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Das Kabinett ScheidemannReichsministerpraesident  Philipp Scheidemann Bild 146-1970-051-17Erste Kabinettssitzung der neuen deutschen Reichsregierung am 13.2.1919 in Weimar Bild 183-R08282Versailles: die deutschen Friedensunterhändler Bild 183-R11112Die Sozialisierung marschiert! Plak 002-005-026

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IV

Außenpolitik war für das Kabinett Scheidemann in allererster Linie eine Politik der Liquidierung des Krieges und deshalb ein Gebiet, daß das innerpolitische an Wichtigkeit übertraf; erst nach Abschluß eines Friedensvertrags war eine langfristig konzipierte und zielbewußte Innenpolitik möglich. Dieser Eindruck ergibt sich vor allen Dingen aus den Kabinettsprotokollen; während sich in ihnen die innerpolitische Entwicklung in der Regel nur bruchstückhaft widerspiegelt, lassen sich die Ereignisse in Versailles bis zur Abreise der deutschen[L] Friedensdelegation, aber auch schon die Vorbereitungen für die Friedensverhandlungen, fast lückenlos verfolgen.

Die vorhergehenden Verhandlungen im Zusammenhang mit dem Waffenstillstand und die übrigen außenpolitischen Themen sind weniger hinreichend in den Akten der Reichskanzlei dokumentiert, wenn auch immer noch reichhaltiger als die meisten der das Innere betreffenden Fragen. Das liegt einmal an dem Fehlen der Akten für die Anfangszeit des Kabinetts Scheidemann, zum anderen daran, daß diese Dinge in das Ressort des Auswärtigen Amts oder der Waffenstillstandskommission, einem tatsächlich ebenfalls eigenständigen Ressort unter der verantwortlichen Leitung eines Reichsministers, fielen. In den Fragen der Friedensverhandlungen dagegen war das Kabinett unmittelbar zuständig – weiter unten wird darauf noch näher einzugehen sein.

Diplomatische Beziehungen bestanden nur zu wenigen neutralen Staaten und zu Österreich sowie, in Verbindung mit der fortdauernden deutschen militärischen Präsenz, zu einer Reihe von Regierungen im osteuropäischen Randstaatengürtel. Was die Verbindungen zu den Neutralen anging, so werden sie aus den Akten der Reichskanzlei, insbesondere aus den Kabinettsprotokollen, nicht recht deutlich, eben aus den oben genannten Gründen; die Schweiz wird einmal im Kabinett, und dazu aus einem sehr dubiosen Grund, erwähnt154, die Beziehungen zu den Niederlanden spielen nur im Zusammenhang mit der Flucht des Liebknechtmörders eine Rolle155. Das deutsch-österreichische Verhältnis findet, von einer ziemlich unerheblichen Ausnahme abgesehen156, in den Protokollen keine Erwähnung, was angesichts der laufenden Anschlußverhandlungen erstaunen muß. Dagegen beschäftigte sich das Kabinett verschiedentlich mit der Lage im Baltikum, so anläßlich des Staatsstreichs in Lettland vom 16. April, an dem deutsche Truppen teilgenommen hatten, was die Entente veranlaßte, von der Reichsregierung die Abberufung des deutschen Oberbefehlshabers in Lettland zu fordern157. Auch die Lage in Litauen zog mehrmals die Aufmerksamkeit des Kabinetts auf sich, da das Reich auch dort in Erfüllung des Artikels XII des Waffenstillstandsvertrags158 Truppen stationiert hatte159. Die Beziehungen zu Sowjetrußland spielten in den Kabinettsberatungen hauptsächlich im Zusammenhang mit der militärischen Konfrontation im Baltikum eine Rolle160; im Verlauf einer Kontroverse zwischen Brockdorff-Rantzau und dem übrigen Kabinett über russische Funksprüche, die dem Kabinett vom Auswärtigen Amt nicht vorgelegt worden waren, kam auch die grundsätzliche Gestaltung der deutsch-russischen Beziehung zur Sprache161.

