1.35 (str2p): Nr. 149 Besprechung mit Vertretern der Sechserkommission über das Ruhrgebiet vom 19. Oktober 1923, 12 Uhr

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[630] Nr. 149
Besprechung mit Vertretern der Sechserkommission über das Ruhrgebiet vom 19. Oktober 1923, 12 Uhr

R 43 I /453 , Bl. 84–89 Durchschrift

Anwesend: Stresemann, Brauns, Koeth, Oeser; StS Kempkes, Schroeder; H. Stinnes, Vögler, Klöckner, Lübsen, Janus; Protokoll: MinR Kiep.

Herr Vögler berichtete über die letzten Verhandlungen in Düsseldorf: Der Kampf zwischen Militär- und Zivilbehörden über die Führung bei den Wirtschaftsverhandlungen, der gegenwärtig in Paris ausgetragen werde, dürfte mit einem Siege der Zivilressorts ausgehen1.

1

S. Anm. 5 zu Dok. Nr. 122.

Die jetzigen Besprechungen fanden dementsprechend auch mit den französischen und belgischen Führern der Ingenieurkommission statt. Das Ergebnis ist in dem überreichten Protokoll zusammengefaßt2.

2

S. Dok. Nr. 146.

Danach verlangen die Franzosen hinsichtlich der Kohlensteuer in erster Linie die Anerkennung von seiten der deutschen Industriellen, daß sie zur Zahlung verpflichtet seien. Über die Modalitäten der Zahlung selber würde sich eine Einigung erzielen lassen. Unnachgiebig seien dagegen die Franzosen und Belgier in der Frage der Reparationslieferungen. Der französische Vertreter wolle in dieser Beziehung die Erklärung des Reichskanzlers in seinem Briefe an Herrn Stinnes3 nicht anerkennen. Insbesondere habe er darauf hingewiesen, daß ja an Italien geliefert werde4 und daß der deutsche Geschäftsträger in Brüssel auch Belgien gegenüber die Wiederaufnahme der Lieferungen versprochen habe5. Jede Zahlung für die Reparationskohlen sei unbedingt abgelehnt worden, ebenso habe man eine Freigabe der beschlagnahmten Kohlen und Eisenbestände für indiskutabel erklärt.

3

S. Dok. Nr. 131.

4

S. Dok. Nr. 97 und Dok. Nr. 125, P. 6.

5

S. Anm. 4 zu Dok. Nr. 146.

An Reparationskohle wird verlangt 1,8 Millionen Tonnen im Monat, d. h. 15–18% der Gesamtförderung. Hiervon seien die Besatzungsbehörden in der Lage, mehr als die Hälfte aus den Regiezechen selber herauszuholen. Diese Regiezechen würden sie unter allen Umständen weiter in der Hand behalten und nach Bedarf neue Zechen hinzunehmen.

General Degoutte habe vor kurzem geäußert, daß die Regiezechen als notwendige Ergänzungen der Regiebahn schon aus militärischen Gründen unter keinen Umständen freigegeben würden. Im übrigen würde, wenn die Kohlenförderung wieder in Gang käme, zunächst der Reparationsbedarf zu liefern sein und an zweiter Stelle der Bedarf der Regiebahn. Alsdann könne nach dem Auslande verkauft werden, jedoch nicht in höherem Maße als im Jahre 1922. Nach dem unbesetzten Deutschland würde überhaupt nichts herausgelassen werden, bis eine Einigung über die Reparationslieferungen erzielt sei; danach würde[631] das unbesetzte Deutschland als Zollausland behandelt und ein Viertel des deutschen Zolles für die Einfuhr aus dem unbesetzten in das besetzte Gebiet, 4% des Fakturenwertes für die Ausfuhr aus dem besetzten in das unbesetzte Gebiet erhoben werden.

Geheimrat Klöckner faßte seinen Eindruck über die Absichten der Franzosen dahin zusammen, daß sie darauf hinausgingen, die deutsche Industrie an der Ruhr derart herabzudrücken, daß alle Kräfte über die Reparationsleistungen hinaus für die Selbsterhaltung beansprucht würden und keine Konkurrenzfähigkeit übrig bliebe.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß, wenn die französische Absicht dahin ginge, es für das Reich doch keinen Zweck habe, die Reparationslieferungen zu finanzieren.

