 I/1870, Bl. 380–383).
Anschütz verneint in seinem Kommentar zur Reichsverfassung (10. Auflage 1929 S. 251) die oben bezeichnete Frage. Er führt aus:
„Diese Verordnungen (nämlich auf Grund des Artikels 48) können alles vorschreiben oder verbieten, wofür ein einfaches, nicht verfassungsänderndes Reichsgesetz erforderlich und ausreichend ist.“
Diese Auffassung dürfte zu eng sein. Nach Rücksprache mit Staatssekretär Zweigert komme ich zu folgender Auffassung:
[634] Gewisse Grenzen für die Verordnungsbefugnis des Artikels 48 ergeben sich aus Absatz 2, in dem dieser Absatz dem Reichspräsidenten die Befugnis gibt, vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte2 ganz oder zum Teil außer Kraft zu setzen. Demnach dürfen andere Grundrechte nicht außer Kraft gesetzt werden, also auch nicht das Grundrecht des Artikels 129 der Reichsverfassung3.
Eine weitere Grenze für das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten wird dann vorliegen, wenn ein Artikel der Reichsverfassung ausdrücklich vorschreibt, daß zur Abänderung verfassungsändernde Mehrheit erforderlich ist.
Dagegen wird es dem Reichspräsidenten nicht verwehrt sein, z. B. in Erweiterung des Gesetzgebungskatalogs des Reichs Maßnahmen zu treffen, für die die Länder zuständig sind, z. B. Maßnahmen auf dem Gebiet der Polizei. Andernfalls dürfte der Artikel 48 der Reichsverfassung seinen Sinn verlieren.
Was im besonderen den Gesetzentwurf zur Einschränkung des Personalaufwandes in der öffentlichen Verwaltung anlangt, so ist zu beachten, daß Lübeck nicht dieselbe Bestimmung getroffen hat wie der § 39 des Reichsbesoldungsgesetzes, wonach zu einer Abänderung ein Gesetz (nämlich einfaches Gesetz)4 genügt. Auch die meisten Gemeinden haben nach den im Reichsfinanzministerium getroffenen Feststellungen im Jahre 1927 nicht die dem § 39 des Reichsbesoldungsgesetzes entsprechende Bestimmung getroffen. Infolgedessen ist eine Verordnung des Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 unmöglich, durch welche Einschränkung des Personalaufwandes in der öffentlichen Verwaltung auch Lübecks und der soeben erwähnten Gemeinden angeordnet wird, weil damit in die wohlerworbene Rechte (Artikel 129 RV) eingegriffen würde.
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Nach § 39 des Besoldungsgesetzes vom 16.12.27 konnte die Besoldungsordnung durch Ges. geändert werden (RGBl. 1927 I, S. 355).
Was den Gesetzentwurf über eine Ausgabenbegrenzung in den Haushalten des Reichs, der Länder und der Gemeinden anlangt, so möchte ich es hier für verfassungsmäßig zulässig halten, daß die in dem Entwurf enthaltenen Bestimmungen vom Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 angeordnet werden.
Staatssekretär Zweigert lehnt eine endgültige Stellungnahme zu diesen speziellen Fragen im Augenblick ab, wird jedoch mit möglichster Beschleunigung ein schriftliches Gutachten nach Fühlungnahme mit Staatssekretär Dr. Joël ausarbeiten, das nur in einem Exemplar hergestellt und hierher übersandt werden soll5.
W.[ienstein]