Vergleichsweise handelte es sich hier aber um Nebenfragen. Das Hauptinteresse des Kabinetts lag bei den Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen.[LI] Wegen des Fehlens der Kabinettsprotokolle für den ersten Monat der Regierung Scheidemann lassen sich die Ereignisse in Spa und deren Widerspiegelung in der Kabinettsarbeit aus den hier abgedruckten Dokumenten nur schwer rekonstruieren; einige Lücken wurden mit Dokumenten aus anderen Beständen gefüllt. Einen guten Überblick über die Arbeit der deutschen Waffenstillstandskommission gab General Freiherr v. Hammerstein in einem Vortrag vor dem Kabinett am 4. März; der Text des Vortrags fand sich im Nachlaß Erzberger und wurde, da er einen Teil des fehlenden Kabinettsprotokolls ersetzt, hier abgedruckt162. Daß die erste ernste Kabinettskrise mit dem Waffenstillstand zusammenhing, geht aus einer Aufzeichnung des Ministerialdirektors Simons vom 26. Februar hervor; beachtenswert an diesem Dokument ist auch der hier sichtbar werdende Einfluß der Parteiführungen auf die Reichsregierung; hatte das Kabinett am 16. Februar zunächst beschlossen, die alliierten Bedingungen für die dritte Verlängerung des Waffenstillstands aus den von Brockdorff-Rantzau vorgetragenen Gründen abzulehnen, so änderte die Intervention der Parteiführer, hauptsächlich des Zentrums, die Kabinettslinie und führte zu der Rücktrittsdrohung des Reichsaußenministers163. Auf das Abkommen über die dritte Verlängerung des Waffenstillstands folgten Verhandlungen deutscher und alliierter Unterkommissionen über eine Waffenruhe an der deutsch-polnischen Demarkationslinie164. Zwar wurde das Kabinett von Erzberger regelmäßig über den Fortgang und das Scheitern der Verhandlungen unterrichtet165, aber es nahm kaum Einfluß auf die Geschehnisse in Posen; das Gleiche gilt, soweit sich das den Akten entnehmen läßt, für den Abschluß des für die Nahrungsmittelversorgung der deutschen Bevölkerung überaus wichtigen Brüsseler Lebensmittelabkommens vom 14. März166, wenngleich die Bezahlung der alliierten Lebensmittellieferungen tief in die deutsche Finanzlage einschnitt und zahlreiche Verhandlungen in der Ministerrunde notwendig machte167.

Wenn die Kabinettsprotokolle im allgemeinen den Eindruck vermitteln, daß das Kabinett Erzberger bei den Waffenstillstandsverhandlungen weitgehend freie Hand ließ, so trifft das allerdings für den letzten größeren Themenkomplex in diesem Zusammenhang, die Verhandlungen über den Durchzug der polnischen Hallerarmee von Frankreich nach Polen, nicht in diesem Maß zu; die anfänglichen alliierten Forderungen nach einer Landung der Hallertruppen in Danzig schienen die Möglichkeit einer polnischen Annexion Westpreußens zu eröffnen, und die Reichsregierung war nicht gewillt, nach Posen noch eine weitere Provinz an Polen vor dem endgültigen Friedensschluß zu verlieren. Das erklärt das erhebliche Interesse und die zahlreichen langen Debatten im Kabinett in dieser Frage; hinzu kam, daß man der polnischen und alliierten Behauptung mißtraute, diese Armee sollte gegen die Bolschewisten eingesetzt werden, obgleich die Hallertruppen später tatsächlich in Wolhynien gegen die Rote[LII] Armee kämpften168. Die Reaktionen aus der Bevölkerung der Ostprovinzen auf den schließlichen Transport der Hallerarmee quer durch Deutschland zeigten, welche Bedeutung diese Frage im Zusammenhang mit dem Waffenstillstand besaß169.

