2.207.1 (feh1p): [Lage an der polnischen Grenze]

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[Lage an der polnischen Grenze]

Nach Eröffnung der Sitzung durch den Herrn Reichskanzler berichtete General von Seeckt über die Gruppierung polnischer Truppen an der schlesischen Grenze. Er schätzte die Stärke der polnischen Streitkräfte auf 250 000 Mann regulärer Truppen, denn es ständen statt zwei Jahrgängen fünf unter den Waffen. Nach dem polnisch-russischen Kriege sei die Demobilmachung nicht durchgeführt worden. Die nicht entlassenen Jahrgänge seien nur fristlos beurlaubt gewesen. Die Stärke dieser Truppen betrüge etwa 250 000 Mann, ihr Kampfwert wäre aber nur gering einzuschätzen.

Regierungspräsident von Liegnitz, [Büchting]3, bemerkt, daß die Angaben über die Stärke der polnischen Truppen stets übertrieben gewesen seien.[583] Neuerdings sei eine merkbare Entspannung zu bemerken. Nach seiner Schätzung ständen seinem Bezirke etwa 15 000 Mann kampfbereit gegenüber. In letzter Zeit sei nur wenig Kavallerie und Artillerie an die oberschlesische Grenze geschoben worden. Er zweifle nicht, daß die ganze Bevölkerung sich einem Einmarsch der Polen wiedersetzen würde, selbst wenn sie keine staatliche Unterstützung fände. Er müsse aber dringend davor warnen, vor der Abstimmung eine Art Mobilmachung anzuordnen. Sie würde nur die Vermutung aufkommen lassen, daß Deutschland Befürchtungen wegen Oberschlesien hege, und würde den Polen ein willkommener Anlaß sein, auf die Angriffsstimmung der Deutschen hinzuweisen. Auf Befragen bemerkte Reichsminister Dr. Simons, daß die Schutzpolizei nicht gegen polnisches Militär bei einer Grenzüberschreitung eingesetzt werden könne, sie könne aber mit Leichtigkeit militarisiert werden.

[Regierungspräsident von Schneidemühl]4, von Bülow: Die Nachrichten über Polen hätten bisher nie gestimmt. Er sei noch vor drei Tagen in Posen gewesen und habe auf der ganzen Fahrt und in Posen selbst kein Militär gesehen. Auch die Deutschen in Posen hätten keine Angaben darüber machen können. Die Erregung der Polen über angebliche militärische Maßnahmen der Deutschen sei noch größer als die bei uns über die Maßnahmen der Polen. Ein Ausnahmezustand sei zur Zeit unter allen Umständen zu vermeiden, jedoch müsse in vorsichtiger Form eine Stelle eingerichtet werden, die die Regierungspräsidenten einheitlich orientiere.

Regierungspräsident von Breslau, [Jaenicke]5, stimmt, soweit die Grenze des Breslauer Bezirks in Frage kommt, mit den Angaben des Generals von Seeckt über den Aufmarsch polnischer Streitkräfte überein. Trotzdem spricht er sich gegen den Ausnahmezustand vor der Abstimmung aus. Er befürwortet aber eine Legalisierung des vorhandenen Verteidigungswillens der Bevölkerung. Die Leitung müsse aber in den Händen der Zivilbevölkerung liegen, da der Kapp-Putsch ein tiefes Mißtrauen gegen alles Militär zurückgelassen habe. Es sei unerheblich, ob gewisse Maßnahmen den Polen bekannt würden. Auf seine Frage nach dem Verhalten der Tschechoslowakei geben General von Seeckt und Reichsminister Dr. Simons die Erklärung ab, daß Anzeichen einer Mobilmachung der Tschechoslowakei nicht vorliegen.

Regierungspräsident von Allenstein, [von Oppen]6, glaubt nicht an einen polnischen Angriff auf Ostpreußen, hält aber trotzdem einen Zusammenstoß für wahrscheinlich. Auch in Ostpreußen würde sich die Bevölkerung gegen einen Einmarsch der Polen wehren, selbst dann, wenn sie als Mandatare des Völkerbundes kämen.

[Regierungspräsident von Breslau, Jaenicke,]7, ist der Ansicht, daß die Polen tatsächlich gegen Breslau aufmarschiert sind, und glaubt, daß sie bei[584] einem für sie ungünstigen Ergebnis der Abstimmung Breslau nehmen werden. Er spricht sich trotzdem gegen einen Ausnahmezustand aus, da er in der jetzigen Zeit wie ein Funken ins Pulverfaß wirken würde. Es müßten jedoch jetzt schon alle möglichen Vorkehrungen zur Abwehr getroffen werden. Bei einem Einmarsch der Polen seien die Schlesier nicht zu halten. Zur Beruhigung der Bevölkerung sei es förderlich, wenn jetzt schon in vorsichtiger Form eine Erklärung der Reichsregierung des Inhalts abgeben würde, daß im Falle eines polnischen Angriffs das Reich Schlesien schützen würde. General von Seeckt bemerkt hierzu, daß eine solche Erklärung schon vorbereitet sei8.

Fußnoten

3

An dieser Stelle war in der Niederschrift ein größerer Zwischenraum freigelassen worden; offenbar sollte hier später der Name des RegPräs. eingefügt werden.

4

Siehe o. Anm. 3; hier sollte später offensichtlich die Amtsbezeichnung von Bülows eingefügt werden.

5

Siehe o. Anm. 3.

6

Siehe o. Anm. 3.

7

An dieser Stelle der Niederschrift fehlt überhaupt jede Sprecherangabe. Aus den folgenden Sätzen geht jedoch hervor, daß es sich hier um den RegPräs. von Breslau handelt.

8

Eine solche Erklärung war in R 43 I nicht zu ermitteln. Im Anschluß an diese Besprechung erließ der RWeM an das Reichswehrgruppenkommando 1 (Berlin), die Wehrkreiskommandos II und III (Stettin und Berlin) und die 1. und 2. Kavalleriedivision (Frankfurt/O. und Breslau) einen Befehl, in dem Maßnahmen für einen eventuellen poln. Einfall getroffen wurden. Nach diesem Befehl sollte bei einem Einfall der Polen die Grenzbevölkerung zunächst Widerstand leisten, bis ihr die RReg. zur Hilfe kam. Die Militärdienststellen wurden angewiesen, in Zusammenarbeit mit den Zivilbehörden Vorkehrungen für den Fall eines poln. Angriffs zu treffen und dafür zu sorgen, daß Grenzzwischenfälle unter allen Umständen vermieden würden (R 43 I /118 , Bl. 214).

Zugleich erließ der PrIM am 17.3.1921 eine Anweisung an die RegPräs. von Breslau, Liegnitz, Frankfurt/O., Schneidemühl und Köslin, in der ihnen der Befehl des RWeM bekannt gegeben wurde. Die RegPräs. wurden aufgefordert, für eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Stellen zu sorgen (R 43 I /118 , Bl. 212–213).

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