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Deutsch-französische Handelsvertragsverhandlungen.
Ministerialdirektor Ritter berichtete über den Fortgang der Delegationsverhandlungen2 nach Erteilung der in der Kabinettssitzung vom 5. August3 beschlossenen neuen Weisungen für deutsche Abordnung. Er führte aus, daß die Franzosen Deutschland die Meistbegünstigung nicht, wie gefordert, bereits zum 1. März 1928, sondern erst zum 15. Dezember 1928 zugestehen wollen. Dafür seien sie aber bereit, sich grundsätzlich dahin zu binden, daß der Vertrag frühestens zum 1. April 1929 mit anschließender dreimonatiger Frist gekündigt werden kann, so daß also die normale Laufzeit des Vertrages mindestens 22 Monate betragen würde. Da die tarifarischen Verhandlungen soweit gefördert seien, daß die gegenseitigen Diskriminierungen weitgehend ausbalanciert seien, könne man sich mit dem Erreichten wohl zufrieden geben. Bedenklich sei indessen, daß die Franzosen auf die Einräumung eines – übrigens beiderseitigen – außerordentlichen Kündigungsrechts für den Fall bestünden, daß während der vorgenannten normalen Laufzeit in Frankreich eine Zolltarifnovelle in Kraft treten solle. Die Franzosen hätten bei Aufstellung dieser Forderung allerdings selbst zu verstehen gegeben, daß es sich hierbei im wesentlichen um eine politische Forderung handele, die für die wirtschaftlichen Beziehungen wahrscheinlich nur theoretische Bedeutung haben werde. Wenn man nämlich die politische parlamentarische Lage Frankreichs prüfe, so werde man zu dem Ergebnis kommen, daß eine Zolltarifnovelle kaum vor dem 1. 1. 1929 in Kraft gesetzt werden könne. Auf Grund einer kurzen Vorbesprechung, die er mit den Herren des Reichswirtschaftsministeriums und des Reichsfinanzministeriums vor der Sitzung gehabt habe, glaube er empfehlen zu können, dieses außerordentliche Kündigungsrecht notgedrungen mit in Kauf zu nehmen.
Was die Frage der Diskriminierung Deutschlands in den französischen Kolonien anlange, so seien die dieserhalb nach der letzten Kabinettssitzung4 eingeleiteten diplomatischen Verhandlungen zwar noch nicht völlig abgeschlossen, es könne jedoch schon jetzt gesagt werden, daß sich in der Frage des Waren-[881] und Schiffsverkehrs zwar nicht alles, aber doch Wesentliches erreichen lassen werde und daß die deutsche Forderung auf Gewährung des Niederlassungsrechts jedoch absolut negativ beantwortet bleiben würde. Auch mit dieser Tatsache werde man sich wohl abfinden müssen.
Reichsminister Schiele vertrat demgegenüber den Standpunkt, daß man durchaus damit rechnen müsse, daß das als wahrscheinlich nur theoretisch bezeichnete außerordentliche Kündigungsrecht doch sehr wohl praktisch werden könne, zumal wenn sich der Vertrag für die Franzosen nach seinem Inkrafttreten als irgendwie unbequem herausstellen sollte. Das außerordentliche Kündigungsrecht mache den Vertrag zu einem wenn auch nur bedingt provisorischen. Aus den früheren Beschlüssen zur Sache sei daran festzuhalten, daß das Weinkontingent in ein Provisorium nicht hereingegeben werden dürfe. Er erklärte, daß er unter diesen Umständen Bedenken trage, das Weinkontingent freizugeben.
Reichsminister Hergt schloß sich im wesentlichen dieser Stellungnahme an und betonte darüber hinaus, daß für ihn namentlich auch politische Bedenken gegen die Einräumung der neuerdings geforderten deutschen Zugeständnisse hinzukämen. Der etwaige wirtschaftliche Erfolg wiege die politischen Opfer nicht genügend auf.
Staatssekretär Trendelenburg meinte, daß der provisorische Charakter des abzuschließenden Vertrages nicht allzu ernst zu nehmen sei. Nach seiner Auffassung werde das außerordentliche Kündigungsrecht mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit nur theoretisch bleiben. Was die bestehenbleibende Diskriminierung Deutschlands in den französischen Kolonien anlange, so stände sie in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen Nachteilen, die ein Scheitern der Vertragsverhandlungen im Gefolge haben würde. Die Verhandlungen würden auch später kaum mit besseren Bedingungen, wie sie jetzt erreicht wären, wiederaufgenommen werden können.
In den Beratungen trat eine Pause ein, weil der Herr Reichskanzler sich vorübergehend zu seinem Besuch bei dem Herrn Reichspräsidenten entfernen mußte. Nach Wiederaufnahme der Verhandlungen erklärte Reichsminister Schiele, daß Herr von Schorlemer in der Pause aus Paris fernmündlich angerufen und ihm den Eindruck vermittelt habe, daß bei fester Haltung der deutschen Delegation die Aufrechterhaltung des Weinkontingents in einem Vertrage mit dem zur Erörterung stehenden außerordentlichen Kündigungsrecht durchgesetzt werden könne. Er äußerte auch Bedenken dahin, ob es gelingen werde, im Reichstag einen Vertrag durchzubringen, der auf das Weinkontingent bei nicht absolut sichergestellter längerer Vertragsdauer verzichte.
Der Reichskanzler teilte diese Bedenken wegen der Erlangung einer ausreichenden Majorität im Reichstage für einen solchen Vertrag.
Reichsminister Stresemann, der nach der Pause erschienen war, meinte, daß es für den Fall der Aufrechterhaltung des Weinkontingents gegenüber der außerordentlichen Kündigungsforderung der Franzosen wesentlich darauf ankomme, die Weisung für die deutsche Delegation so zu formulieren, daß die Franzosen in die für sie taktisch unbequeme Lage kämen, die Verantwortung[882] für ein etwaiges Scheitern der Verhandlungen ihrem Parlament gegenüber auf sich nehmen zu müssen. Das Kabinett beschloß dementsprechend, daß die deutsche Delegation so instruiert werden solle, daß dem französischen Kabinett die Entscheidung darüber zufällt, ob es unter Verzicht auf die außerordentliche Kündigung einen Vertrag mit voller Freiheit in Wein akzeptieren will – wozu das Reichskabinett bei sichergestellter längerer Vertragsdauer bereit ist –, oder ob es die Beibehaltung des außerordentlichen Kündigungsrechts unter Hinnahme des Weinkontingents vorziehen will5.