1.138 (bru3p): Nr. 652 Aufzeichnung des Staatssekretärs v. Bülow über Besprechungen mit dem Sowjetischen Volkskommissar Litwinow. 28. Januar 1932

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[2243] Nr. 652
Aufzeichnung des Staatssekretärs v. Bülow über Besprechungen mit dem Sowjetischen Volkskommissar Litwinow. 28. Januar 1932

R 43 I /140 , Bl. 253–256

Volkskommissar Litwinow suchte mich heute1 in Begleitung des Botschafters Chintschuk auf. Wir besprachen zunächst die Abrüstungskonferenz, und ich teilte Herrn Litwinow mit, was uns Nadolny über die Gestaltung der ersten Woche und über die Reden in der zweiten Woche berichtet hat2. Wir sprachen sehr eingehend über die Konferenz. Herr Litwinow äußerte sich über ihre voraussichtlichen Ergebnisse pessimistisch. Er erwähnte, daß er in seiner Eröffnungsrede, die er erst nach der französischen Rede halten wolle, das russische Programm zu entwickeln gedenke und fordern wolle, daß gleich hierüber abgestimmt werde3. Er erwähnte auch einen mir bisher nicht bekannten türkischen Vorschlag, daß alle Staaten binnen 10 Jahren ihre Armeen auf 100 000 Mann reduzieren müssen. Ich setzte ihm auseinander, daß unsere Taktik dahin gehe, die Konferenz nicht vorzeitig in ein deutsch-französisches Duell ausarten zu lassen4. Herr Litwinow erinnerte an die glückliche Zusammenarbeit zwischen beiden Delegationen in der Vorbereitenden Kommission und bat darum, daß diese guten Beziehungen weiter beibehalten würden, was ich ihm zusagte.

Er kam dann von selbst auf die russischen Paktverhandlungen zu sprechen und setzte mir auseinander, Rußland habe erreicht, daß nicht unter polnischer Ägide verhandelt werde, daß nicht einheitliche Verträge mit den Nachbarstaaten abgeschlossen würden, Finnland z. B. habe einen ganz anderen Vertrag abgeschlossen5 als Polen, und daß nicht gleichzeitig unterschrieben werde; die Zusammenlegung der Ratifikationen auf denselben Tag könne Rußland freilich nicht verhindern. Über die rumänischen Verhandlungen erzählte er, daß die Rumänen sich weigerten, vor der Abrüstungskonferenz den Vertrag abzuschließen, oder auch nur zu paraphieren und daß noch keine Formel für die bessarabische Frage gefunden sei6; er wiederholte im wesentlichen das, was er bereits Herrn von Dirksen gesagt hat7.[2244] Im übrigen machte er keinen Hehl daraus, daß er die Paktverhandlungen und Paktabschlüsse auf der Abrüstungskonferenz verwerten wolle. Aus diesem Grunde habe er auch das widerstrebende Polen gezwungen, noch vor der Konferenz zu paraphieren8.

Ich wies meinerseits Herrn Litwinow auf unsere bekannten Bedenken hin9, und insbesondere darauf, daß es unseren lebhaften Bemühungen gelungen sei, eine Rußland günstige Stimmung in der Presse herbeizuführen. Diese Stimmung werde aller Voraussicht nach nicht anhalten und wir sähen keine Möglichkeit einer Kritik an dem russischen Vorgehen vorzubeugen, so unbequem das uns sei. Wenn ich persönlich auch keinen Zweifel hätte, daß die deutsch-russischen Beziehungen unverändert blieben, so werde doch behauptet werden, Rußland habe auf französische Initiative und unter französisch-polnischem Druck die Nichtangriffsverträge abgeschlossen10 und entferne sich, wie es auch schon einzelne polnische Pressestimmen behaupten, von der Rapallo-Linie. Herr Litwinow wollte dies zum Teil nicht gelten lassen und sagte u. a., Rußlands Haltung auf der Abrüstungskonferenz werde deutlich zeigen, daß sich im Grunde nichts geändert habe.

