Text
2. Wirtschaftsverhandlungen mit Finnland.
Ministerialdirektor Dr. Ritter trug den Sachverhalt vor4. Er wies unter anderem darauf hin, daß Deutschland durch die Genfer Zollfriedensverhandlungen juristisch nicht an einer Kündigung des Zusatzabkommens mit Finnland gehindert sei.
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft vertrat die Auffassung, daß Deutschland an einer Kündigung des Zusatzabkommens nicht vorbeikommen könne. Sofort nach der Kündigung müßten neue Verhandlungen mit Finnland eingeleitet werden.
Der Stellvertreter des Reichskanzlers und Reichsminister der Finanzen vertrat die Auffassung, daß Deutschland nach den Genfer Verhandlungen in der Handelsvertragspolitik nicht mehr völlig freie Hand habe. Der damalige Reichswirtschaftsminister Schmidt habe in Genf erklärt, er sei vom Reichskabinett[372] bevollmächtigt, das Zollfriedensabkommen abzuschließen5. Wenn Deutschland jetzt das Zustandekommen mit Finnland kündige, könne es das Genfer Abkommen nicht mehr ratifizieren.
Die Landwirtschaft verspreche sich zuviel von einer Kündigung. Wenn gekündigt würde, dann sehe er noch keinen Weg, von den Käsezollbindungen herunter zu kommen.
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft führte aus, daß die gesamte Landwirtschaft die Kündigung wünsche6. In bezug auf die Genfer Zollfriedenskonferenz sehe er die Situation etwas anders als der Reichsminister der Finanzen. Nach seiner Auffassung sei Deutschland durch die Erklärungen des damaligen Reichswirtschaftsministers Schmidt in Genf nicht daran gehindert, das Zusatzabkommen mit Finnland zu kündigen. Der Reichstag habe nur eine Entschließung gefaßt, daß er eine Ratifizierung des Genfer Abkommens wünsche7.
Staatssekretär Dr. Trendelenburg wies darauf hin, daß die deutsche Industrie durchweg gegen eine Kündigung des deutsch-finnischen Zusatzabkommens eingestellt sei8. Die deutsche Industrie befürchte, daß eine Kündigung dieses Zusatzabkommens einen Einbruch in unser ganzes Handelsvertragssystem bedeute. Das Vertrauen der deutschen Wirtschaft zum Staat sei aufs schwerste erschüttert. Nach einem Bericht des deutschen Gesandten in Bern seien in der letzten Zeit wieder 500 Millionen deutsche Reichsmark nach der Schweiz abgewandert. Es müsse alles geschehen, um das Vertrauen der deutschen Wirtschaft zum Staate wiederherzustellen.
Von einer Kündigung des Zusatzabkommens mit Finnland befürchte er auf die Dauer eine Schädigung des deutschen Exports. Der deutsche Export habe in den letzten zwei Jahren um 2 Milliarden zugenommen.
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete betonte, daß alles geschehen müsse, um das deutsche Kapital im Inlande zu halten. In politischer Hinsicht sei der immer mehr um sich greifenden Radikalisierung entgegenzuarbeiten. Das könne unter anderem auch dadurch geschehen, daß man die Bevölkerung auf dem Lande halte. Man müsse also der Landwirtschaft auf alle nur denkbare Weise helfen. Aus diesem Grunde spreche er sich für die Kündigung des deutsch-finnischen Zusatzabkommens aus.
[373] Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft führte aus, daß Deutschland mit den in Betracht kommenden Ländern verhandeln müsse, um von der Käsezollbindung herunter zu kommen. Er betonte im übrigen die Notwendigkeit einer baldigen Kündigung des deutsch-finnischen Zusatzabkommens, andernfalls müsse er für seine Person die politischen Konsequenzen tragen.
