2.30 (bau1p): Nr. 29 Der Reichswehrminister und der Preußische Kriegsminister an den Reichsministerpräsidenten, 19. Juli 1919

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Nr. 29
Der Reichswehrminister und der Preußische Kriegsminister an den Reichsministerpräsidenten, 19. Juli 1919

R 43 I /1796 , Bl. 96–97

[Betrifft: Räumung der östlichen Abstimmungs- und Abtretungsgebiete1.]

1

Aufgrund der Bestimmungen des VV mußten Teile der pr. Provinzen Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien an Polen und die Tschechoslowakei ohne Befragen der betroffenen Bevölkerung abgetreten werden (zur Grenzziehung im einzelnen s. Artt. 27 Ziff. 6 und 7, 28, 82, 83, 87 und 88 VV); die bereits Ende 1918 eingeleitete gewaltsame Abtrennung der Provinz Posen wurde im Rahmen der Grenzbeschreibung des VV völkerrechtlich anerkannt; die Städte Memel und Danzig mit ihrem Umland waren gleichfalls ohne Volksabstimmung aus dem dt. Staatsgebiet auszugliedern (Artt. 99 und 100 VV); dagegen sollten in den west- bzw. ostpr. Regierungsbezirken Marienwerder und Allenstein (außer Soldauer Gebiet), im Kreis Oletzko sowie im überwiegenden Teil Oberschlesiens Volksabstimmungen zur Grundlage einer nachfolgend von den All. festzustellenden Staatszugehörigkeit der Gebiete gemacht werden (Artt. 88 nebst Anlage, 94–97 VV). Für die Räumung der Abstimmungsgebiete durch dt. Truppen und Behörden war in den genannten Artt. eine Frist von zwei Wochen nach Inkrafttreten des VV gesetzt worden.

Die militärische Räumung der abzutretenden und der für [die] Abstimmung vorgesehenen Ostgebiete wird sich voraussichtlich nicht ganz ohne Reibungen durchführen lassen. Die Truppe ist für die Kampfaufgabe in langer Zeit erzogen worden und sträubt sich nun gegen eine Preisgabe dieser Gebiete ohne jede Gegenwehr.

Der deutschen Bevölkerung ist tatkräftig militärische Hilfe fest versprochen worden; nunmehr fühlt sie sich von der Armee verraten und wehrlos der Willkür der Polen preisgegeben2.

2

In den dt. Ostprovinzen war von maßgebenden Zivilbeamten und Militärbefehlshabern schon frühzeitig der Gedanke erwogen worden, für den Fall, daß die RReg. in einem Friedensvertrag der Annexion dt. Gebiete durch Polen zustimmen würde, die Ostgebiete als geschlossene politische Einheit vom Reich abzutrennen und den Kampf gegen Polen fortzuführen (s. diese Edition: Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr. 111). Da die RReg. und die PrReg darauf verzichteten, eindeutig Stellung zu beziehen, konnte der Gedanke der Oststaatsezession und Polenoffensive in konkrete mil. Planungen umgesetzt werden, die erst mit der Ablehnung jeglichen mil. Widerstandes gegen den VV durch die OHL in sich zusammenfielen (Hagen Schulze: Der Oststaat-Plan 1919. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 18 (1970), S. 213 ff.). Zuletzt war der RReg. am 1. 7. eine Denkschrift des PrIM vom 25. 6. vorgelegt worden, in der die Fragen „1. Ist es notwendig, den nationalen Existenzkampf im Osten eventuell unter der Flagge einer ostdeutschen Republik zu führen? 2. Ist in einer ostdeutschen Republik die Stellung des Deutschtums tatsächlich gesichert?“ erörtert und ablehnend beantwortet wurden (R 43 I /1830 , Bl. 41–45). Sie scheint für die Urteilsbildung des RKab. keine Rolle mehr gespielt zu haben; „z. d. A.“-Vermerk Alberts vom 5. 7.

[134] Von seiten der militärischen Kommandostellen im Grenzschutz des Ostens sind Schritte getan worden, um die Truppe aufzuklären und zu beruhigen3.