Der entscheidende Schwerpunkt der Kabinettsarbeit lag jedoch in der Friedensfrage; das wird bereits bei oberflächlicher Durchsicht der Kabinettsprotokolle rein quantitativ deutlich: von 450 Tagesordnungspunkten beziehen sich allein 170 auf den Frieden. Das Kabinett hatte die politische Leitung der Friedensdelegation sich selbst vorbehalten und so den Fehler vermieden, der bei der Bildung der Waffenstillstandskommission begangen worden war, die sich unter der Leitung Erzbergers zu einer Art von Nebenregierung entwickelt hatte. Im Falle der Friedensdelegation wurden die Verantwortlichkeiten und Weisungsbefugnisse dahingehend geklärt, daß die Delegation Verhandlungsspielraum im Rahmen des Wilson-Programms, wie es deutscherseits aufgefaßt wurde, besaß, daß aber alles, was an alliierten Forderungen und Vorschlägen darüber hinaus ging, der Beschlußfassung des Kabinetts unterlag, vor allem die Entscheidung über die Annahme oder Zurückweisung des alliierten Friedensprogramms170. Hier werden die zwei Haupterwartungen deutlich, unter deren Aspekt alle Friedensvorbereitungen des Kabinetts standen: einmal, daß überhaupt verhandelt werden würde, und zum anderen, daß diesen Verhandlungen die von Wilson formulierten Friedensbedingungen zugrunde liegen müßten. Aus keinem Kabinettsprotokoll geht hervor, daß für den Fall, daß eine dieser Erwartungen nicht in Erfüllung gehen sollte, ernsthafte Alternativpläne aufgestellt worden wären, was die Aufgaben der Friedensdelegation anging – unter anderem ein Grund für die späteren Verständigungschwierigkeiten zwischen Kabinett und Delegation.

Daß das Kabinett überhaupt von diesen Erwartungen ausging, lag am Wunschdenken der Regierungsmitglieder, das von schlechten Informationen genährt wurde. Darüber, was in den Vorfriedensverhandlungen der Alliierten und Assoziierten in Paris beschlossen wurde, gab es nur spärliche Informationsquellen, hauptsächlich Zeitungsnotizen und Berichte der deutschen diplomatischen Vertreter in den neutralen Staaten, beides meist auf Gerüchten beruhend und oft ebenfalls von Wunschvorstellungen beeinflußt171. Diese Nachrichtenlage macht verständlich, weshalb das Kabinett einen so großen Wert auf eine Informationsquelle legte, der ein Hauch von Obskurität von vornherein anhaftete: die Berichte Walter Loebs, eines Bankangestellten, Mitglieds des Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrats, Vertrauensmanns des Frankfurter Polizeipräsidiums und Agenten Erzbergers, über seine Gespräche mit dem amerikanischen Oberst Arthur L. Conger, dem Leiter der Political Intelligence Section beim Stab des Oberkommandierenden der amerikanischen Streitkräfte in Europa. Es ist hier nicht der Ort, diese Gespräche hinsichtlich ihres Inhalts und[LIII] ihrer Auswirkungen zu würdigen172; die Berichte Loebs, soweit sie in den Akten der Reichskanzlei enthalten sind173, wurden hier abgedruckt174, weil ihre Bedeutung für die Information und die Beschlußfassung des Reichskabinetts aus den Kabinettsprotokollen klar hervorgeht175. Auch auf eine wertende Interpretation dieser Gespräche muß hier verzichtet werden, um die Geschichtsschreibung nicht vorwegzunehmen; es sei aber darauf hingewiesen, daß die Authentizität der einzelnen Äußerungen Congers in den Aufzeichnungen Loebs keineswegs als gesichert erscheint, und daß die ständige unzutreffende Bezeichnung Congers durch Loeb als „Stabschef der amerikanischen Armee“ im Kabinett den Eindruck erwecken mußte, es handele sich hier um einen sehr viel kompetenteren und einflußreicheren Mann, als dies tatsächlich der Fall war.

