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Nr. 12
Interview des Reichskanzlers mit dem Korrespondenten des International News Service Frank Mason. [5. April 1920]
[Betrifft: Einmarsch von Reichswehrtruppen in das Ruhrgebiet]
Nachdem der Einmarsch regulärer deutscher Streitkräfte in die neutrale Zone am Rhein eine Krisis in den deutsch-französischen Beziehungen herbeigeführt hat1, erbat Ihr Korrespondent ein Interview mit dem neuen deutschen[28] Reichskanzler Herrn Hermann Müller, um die amtliche deutsche Auffassung über diese brennende Frage kennen zu lernen.
Der Kanzler, der mich in der Reichskanzlei empfing, besprach die letzten Nachrichten aus dem Ruhrgebiet und betonte, daß das Ziel der von der Deutschen Regierung eingeleiteten militärischen Aktion im Ausland anscheinend völlig verkannt werde.
„In Wirklichkeit“, sagte er, „handelt es sich gar nicht um eine militärische Aktion in dem Sinne, in dem dieses Wort in dem letzten Kriege gebracht worden ist. Es handelt sich um nichts weiter als eine ganz reine Polizeimaßnahme, die nur deshalb durch militärische Einheiten ausgeführt wird, weil leider die Verhältnisse in dem in Betracht kommenden Distrikt schnelle und gründliche Maßnahmen in so großem Umfange erfordern, daß sie über das Aktionsvermögen der gewöhnlichen Sicherheitswehr hinausgehen. Tatsächlich unterscheidet sich diese Affaire materiell nicht von jenen gelegentlichen Fällen von Gesetzlosigkeit in Ihrem eigenen Lande, bei denen – wie bei dem bekannten Colrado[!]-Aufruhr2 – Ihre Regierung oder die Gouverneure der einzelnen Staaten die Nationalgarde oder die Staatsmiliz aufbietet, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten oder wiederherzustellen. Der einzige äußerliche Unterschied liegt darin, daß wir, da wir keine Staatsmiliz besitzen, die Reichswehr aufbieten müssen, um diese Polizeipflichten zu erfüllen, die wie Ihnen bekannt ist, unter der Leitung eines besonders dafür bestellten Civilbeamten durchgeführt werden.“
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Der RK dürfte sich hierbei auf die schweren Arbeiterunruhen beziehen, die den Staat Colorado in den Jahren 1894, 1896/97 und 1903/04 erschüttert hatten und erst nach dem Einsatz der Miliz und Verhängung des Kriegsrechts beigelegt worden waren.
„Gesetzlosigkeit und Anarchie im Ruhrgebiet“, fuhr der Kanzler fort, „haben jetzt die Grenze des Erträglichen erreicht. Jede Stunde erhalten wir die dringendsten Appelle um sofortige Unterstützung von den Bewohnern jenes Landesteiles, und zwar nicht nur von bürgerlichen Kreisen, sondern auch von den Arbeitern, einschließlich großer Verbände, die zur Unabhängigen Sozialistischen Partei gehören. Unter diesen Umständen könnte keine Regierung, die einen angemessenen Sinn für das Leben, das Wohlergehen und das Eigentum ihrer Bürger besitzt, pflichtgemäß noch länger drastische Maßnahmen hinausschieben.“
Ich fragte, ob die Deutsche Regierung nicht internationale Komplikationen in dieser Angelegenheit befürchte. Herr Müller erwiderte:
„Die Welt weiß, daß wir uns gehütet haben, vorschnell zu handeln. Nachdem im Friedensvertrag die Neutrale Zone geschaffen worden ist, um Frankreich vor einem möglichen deutschen Angriff zu bewahren, sind wir uns durchaus bewußt, daß eine partielle und zeitweilige Besetzung derselben durch Reichswehr-Einheiten – wiewohl sie sicherlich nicht eine Verletzung des Geistes jener Vertragsbestimmung darstellen könnte – als eine technische Verletzung des Wortlautes des Vertrages angesehen werden könnte. Wir haben[29] daher den Fall ganz offen den zuständigen Stellen in Paris vorgestellt3. Da indessen keine weitere Zeit verloren werden durfte, wurden wir durch die Verhältnisse gezwungen, der Reichswehr zu befehlen, ohne weiteren Verzug vorzugehen. Denn naturgemäß hat die Abneigung der Französischen Regierung, unseren Truppen das Einrücken in die Neutrale Zone zu gestatten, wie sie sich für jederman aus den Pressenachrichten ergab, nicht verfehlt, den Widerstand der gesetzlosen Elemente jenes Landesteiles in der verderblichsten Weise zu stärken. Offenbar würden sie, wenn sie hoffen konnten, gegen einen Angriff der Reichswehr ganz sicher zu sein, die Sachlage gut ausnützen und, indem sie die fragliche Vertragsklausel zu einem Freibriefe für ihre Gesetzlosigkeit benutzen, dort ein dauerndes System des Terrors und der Anarchie errichten.“
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Eine Note über die Absicht, Reichswehrtruppen in die demilitarisierte Zone einrücken zu lassen, war vom Gesandten Göppert den Botschaftern Englands, Italiens, Japans und Amerikas am 4. 4. „zugestellt“ worden (Telegramm Göpperts vom 4.4.20; R 43 I/2728, Bl. 234). In der „Aufzeichnung über die zwischenstaatlichen Verhandlungen […]“ heißt es zum Schluß: „Während des ganzen Verlaufs der Verhandlungen sind sowohl in den alliierten Hauptstädten, sowie auch an die fremden Geschäftsträger in Berlin durch die zuständigen deutschen Stellen die genauesten Informationen über den Fortgang der Ruhrangelegenheit gegeben und seitens der deutschen Geschäftsträger bei den fremden Regierungen alle Schritte getan worden, die geeignet waren, den Fortgang der Pariser Verhandlungen zu unterstützen“ (R 43 I/2728, Bl. 243).
„Das Geschwür am Rhein muß ausgebeizt werden, und zwar so schnell wie möglich“, schloß der Kanzler. „Jene Gegend muß gründlich aufgeräumt werden, wobei das Aufräumen in erster Linie in einer systematischen Entwaffnung der Bevölkerung bestehen muß. Andernfalls wird sie ein bleibender Schwären und ein Gefahrwinkel der übelsten Sorte werden, nicht für Deutschland allein sondern für ganz Europa!“