Der Herr Reichskanzler empfing anschließend Herrn Litwinow und den Russischen Botschafter in meiner Gegenwart11. Der Herr Reichskanzler begann die Unterhaltung mit seinem Dank für die Information unseres Botschafters in Moskau über die russisch-polnischen Verhandlungen und wies auf die Bedenken hin, die deutscherseits geltend gemacht werden müßten. Er erkannte die Bedeutung des Stalin-Interviews12 an, sagte aber anschließend, daß doch eine Kritik unserer Presse trotz der anfänglich günstigen Aufnahme der russischen Verträge nicht ausbleiben werde. Frankreich und seine Verbündeten würden nicht verfehlen, aus dem neuen Vertragssystem politisches Kapital zu schlagen. Der Herr Reichskanzler regte an, daß russischerseits etwas in der Presse unternommen werde, um die Unveränderlichkeit der deutsch-russischen Beziehungen zu unterstreichen und der Propaganda insbesondere Polens entgegenzutreten. Herr Litwinow bestritt sehr lebhaft, daß der polnische Vertrag unter französischem Druck zustande gekommen sei, höchstens habe Frankreich auf Polen einen Druck ausgeübt. Rußland habe bereits 1926 Polen einen Vertrag angeboten13 und könne seine damaligen Vorschläge[2245] nicht verleugnen. Herr von Dirksen habe leider zu spät seine Bedenken geltend gemacht14 und sonderbarerweise hätten sich seine Argumente mit den polnischen Einwendungen gegen die russischen Vorschläge gedeckt. Herr Litwinow unterstrich die Bedeutung der Erklärung Stalins und lehnte den Gedanken weiterer Bekundung der unveränderlichen deutsch-russischen Beziehungen nicht ab. Er machte ferner geltend, daß Deutschland nicht genügend berücksichtige, daß Rußland eine West- und Ostfront habe und gab zu verstehen, daß Rußland eine Rückendeckung gegenüber Polen für den Fall möglicher Komplikationen in Ostasien suche. Der Herr Reichskanzler fragte dann nach der Lage in Ostasien. Herr Litwinow äußerte sich sehr besorgt und machte auch keinen Hehl daraus, daß Rußland vorbeugende Maßnahmen getroffen habe15. Er sprach von der besonderen Gefahr, die die 200 000 zaristischen Emigranten in der Mandschurei bedeuteten. Auf eine Frage des Herrn Reichskanzlers bestätigte Herr Litwinow, daß auch nach seinen Informationen die wirtschaftliche Lage Polens sich sehr verschlechtert habe16.

In Bezug auf die Abrüstungskonferenz erwähnte Herr Litwinow die frühere deutsch-russische Zusammenarbeit und erbat deren Fortsetzung, die der Herr Reichskanzler ihm zusagte17.

Schließlich brachte der Herr Reichskanzler die Sprache auf die deutsch-russischen Wirtschaftsverhandlungen, deren Bedeutung er unterstrich18. Der Botschafter Chintschuk bat sehr dringlich, wie er es schon bei mir getan hatte, daß wir möglichst rasch das Abkommen ratifizieren möchten, denn es seien bereits schon verschiedene Abschlüsse mangels vorliegender Ratifikation nicht zustande gekommen, bzw. suspendiert worden. Der Herr Reichskanzler sagte den russischen Herren zu, daß ihrem Wunsche nach Möglichkeit Rechnung getragen würde. Er wies darauf hin, daß Herr Weizer noch die Zustimmung der Sowjetunion zu dem deutschen Präferenzabkommen mit Ungarn und Rumänien19 mitbringen müsse. Der Russische Botschafter erklärte, daß Herr Weizer noch im Januar herkommen werde.

Bülow

Fußnoten

1

Der sowj. Außenkommissar Litwinow machte auf seiner Reise zur Genfer Abrüstungskonferenz in Berlin Station. Die vorliegende Aufzeichnung v. Bülows ist auch veröffentlicht in ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 220.

2

Die Genfer Abrüstungskonferenz begann am 2.2.32 (Schultheß 1932, S. 444).