Der Reichskanzler führte aus, daß in der Öffentlichkeit vielfach mit völlig falschen Argumenten geurteilt werde. Die Gefahr eines Boykotts deutscher Waren durch die Niederlande sei nicht so groß, wie es in der deutschen Öffentlichkeit vielfach dargestellt werde9. In Deutschland greife immer mehr eine Panikstimmung um sich, die den Nationalsozialisten zugute komme. Die Nationalsozialisten nähmen auch auf dem Lande an Einfluß zu. Die wirtschaftliche Situation im Auslande sei vielfach schlechter als in Deutschland, z. B. seien die englischen Aktien in der letzten Zeit durchschnittlich noch um 13% mehr gefallen als die deutschen Aktien. Die deutsche Presse unterlasse es völlig, auf diese und ähnliche Vorgänge hinzuweisen. Was nun das deutsch-finnische Zusatzabkommen anlange, so sei es allerdings nach seiner Auffassung erforderlich, von der fünf- bzw. siebenjährigen Bindung des Butter- und Käsezolls frei zu kommen. Die Genfer Zollfriedenskonferenz und die damalige Erklärung des Reichswirtschaftsministers Schmidt sowie die Resolution des Reichstags würden nach seiner Auffassung einer Kündigung des Zusatzabkommens nicht im Wege stehen. Vielleicht sei es am besten, wenn Ministerialdirektor Dr. Ritter in Helsingfors mit dem Ziele verhandele, eine bestmögliche Form der Kündigung des Zusatzabkommens zu suchen. Bei dieser Gelegenheit müsse auch über den materiellen Inhalt eines neuen Abkommens verhandelt werden.
Es bestand schließlich Übereinstimmung darüber, daß der Handelspolitische Ausschuß der Reichsregierung sich unverzüglich mit der Angelegenheit befassen und insbesondere prüfen solle, ob und in welcher Form sich Verhandlungen des Ministerialdirektors Dr. Ritter mit Finnland über eine Kündigung des deutsch-finnischen Zusatzabkommens empfehlen. Alsdann wird das Reichskabinett erneut über die Angelegenheit beraten10.
Fußnoten
- 4
Die privaten dt.-finnischen Verhandlungen (vgl. Dok. Nr. 91, Anm. 5), die am 6.8.30 in Berlin fortgesetzt worden waren (Vermerk Hagenows, R 43 I/1092, Bl. 276), waren am 8.8.30 gescheitert (Aufzeichnung des MinDir. Ritter vom 8. 8. in R 43 I/1092, Bl. 334–336).
- 6
Der Rheinische Bauernverein hatte am 9. und 12. 8. die Kündigung des Handelsvertrags gefordert (R 43 I/1092, Bl. 303–304, 326–327), ebenso der Kurhessische Landbund (Telegramm vom 9. 8. in R 43 I/1092, Bl. 298).
- 7
Der RT hatte am 1.7.30 der von der DDP-Fraktion eingebrachten Entschließung (RTBd. 443, Drucks. Nr. 2203) zugestimmt, die RReg. möge unverzüglich einen GesEntw. zur Ratifizierung des Genfer Handelsabkommens vorlegen (RT-Bd. 428, S. 6066).
- 8
Der RdI (Schreiben vom 29.7.30, R 43 I/1092, Bml. 227–241; Schreiben vom 1. 8., a.a.O., Bl. 254–258), der DIHT (Schreiben vom 1. 8., R 43 I/1092, Bl. 242–243; s. auch Dok. Nr. 100), der Reichsverband des Dt. Groß- und Überseehandels (Telegramm vom 5. 8., R 43 I/1092, Bl. 262), der Verein Dt. Maschinenbauanstalten (Schreiben vom 12. 8., R 43 I/1092, Bl. 307–324) sowie mehrere IHK hatten wegen der negativen Folgen für den dt. Export vor der Kündigung des Handelsvertrages gewarnt. Lediglich der Reichsverband der dt. Holzindustrie (Schreiben vom 6. 8., R 43 I/1092, Bl. 279–282) und der Verband der dt. Sperrholzfabrikanten (Schreiben vom 6. 8., R 43 I/1092, Bl. 284–286) hatten sich für die Kündigung und die gleichzeitige Erhöhung der Einfuhrzölle für Holzprodukte eingesetzt.
- 9
Wegen der privaten dt.-finnischen Verhandlungen über die Einfuhr finnischer Milchprodukte hatten holländische Molkereien zum Boykott dt. Industrieerzeugnisse aufgerufen (Schreiben der IHK Hagen vom 7.8.30, R 43 I/1092, Bl. 291–293, der IHK Bochum, Dortmund, Essen und Münster vom 13. 8., a.a.O., Bl. 341–344 und der Siemens-Schuckertwerke vom 14. 8., a.a.O., Bl. 350–355; einen Bericht über die Boykottbewegung brachte auch die DAZ Nr. 363–364 vom 8.8.30).