Die organisatorischen und programmatischen Vorbereitungen deutscherseits für die Friedensverhandlungen hatten schon vor der Konstituierung des Kabinetts Scheidemann begonnen. Die Ausarbeitung der deutschen Verhandlungsrichtlinien hat im wesentlichen Brockdorff-Rantzau selbst vorgenommen176; bereits während der Sitzung vom 27. Januar hatte dem Rat der Volksbeauftragten ein Richtlinienentwurf vorgelegen177, der in späteren Entwürfen noch viel fach abgewandelt wurde, hauptsächlich im Sinne einer größeren Flexibilität der deutschen Verhandlungspositionen, bis er seine endgültige Gestalt in den „Richtlinien für die deutschen Friedensunterhändler“ vom 21. April 1919 bekam178. Von besonderer Bedeutung für die Erarbeitung der deutschen Verhandlungsunterlagen waren daben die Beratungen des Reichskabinetts vom 21. und 22. März179, in denen die einzelnen Punkte der Richtlinien eingehend diskutiert wurden; wohl wegen der Bedeutung dieser Kabinettssitzungen legte der Protokollführer, Regierungsrat Brecht, seine Notizen in einer dem Wortprotokoll angenäherten Form nieder, die es ermöglicht, den Auffassungen und Differenzen der einzelnen Kabinettsmitglieder in der Friedensfrage minuziös nachzugehen180.

Auch die organisatorischen Fragen waren im Grundsätzlichen bereits vor dem Amtsantritt der Regierung Scheidemann geklärt worden181. Die wichtigsten Maßnahmen bestanden in der Einsetzung einer sechsköpfigen Friedensdelegation für die Verhandlungen mit den Alliierten, unterstützt von einem umfangreichen[LIV] Stab von Kommissaren der einzelnen Reichsministerien, des Preußischen Kriegsministeriums und des Reichsmarineamts, sowie zahlreichen Sachverständigen; in Berlin wurde eine dem Auswärtigen Amt angegliederte Dienststelle unter der Bezeichnung „Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen“, in Telegrammadressen kurz „Paxkonferenz“ genannt, eingerichtet, die unter der Leitung des Botschafters Graf Bernstorff stand und, neben ihren rund 40 Beamten und Angestellten, über einen Stab von etwa 120 Sachverständigen aus allen Zweigen der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens verfügte. Bis zum Beginn der Friedensverhandlungen bestand die Aufgabe von „Paxkonferenz“ in der detaillierten Vorbereitung auf alle im Verlauf der Verhandlungen zu erwartenden Sachfragen; nach Beginn der Friedensgespräche sollte die Geschäftsstelle weiterhin die Erarbeitung von Detailfragen übernehmen, vor allem aber als Informationszentrale dienen; über sie lief auch die Verbindung zwischen der Friedensdelegation und der Reichsregierung182. So stand der organisatorische Rahmen im wesentlichen bereits fest, jedoch die damit verbundenen personellen Fragen bereiteten dem Kabinett einige Schwierigkeiten, wie bereits daraus hervorgeht, daß für deren Erörterung, den vorliegenden Kabinettsprotokollen zufolge, nicht weniger als achtzehn Tagesordnungspunkte notwendig waren. Zunächst waren die Listen der Sachverständigen für die Friedensdelegation, die sogenannte Liste A, und der Experten für die Paxkonferenz, die sogenannte Liste B, zu füllen, was sich angesichts der Vielzahl von Interessengruppen, die auf ihre Vertretung bei den Friedensgesprächen drängten, als nicht einfach erwies. Auch die Zusammensetzung der Friedensdelegation selbst wurde einigemale geändert183; selbst die Person des Delegationschefs scheint bis zum letzten Moment nicht ganz geklärt gewesen zu sein184. Schließlich sorgte Erzberger noch für einen Eklat, als er am 26. April in einem Schreiben an Scheidemann den Reichsaußenminister beschuldigte, die Delegation und deren Stab unsachgemäß zusammengesetzt zu haben185, was angesichts der detaillierten Kabinettsdiskussion gerade in dieser Frage in der Ministerrunde auf Erstaunen und bei Brockdorff-Rantzau auf Empörung stieß; dieser Brief war der Tropfen, der das Faß der gegenseitigen Abneigung zwischen Erzberger und dem Reichsaußenminister zum Überlaufen brachte186.