3

Litwinow kündigte in seiner Rede vom 11.2.32 auf der Abrüstungskonferenz eine Resolution über sofortige völlige Abrüstung an, die am 25.2.32 bei dt. Stimmenthaltung mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurde (Telegramm Nadolnys Nr. 233 vom 25.2.32, R 43 I /519 , Bl. 244–245; vgl. auch WTB Nr. 313 vom 11.2.32 über Litwinows Rede, a.a.O., Bl. 283–284). Text der sowj. Resolution vom 18.1.32 in Ursachen und Folgen, Bd. VIII, Dok. Nr. 1750 c.

4

Vgl. Dok. Nr. 631, P. 1. und ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 205.

5

Der sowj.-finnische Nichtangriffspakt war am 21.1.32 in Helsingfors unterzeichnet worden (Schultheß 1932, S. 330).

6

Vgl. hierzu Litwinows Äußerungen am 25.1.32 anläßlich der Paraphierung des sowj.-poln. Nichtangriffspaktes (Schultheß 1932, S. 333).

7

Vgl. das Schreiben v. Dirksens an MinDir. Meyer vom 26.1.32 in ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 217. Vgl. auch a.a.O., Dok. Nr. 169.

8

Der sowj.-poln. Nichtangriffspakt war am 25.1.32 paraphiert worden: ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 229 und Schultheß 1932, S. 333.

9

Die dt. Bedenken richteten sich gegen die sogenannte „Integritätsklausel“ des sowj.-poln. Nichtangriffspaktsentw., „jede Aktion, die die Integrität des Territoriums oder die politische Selbständigkeit des anderen Teils verletzt“, als Angriff zu werten. Mit dieser Formel würde eine Anerkennung des gegenwärtigen Besitzstandes fixiert und die politische Stellung Polens ungeheuer gestärkt werden: Aufzeichnung des StS v. Bülow vom 12.12.31, ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 119.

10

Material zu dem dt. Verdacht, die frz. Reg. habe ein Junktim zwischen den eigenen Verhandlungen über einen Nichtangriffsvertrag mit der UdSSR und einem sowj.-poln. Nichtangriffspakt hergestellt, in R 43 I /140 , Bl. 106–120.

11

Der Empfang beim RK fand am 28.1.32 von 13.00 Uhr–13.25 Uhr statt (Nachl. Pünder , Nr. 44, Bl. 124). Das Gespräch bewegte sich in dem Rahmen der Disposition, die Gesandter z. D. Hey am 28.1.32 dem RK vorgelegt hatte (R 43 I /140 , Bl. 257–259).

12

Ein Hinweis auf dieses Interview Stalins war in den Akten der Rkei nicht zu ermitteln.

13

Vgl. die Aufzeichnung von MinDir. Meyer vom 26.8.31 über die Unterredung mit dem sowj. Geschäftsträger Bratman-Brodowski, in der Bratman-Brodowski auf die sowjetischen Verhandlungsangebote an Polen seit 1926 eingegangen war (Anschreiben Meyers an ORegR Planck vom 27.8.31 mit fünf Anlagen zu den sowj.-poln. Kontakten in R 43 I /140 , Bl. 107–115).

14

Dirksen hatte erstmals am 10.11.31 in einer Unterredung mit Krestinski ernsthafte Bedenken gegen den sowj.-poln. Nichtangriffspakt erhoben: ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 47.

15

Zur sowj. Beurteilung des chinesisch-japanischen Konflikts wegen der Mandschurei (vgl. Dok. Nr. 504, Anm. 17) siehe auch Dirksens Bericht vom 19.10.31, ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 7.

16

Am 1.1.32 hatte die poln. Reg. zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise zahlreiche Einfuhrverbote erlassen (Telegramm Nr. 108 des Gesandten v. Moltke vom 29.12.31, R 43 I /1109 , Bl. 306). Vgl. auch den Bericht v. Moltkes vom 20.1.32 in ADAP, Serie B, Bd. XIX, Dok. Nr. 200.

17

Dieser Satz wurde von Bülow handschriftlich eingefügt.

18

Vgl. hierzu Dok. Nr. 691, P. 4.

19

Vgl. Dok. Nr. 610.

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