3

Vgl. den Befehl des Chefs des Stabes des AOK Nord in Bartenstein, Oberst Heye, an die dem AOK Nord unterstellten Armeekorps vom 28. 6., in dem es u. a. hieß: „Nachdem ich sowohl in Weimar als auch hier in den Ost-Provinzen nach eingehender Prüfung klar erkannt habe, daß ein Kampf der Truppe gegen die Polen zur Rettung der Ostmark jeder Unterstützung der Behörden und Bevölkerung entbehren und ihm damit ein unrühmliches Ende schnell bereitet werden würde, ist es meine harte Aufgabe, einen solchen Kampf unter allen Umständen zu verhindern. Ich rechne hierbei bestimmt auf die loyale Unterstützung der Generalstabsoffiziere und verlange von ihnen, daß sie, auf die jede Truppe in erster Linie sieht und hört, auf Offiziere und Mannschaften entsprechend klipp und klar einwirken, ja daß sie sich nötigenfalls mit aller Energie etwaigen Sonderbestrebungen der Truppe entgegenstellen“ (Nachl. Luetgebrune , Nr. 24).

Darüber hinaus sind jedoch auch Maßnahmen der Reichsregierung erforderlich, um die Stimmung in der Truppe und in der deutschen Bevölkerung der Ostmark zu beruhigen und die reibungslose Durchführung des Friedensvertrages zu gewährleisten.

Folgende Maßnahmen der Reichsregierung werden vorgeschlagen:

1) Entsendung von Vertretern in die in Frage kommenden Gebiete, die den veränderten Standpunkt der Regierung begründen und Bevölkerung und Truppe beruhigen, deren vaterländische Gefühle und deren Willen zum Widerstand durch das „Unannehmbar“ der Regierung4 erweckt worden waren.

4

Am 12. 5. hatte RMinPräs. Scheidemann unter dem stürmischen Beifall der in der Aula der Berliner Universität zusammengetretenen NatVers. über die all. Friedensbedingungen vom 7. 5. geurteilt: „Dieser Vertrag ist nach Auffassung der Reichsregierung unannehmbar!“ (NatVers.-Bd. 327, S. 1084 ).

2) Verhandlungen mit den Polen noch vor der Räumung, um bindende Erklärungen etwa folgenden Inhalts zu erreichen:

Leben, Eigentum und persönliche Freiheit der in den abzutretenden und für die Abstimmung vorgesehenen Gebieten wohnenden Deutschen wird in keiner Weise angetastet5.

5

In Übereinstimmung mit Art. 93 VV war Polen bereits durch den am 28.6.19 mit den all. Hauptmächten abgeschlossenen Minderheitenschutzvertrag dazu verpflichtet worden, „allen Einwohnern den ganzen und vollständigen Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit zukommen zu lassen ohne Unterschied der Geburt, der Nationalität, der Sprache, der Rasse oder der Religion“ (Übersetzung des Bearbeiters nach: Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles, I, Dok. Nr. 106).

Keinem Bürger dieser Gebiete darf aus seiner früheren Angehörigkeit zum Grenzschutz ein Schaden oder ein Nachteil erwachsen. Voraussetzung braucht nur zu sein, daß er mit Beginn der polnischen Besetzung nicht mehr dem deutschen Heere angehört.

Die für die Abstimmung vorgesehenen Gebiete werden nur durch die im Friedensvertrage oder durch die betreffende Kommission zugestandenen Sicherungstruppen besetzt. Eine militärische Besitznahme findet nicht statt. Den ehemaligen deutschen Gebieten wird Selbstverwaltung zugestanden.

Alle Repressalien gegen die in der Provinz Posen lebenden Deutschen werden sofort aufgehoben. Alle Internierten sind freizulassen.

Bei den Verhandlungen mit den Polen wird die aus den geforderten Erklärungen klar zutage tretende Absicht der Regierung förderlich sein, die Gebiete in strikter Innehaltung des Friedensvertrages den Polen zu übergeben.

[135] Andererseits muß bei einer Verweigerung der geforderten Erklärungen durch den Hinweis ein scharfer Druck ausgeübt werden, daß auf andere Weise die Erbitterung und die Besorgnis über den polnischen Einmarsch nicht beseitigt werden kann. Es darf den Polen kein Zweifel darüber gelassen werden, daß bei Ablehnung der Erklärungen mit bewaffnetem Widerstand zu rechnen ist und daß die Verantwortung für die schweren Folgen der polnischen Regierung zur Last gelegt werden.

Die Tatsache, daß Verhandlungen mit den Polen stattfinden, sowie das Ziel dieser Verhandlungen müßte sofort nach ihrem Beginn der Ostmark bekanntgegeben werden. Es wäre d. E. eine Gelegenheit geboten, um das Vertrauen der Bevölkerung zur Regierung aufs neue zu wecken.

Ich bitte, vorstehende Anträge auf die Tagesordnung des Reichskabinetts zu setzen6.

6

Zum Fortgang s. Dok. Nr. 35, P. 6.

Der Reichswehrminister

Noske

Der Kriegsminister

Reinhardt

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