Die Einladung nach Versailles, die General Nudant am 18. April der deutschen Waffenstillstandskommission überreichte, war ein harter Schlag für die Erwartungen des Kabinetts, denn es war darin lediglich von einer Entgegennahme des alliierten Friedensvertragsentwurfs die Rede. Die in brüsker Form abgefaßte deutsche Antwortnote vom 19. April trägt ganz die Handschrift Brockdorff-Rantzaus187. Erst als daraufhin Foch die Entsendung von deutschen Delegierten verlangte, die bevollmächtigt seien, „die Gesamtheit der Friedensfragen[LV] zu verhandeln“, entschloß sich das Kabinett zur Entsendung der Friedensdelegation188. Die Delegation, die am 29. April in Versailles eintraf, bildete eine Art von Kabinettsausschuß; den Vorsitz führte der Reichsaußenminister, Graf Brockdorff-Rantzau; für die MSPD nahm Reichsjustizminister Landsberg, für das Zentrum der Reichspostminister Giesberts teil. Wegen der überragenden Wichtigkeit der Finanz- und Reparationsfragen bei den Friedensverhandlungen hatte das Kabinett den Bankier Carl Melchior, ein DDP-Mitglied, in die Delegation aufgenommen; hinzu traten der Präsident der preußischen Landesversammlung und Vorsitzende des Zentralrats, Oberbürgermeister Robert Leinert, sowie der Völkerrechtler, Pazifist und Vater des deutschen Völkerbundsplans189 Professor Walter Schücking.

An dieser Stelle kann nicht auf die Ereignisse in Versailles eingegangen werden190; allerdings spiegeln sie sich zu einem guten Teil in den Kabinettsdiskussionen wider. Vor allem zeigt sich hier ein überraschend hohes Maß an Uneinigkeit zwischen dem Kabinett und der Delegation in Versailles, überraschend hinsichtlich dessen, daß die Art der Zusammenarbeit vorher festgelegt worden war, und daß die Delegation selbst zur Hälfte aus Kabinettsmitgliedern bestand. Für diese alsbald nach der Abreise der Delegierten nach Versailles auftauchenden Differenzen zeichnen sich mehrere Gründe ab: einmal war man bei der Festlegung der Unterhändlerrichtlinien davon ausgegangen, daß in Versailles mündlich verhandelt werden würde; obgleich noch in der alliierten Note vom 20. April von Verhandlungen die Rede gewesen war191, lehnten die Ententevertreter es doch in der Folgezeit ab, sich mit den deutschen Delegierten zu treffen, so daß eine gänzlich neue Lage entstand. Im übrigen war der Verhandlungsspielraum der deutschen Delegierten nur durch die vierzehn Punkte Wilsons abgesteckt, die grundsätzliche Fragen betrafen, aber Einzelheiten von oft sehr erheblichen Gewicht offen ließen, so daß sich in solchen Fällen sowohl die Delegation als auch das Kabinett für zuständig halten konnten. Schließlich spielte auch der persönliche Gegensatz zwischen Erzberger und Brockdorff-Rantzau und die außerordentliche Empfindlichkeit des Reichsaußenministers gegen tatsächliche oder vermeintliche Eingriffe in seine Zuständigkeiten eine Rolle, was bereits während der Kabinettssitzung am 2. Mai in der Frage der russischen Funksprüche deutlich wurde192. Grund für weitere Streitigkeiten lieferte die Friedensdelegation, als sie nach der Entgegennahme der alliierten Friedensbedingungen vom 7. Mai beschloß, noch vor der Überreichung der deutschen Gegenvorschläge die Alliierten mit zahlreichen Einzelnoten zu bombardieren, in erster Linie wohl aus propagandistischen Gründen193. Kaum eine der zahlreichen Noten, die die Friedensdelegation fortan ausarbeitete, fand die[LVI] rückhaltlose Billigung des Kabinetts194, was Brockdorff-Rantzau dazu veranlaßte, scharf gegen die Kontrolle der Noten durch das Kabinett zu protestieren, da hierdurch die Arbeit der Delegation nur erschwert werde195. Das Kabinett reagierte, indem es die weitere Absendung von Noten kurzerhand untersagte196. Das wiederum führte zu einem neuerlichen Eklat, denn die Delegation kündigte ungeachtet des Kabinettsbeschlusses am 20. Mai in einer Note an Clémenceau die Überreichung von weiteren Noten an; die Reaktion des Kabinetts war scharf, mehrere Minister, darunter Erzberger, drohten mit ihrem Rücktritt197. Brockdorff-Rantzau verteidigte sein Vorgehen198, und das Kabinett beschloß, zur Beilegung dieser wie anderer Meinungsverschiedenheiten eine Abordnung unter der Führung Scheidemanns nach Spa zu senden, wo sie am 23. Mai mit der Friedensdelegation zusammentraf; der Delegation gelang es bei diesem Treffen, in allen wichtigen Punkten ihre Auffassungen durchzusetzen199, so auch in der Notenfrage.