Herrn Stinnes schien es fraglich, ob das französische Ziel derart einseitig auf Zerstörung gerichtet sei. Es komme den Franzosen gegenwärtig darauf an, auf das Reich einen Druck auszuüben und sie hätten mehrfach betont, daß ihnen eine Anzahl Druckmittel gegen die deutsche Regierung zur Verfügung ständen, um letztere zu Reparationszahlungen bzw. zur Entschädigung der Werke für Reparationslieferungen zu zwingen. Das französische Ziel sei danach, die gesamte Kohlenproduktion in die Hand zu bekommen, um damit ihre Eisenindustrie zu versorgen und den Markt gegenüber England und Amerika zu beherrschen. Die deutschen Eisenhütten würden sie gegebenenfalls stillegen und alle unbeschäftigten Arbeiter nach dem unbesetzten Deutschland abschieben.

Es frage sich nun, ob die deutsche Regierung bereit sei, wenn auch sofortige Zahlungen für Reparationsleistungen sich nicht ermöglichen ließen, den Werken gegenüber die Garantie für vorschußweise geleistete Kohlenlieferungen zu übernehmen. Es sei denkbar, daß die Industrie in der Lage sei, auf solche Weise 3 bis 4 Monate lang unter Zuhilfenahme fremder Kredite sich zu halten, wenn sie inzwischen vom Reiche dadurch unterstützt werde, daß ihr sämtliche Steuern erlassen würden und im übrigen Bewegungsfreiheit gewährt werde.

Sei das Reich nicht in der Lage, eine solche Garantie zu übernehmen, dann müsse den Führern der Industrie volle Freiheit gegeben werden, selbständig einen modus vivendi mit den Besatzungsmächten herbeizuführen zu suchen6. Sie würden alsdann sofort zunächst in Düsseldorf alsdann in Koblenz und schließlich in Paris Verhandlungen mit den Franzosen aufnehmen und dabei mehr oder weniger alle Bedingungen annehmen müssen, welche eine Wiederaufnahme der Arbeit ermöglichten. So vorzugehen, sei nicht nur der einzige Ausweg aus der jetzigen Lage, sondern auch die moralische Pflicht der Führer der Industrie gegenüber den Millionen von Arbeitern, die von ihnen abhingen und welche bei einer Fortdauer der Beschäftigungslosigkeit dem Verhungern preisgegeben seien7. Es müßte daher von der Reichsregierung im Falle der Ablehnung von Zahlungen bzw. Garantien die Aufforderung an die Industrievertreter ergehen, in dem erwähnten Sinn mit den Franzosen zu verhandeln[632] und es dürfte nicht in Frage kommen, daß die Führer der Industrie wegen solcher Verhandlungen als Landesverräter in der deutschen Öffentlichkeit bezeichnet würden8.

6

Vgl. dazu die von Stinnes abweichende Einstellung F. Thyssens im Schreiben an Degoutte vom 18.10.23 (Dok. Nr. 148).

7

S. Dok. Nr. 156.

8

Vgl. die Pressekontroverse über die ersten Verhandlungen am 5.10.23 (Dok. Nr. 121, Dok. Nr. 125, P. 1).

Auf die Frage des Herrn Reichsarbeitsministers, was im übrigen die Folge einer solchen ablehnenden Haltung der Reichsregierung sein würde, erwiderten die Herren Stinnes und Vögler, daß alsdann die gesamte Wirtschaft in die Hände der Franzosen gelange und das Ruhrgebiet mit samt seiner Bevölkerung dadurch unweigerlich der Abtrennung vom Reiche anheimfalle. Ehe jedoch selbst auf solcher Basis eine Einigung mit den Franzosen erzielt werde, würden wahrscheinlich die gesamten Betriebe auf längere Zeit stilliegen müssen, was mit den schwersten Folgen für die Arbeiterbevölkerung verknüpft sein werde.

Er, Herr Stinnes, wolle es nicht unterlassen zu sagen, welcher Weg im Interesse des Reiches der richtige sei. In dem einen Falle, d. h. bei Übernahme der Reparationsverpflichtungen, könne man hoffen, die Förderung im Ruhrgebiet schnell wieder aufzunehmen, um auf diese Weise der Bevölkerung große Leiden zu ersparen. Es sei aber wohl möglich, daß die Franzosen nach einiger Zeit mit neuen Forderungen hervortreten und das politische Ziel, welches durch das Reparationsversprechen des Reichs für den Augenblick vereitelt sei, auf andere Wege durchzusetzen versuchen würden.

