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Arbeitslosenversicherungsreform.
Den Vorsitz führte in Abwesenheit des erkrankten Reichskanzlers der Reichswirtschaftsminister.
Der Reichswirtschaftsminister bat den Reichsarbeitsminister zu überlegen, ob er nach dem Ablauf der soeben beendeten Besprechung mit den Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien noch andere Vorschläge machen könne, als in der Regierungsvorlage enthalten seien1.
Der Reichsarbeitsminister betonte, daß er keine anderen Vorschläge machen könne.
Der Reichswirtschaftsminister erklärte, daß er diesen Standpunkt teile. Die Reichsregierung habe den gesetzgebenden Körperschaften eine Vorlage zugeleitet und könne zur Zeit keine neue Vorlage machen.
Im einzelnen führte er aus, daß die Schätzung von 1,1 Millionen Erwerbsloser auch künftighin die Grundlage bilden müsse. Im Interesse der Reichsfinanzen müsse man sogar etwas reichlich schätzen; es gelte, die Reichsfinanzen vor dem Verfall zu schützen. Vielleicht sei nun der Gedanke des Prälaten Leicht nicht abwegig, sowohl die Abbaumaßnahmen des Gesetzes als auch die Beitragserhöhung zeitlich zu befristen. Vielleicht könnte hierdurch die Situation erleichtert werden.
In taktischer Beziehung komme er zu dem Ergebnis, daß zunächst der Sozialpolitische Ausschuß des Reichstags in erster Lesung abstimmen müsse. Sodann habe der Reichsrat Beschluß zu fassen, der am Dienstag, dem 10. September eine Plenarsitzung abhalten werde. Hiernach müsse das Reichskabinett zu den Beschlüssen des Reichsrats Stellung nehmen2.
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Die Plenarsitzung des RR über den GesEntw., die für den 4. 9. vorgesehen gewesen war, war auf Antrag Preußens vertagt worden, und zwar mit der Begründung, „daß es ihm – im Gegensatz zu allen übrigen Ländern – bisher noch nicht möglich gewesen sei, eine Beschlußfassung des StMin. herbeizuführen. Offenbar ist dem PrStMin. die Beschlußfassung aus politischen Gründen unangenehm“ (Vermerk der Rkei vom 4. 9.; R 43 I/2036, Bl. 38 f., hier: Bl. 38 f.). Im Sozialpolitischen Ausschuß des RR war bisher der Antrag Bayerns angenommen worden, auf eine Regelung für die Saisonarbeiter zu verzichten und stattdessen die Leistungen für die Lohnklassen VII–XI einzuschränken. „Durchgesetzt hat sich also allgemein gesprochen, der Standpunkt des Zentrums und der DVP, nicht jedoch der Standpunkt der Sozialdemokratie“ (a. a. O.). Auf Antrag Württembergs sei die Wartezeit der Saisonarbeiter von vier bis zwei Wochen nach der Zahl der zuschlagberechtigten Angehörigen gestaffelt worden. Der RR habe die Bestimmung über die Dauer des erhöhten Beitrags zur ALV im GesEntw. gestrichen. Die Ersparnisse würden nach den Beschlüssen des RR gegenüber dem GesEntw. des RArbM von 92 Mio RM auf 176,9 Mio RM erhöht. Die Beitragserhöhung um ½% werde jährlich 140 Mio RM erbringen. „Nach dem RR-Beschluß ergibt sich also ein Überschuß von 37,9 Mio RM, während nach dem Regierungsentwurf ein rechnerischer Fehlbetrag von 47 Mio RM übrig bleibt“ (ebd.).
[909] Der Reichsminister der Justiz vertrat gleichfalls die Auffassung, daß die Regierung im Moment keine neue Vorlage ausarbeiten könne. Eine Abstimmung im Sozialpolitischen Ausschuß in erster Lesung sei nicht zu vermeiden. Es sei nicht möglich, unter die Ziffer von 1,1 Millionen Erwerbsloser herunterzugehen. Den Gedanken des Prälaten Leicht begrüße er, den Abbau der Leistungen und die Beitragserhöhung zeitlich zu begrenzen.
Der Reichsminister der Finanzen betonte, daß die Abstimmung in der morgigen (5. September) Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses des Reichstags in erster Lesung stattfinden müßte. Eine Einigung unter den Regierungsparteien müsse unbedingt erzielt werden. Das Fortbestehen der jetzigen Koalition sei dringend geboten, um die großen Aufgaben vor allem auch außenpolitischer Art zu lösen.
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erklärte gleichfalls ein Fortbestehen der jetzigen Regierungskoalition für dringend geboten. Er keine Einigung zu erzielen war, mußten jetzt endlich einmal die verschiedenen Anträge zur Abstimmung gebracht werden. Wenngleich dadurch augenblicklich, formell gesehen, der Zustand ein ziemlich chaotischer ist, indem nämlich in dem