Ein weiterer Punkt in dem Verhältnis zwischen Delegation und Kabinett, der sich als neuralgisch erwies, betraf die deutschen Gegenvorschläge zum alliierten Friedensvertragsentwurf. An der Ausarbeitung der Gegenvorschläge waren sowohl die Friedensdelegation, in erster Linie Professor Schücking200, als auch die Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen sowie die zuständigen Reichsministerien beteiligt201. Schwierigkeiten ergaben sich hier in der Frage der finanziellen Zugeständnisse an die Entente; die Vorstellungen des Reichsfinanzministers liefen darauf hinaus, keine festen Summen anzubieten, wie es die Finanzsachverständigen der Delegation gefordert hatten. Ein Gespräch zwischen Dernburg und Brockdorff-Rantzau am 18. Mai in Spa verlief in dieser Angelegenheit ergebnislos202; Dernburg erklärte vor dem Kabinett die finanziellen Vorschläge der Delegation für undurchführbar203, mußte es aber erleben, daß sich die Delegation im Verlauf des bereits genannten Treffens mit einem Teil des Kabinetts in Spa am 23. Mai auch in dieser Frage durchsetzte; das Argument, so sei eventuell eine Rücknahme der alliierten Territorialforderungen zu erreichen, scheint auch das Kabinett überzeugt zu haben204. Obgleich die Schlußredaktion der deutschen Gegenvorschläge bei der Delegation in Versailles lag, veröffentlichte das Kabinett voreilig, noch vor der Übergabe, eine Version, die mit der endgültigen Fassung nicht übereinstimmte, was zu erneuten Verstimmungen auf beiden Seiten Anlaß gab205.

Im Zusammenhang mit den deutschen Gegenvorschlägen stand die Frage der deutschen Abrüstung. Ursprünglich hatte das Kabinett ein 300 000-Mann-Heer[LVII] fordern wollen, verzichtete aber auf Einspruch Erzbergers, Dernburgs und Schückings in den Unterhändlerrichtlinien auf die Angabe einer bestimmten Heeresstärke206. Nach der Überreichung der alliierten Friedensforderungen schraubte das Kabinett seine Forderungen zunächst auf 200 000 Mann207, dann auf 100 000 Mann herunter208, wieder, um durch dieses Zugeständnis territoriale Opfer zu vermeiden. In dieser Angelegenheit waren sich Kabinett und Delegation einig; zu erheblichen Widerständen kam es von Seiten der Militärs209; zwischen General von Seeckt, dem Kommissar des Preußischen Kriegsministeriums bei der Friedensdelegation in Versailles, und dem Reichsaußenminister kam es deshalb zu einem heftigen Rencontre, das bis hin zu Duellforderungen ausartete210. Hier erwies sich jedoch die Reichsregierung, vor allem auch Noske, als vollkommen unnachgiebig. Es gab noch zahlreiche weitere Kontroversen zwischen dem Kabinett und der Delegation, so darin, wie die Kriegsschuldfrage in Versailles zu behandeln sei211, oder ob im Fall unerträglicher alliierter Forderungen eine diplomatische Intervention der neutralen Staaten herbeigeführt werden sollte, eine Idee Erzbergers, die der Reichsaußenminister geradezu erbittert bekämpfte212. Vor allem, um den Streit in diesen beiden Angelegenheiten beizulegen, reiste der Reichskolonialminister Bell am 2. Juni nach Versailles213.