Andererseits könne eine klare Ablehnung im jetzigen Augenblick, wenn auch unter Verlust des Ruhrgebietes, dazu führen, das Reich von den Verpflichtungen des Versailler Vertrages endgültig zu befreien.

Es sei außerordentlich schwer, zwischen diesen Alternativen den richtigen Weg zu erkennen.

Herr Vögler bat, daß auch, wenn das Reich jede Verpflichtung ablehne und es danach der Industrie allein überlassen bleibe, sich mit den Reparationsforderungen der Franzosen abzufinden, die Industrie als Entgelt für diese Leistungen von allen steuerlichen Verpflichtungen dem Reiche gegenüber befreit werde.

Herr Stinnes bat um eine Mitteilung der Stellungnahme der Reichsregierung bis zum Nachmittage des 19. Oktober.

Der Reichskanzler stellte in Aussicht, diese Entscheidung nach Erörterung im Kabinett zu geben9.

9

S. den Briefwechsel Stinnes–Stresemann vom 20./21.10.23 (Dok. Nr. 155, 160). Am 20.10.23 richtete die Bergbauverwaltung der Klöckner-Werke ein Schreiben an den RFM und nahm Bezug auf diese Unterredung, wobei davon ausgegangen wurde, daß die RReg. den Kommissionsvertretern die Bereitschaft ausgedrückt habe, bei einer Aufteilung der Betriebe in Aktiengesellschaften innerhalb und außerhalb des besetzten Gebietes die entstehenden Steuern niederzuschlagen. Die Klöckner-Werke würden dementsprechend vorgehen und der RReg. darüber Mitteilung machen (R 43 I /453 , Bl. 128/129).

Im Anschluß an die Aussprache wurde der vom Reichsverkehrsministerium angestrebte englische Kohlenkredit unter den anwesenden Herren erörtert10.

10

S. Dok. Nr. 128, Anm. 25.

Geheimrat Klöckner gab seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß englische Kohle in solchem Umfange angekauft würde, wo doch aus deutschen[633] Bergwerken im unbesetzten Gebiet erhebliche Kohlenmengen geliefert werden könnten.

Der Reichsverkehrsminister setzte demgegenüber die Gründe auseinander, aus denen die jetzige Aktion eingeleitet worden, und wies im übrigen darauf hin, daß der Vertragsabschluß noch nicht erfolgt sei.

Im übrigen gab der Reichsverkehrsminister einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Verhandlungen mit den Besatzungsmächten über die Eisenbahn im besetzten Gebiet11.

11

S. Dok. Nr. 146 und Dok. Nr. 156. Der RVM hatte an das Eisenbahnpersonal des besetzten Gebietes die folgende Aufforderung gerichtet: „Das im besetzten Gebiet anwesende Personal der zur Zeit nicht im Betrieb der deutschen Verwaltung befindlichen Bahnstrecken wird angewiesen, sich von Mittwoch, den 17. Oktober ab zur Aufnahme des Dienstes bei den Dienststellen der Regie zu melden. – Gegen die Ableistung des geforderten Diensteides ist nichts mehr einzuwenden, nachdem der Leiter der Regie öffentlich folgende Erklärung abgegeben hat: ‚Um jedes Mißverständnis zu beseitigen, gibt die Regie folgendes bekannt: Die eidlichen Verpflichtungen, die die Regie von den deutschen Eisenbahnern bei der Wiederaufnahme der Arbeit verlangt, haben einen rein beruflichen Charakter. Der geforderte Eid hat somit keinerlei politische Bedeutung. Der Direktor der Regie gez. Breaud. Nach vorstehender Erklärung kann die Abgabe des Eides die gegen das Reich bestehenden und weiter bestehend bleibenden Treuepflichten nicht aufheben. Namens der Reichsregierung stelle ich dabei fest, daß die Regierung die Regie als eine nur vorübergehende Verwaltung anerkennen kann, und daß der gegenwärtige Betrieb durch die Regie die Rechte des Deutschen Reiches an den Bahnen nicht berührt. gez. Oeser“ (Die Zeit, Nr. 239 v. 16.10.23).

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