Im Ganzen war also das Verhältnis zwischen dem Reichskabinett und der Friedensdelegation wenig glücklich; die Geschichte des Kabinetts Scheidemann hinsichtlich der Verhandlungen in Versailles, die tatsächlich keine Verhandlungen waren, ist im wesentlichen die Geschichte seines Streits mit der Friedensdelegation. Am 16. Juni überreichten die Alliierten in Versailles der deutschen Delegation in ultimativer Form ihre endgültigen Friedensforderungen; deren Prüfung, noch während der Heimreise der Delegierten am folgenden Tag durchgeführt, ergab, daß die Forderungen der Entente fast in keinem Punkt hinter dem Friedensvertragsentwurf vom 7. Mai zurückblieben214. Der Streit zwischen der Delegation und dem Kabinett war nun gegenstandslos; er war es die ganze Zeit über gewesen.

Fußnoten

154

Dok. Nr. 20, Schluß.

155

Dok. Nr. 89, P. 2; Nr. 90, P. 3; Nr. 94, P. 6.

156

Dok. Nr. 29, P. 5.

157

Dok. Nr. 53, P. 1; Nr. 56, P. 5; Nr. 59, P. 3; Nr. 61, P. 4; Nr. 68, P. 6; Nr. 69, P. 2.

158

Siehe Dok. Nr. 5 b, Anm. 11.

159

Dok. Nr. 20; Nr. 52 a; Nr. 52 b; Nr. 107, P. 6.

160

Dok. Nr. 50, P. 1; Nr. 52 a; Nr. 52 b; Nr. 58, P. 5; Nr. 59, P. 2; Nr. 81, P. 5.

161

Dok. Nr. 58, P. 5; Nr. 59, P. 2.

162

Dok. Nr. 5 b.

163

Dok. Nr. 2.

164

Siehe Dok. Nr. 7, Anm. 2.

165

Dok. Nr. 10a, P. 1; Nr. 14a, P. 2; Nr. 14b, P. 2; Nr. 15, P. 6; Nr. 17, P. 5; Nr. 18, P. 1.

166

Dok. Nr. 14, P. 1.

167

Dok. Nr. 23, P. 2; Nr. 59, P. 7; Nr. 61, P. 2; Nr. 71, P. 1; Nr. 75, P. 2.

168

Dok. Nr. 24, P. 1; Nr. 26, P. 6; Nr. 28, P. 1; Nr. 29, P. 7; Nr. 33; Nr. 34, P. 4; Nr. 35, P. 1.

169

Dok. Nr. 44, P. 4 Nr. 110, P. 5.

170

Dok. Nr. 21; vgl. Dok. Nr. 24, P. 2; Nr. 53, P. 4.

171

Siehe Dok. Nr. 71, P. 2.

172

Hierzu s. Epstein, Fritz T.: Zwischen Compiègne und Versailles, in: VjfZ, 3. Jg. 1955, S. 412 ff.

173

Weitere Berichte Loebs, die hier in den Anmerkungen zitiert wurden, in: Nachl. Landsberg , Kl. Erw. Nr. 328–3.

174

Dok. Nr. 8; Nr. 27; Nr. 73; Nr. 103.

175

Dok. Nr. 26, P. 2; Nr. 38, P. 7; Nr. 41, P. 4; Nr. 69, P. 5; s. auch Dok. Nr. 109.

176

Das geht aus einer Äußerung Brockdorff-Rantzaus während der Kabinettssitzung am 15.1.1919 hervor, in: R 43 I /1 , gefunden in R 43 I /1326 , S. 101-107; abgedr. in: Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, eingeleitet von E. Matthias, bearb. von S. Miller und H. Potthoff = Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 1. Reihe, hrsg. v. W. Conze und E. Matthias, Bd. 6/II, Düsseldorf 1970, S. 268.

177

S. Anm. 176, S. 319 ff.

178

Dok. Nr. 49.

179

Dok. Nr. 19; Nr. 20.

180

Siehe auch: Dok. Nr. 44, P. 1; Nr. 48, P. 3; Nr. 53, P. 5.

181

Siehe Luckau, Alma: The German Delegation at the Paris Peace Conference, New York 1941, hauptsächlich S. 27 ff. ; Bernstorff, Graf Johann Heinrich: Erinnerungen und Briefe, Zürich 1936, S. 174 ff.

182

Zur Organisation der Friedensverhandlungen auf deutscher Seite s. hauptsächlich: Dok. Nr. 10 a, Anm. 13; Nr. 21.

183

Dok. Nr. 10a, P. 7; Nr. 14b, P. 3; Nr. 21.

184

Dok. Nr. 54a, P. 4 a; s. auch Dok. Nr. 45.

185

Dok. Nr. 55.

186

Siehe Dok. Nr. 79.

187

Dok. Nr. 46, P. 2.

188

Dok. Nr. 48, P. 2.

189

Siehe Dok. Nr. 50, P. 2; Nr. 51, P. 1.

190

Zur deutschen Friedensdelegation in Versailles s.: Luckau, Alma: The German Delegation at the Paris Peace Conference, New York 1941; Cahén, Fritz Max: Der Weg nach Versailles, Erinnerungen 1912–1919, S. 305 ff. ; Schiff, Victor: So war es in Versailles, Berlin 1929.

191

Dok. Nr. 48, Anm. 2.

192

Dok. Nr. 58, P. 5; s. Dok. Nr. 59, P. 2.

193

Siehe Dok. Nr. 69, Anm. 5.

194

Siehe Dok. Nr. 72, P. 5, P. 8; Nr. 74, P. 2.

195

Dok. Nr. 78, P. 1.

196

Dok. Nr. 78, P. 5.

197

Dok. Nr. 82, P. 1.

198

Dok. Nr. 82, P. 1.

199

Dok. Nr. 84, insbesondere Anm. 1.

200

Dok. Nr. 72, P. 10.

201

Dok. Nr. 66, P. 3; Nr. 68, P. 1; Nr. 71, P. 4; Nr. 75, P. 4.

202

Dok. Nr. 79, insbesondere Anm. 10.

203

Dok. Nr. 80, P. 2.

204

Dok. Nr. 84; s. auch Dok. Nr. 86, P. 2, P. 11.

205

Dok. Nr. 89, P. 5; Nr. 90, P. 1; Nr. 91, P. 1; Nr. 98.

206

Dok. Nr. 48, P. 5; vgl. Dok. Nr. 49, P. IX.

207

Dok. Nr. 76, P. 2; Nr. 79.

208

Dok. Nr. 80, P. 8.

209

Dok. Nr. 86, P. 3; Nr. 87; Nr. 90, P. 7; Nr. 91, P. 6, P. 7; Nr. 97, P. 5.

210

Dok. Nr. 87; Nr. 90, P. 7; Nr. 97, P. 5.

211

Dok. Nr. 79; Nr. 88, P. 5; Nr. 91, P. 2; Nr. 94, P. 2.

212

Dok. Nr. 90, P. 6; Nr. 91, P. 3; Nr. 94, P. 3.

213

Dok. Nr. 98.

214

Dok. Nr. 113.

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