2.111.1 (bru1p): 1. Genfer Tagung.

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1. Genfer Tagung.

Die Verhandlungen vom Vormittag wurden nachmittags fortgesetzt.

Der Reichsminister des Auswärtigen trug die Fragen eingehend vor, die voraussichtlich auf der Genfer Tagung zur Verhandlung kommen werden.

Nach einem Vorschlage Finnlands sollen die Rüstungsbeschränkungen durch eine finanzielle Garantie des Völkerbundes in Höhe von 100 Millionen Schweizer Franken gesichert werden. Auf Deutschland sollen 8 Millionen RM entfallen. Der Vertrag solle nur in Kraft treten, wenn die Rüstungsbeschränkungen tatsächlich in Kraft gesetzt seien. Versuchen, diese Bestimmungen abzuändern, werde er entgegentreten1.

1

Es handelt sich um das von Finnland 1926 vorgeschlagene Finanzhilfsabkommen, durch das der VB in die Lage versetzt werden sollte, Staaten zu unterstützen, die durch den Angriff eines anderen Staates bedroht wurden (vgl. Dok. Nr. 124, Anm. 4). Die notwendigen Gelder sollten durch eine Anleihe von 100 Mio sfrs aufgebracht werden; die Anleihe sollte durch Garantien der Teilnehmerstaaten und durch Spezialgarantien der fünf Großmächte gesichert werden. Die Verwaltung der auf Grund dieser Garantien jährlich zu liefernden Bonds und Zinsscheine sollte einem Komitee von fünf Schweizer Treuhändern übertragen werden (WTB Nr. 918 vom 9.5.30, R 43 I /517 , Bl. 160).

Gegen eine Verbindung der ehemals deutschen Besitzungen in Deutsch-Ostafrika mit englischem Besitz habe er bereits im Reichstag Stellung genommen2.[419] Nötigenfalls werde er sich hierauf beziehen. Die Mandatskommission tage erst im November.

2

Der RAM hatte am 26.6.30 im RT den Plan der Brit. Reg., das frühere Schutzgebiet Dt.-Ostafrika mit den benachbarten brit. Kolonien zu vereinigen, abgelehnt, da dieses Vorhaben mit dem Grundsatz der Selbständigkeit der Mandatsgebiete unvereinbar sei (RT-Bd. 428, S. 5889 ).

Auf eine Frage des Reichsministers des Innern erwiderte Staatssekretär v. Bülow, daß nur wegen Südwestafrika eine Regierungserklärung vorliege, die aber später modifiziert worden sei. Auf eine Anfrage im Unterhause, ob Deutschland gegen eine Angliederung der Mandate Einspruch erhoben habe, sei eine verneinende Antwort gegeben worden. Inzwischen habe die Deutsche Botschaft weisungsgemäß die erforderlichen Schritte getan3.

3

Der Plan einer Verschmelzung des Mandatsgebiets mit den brit. Kolonien ging bis in das Jahr 1924 zurück. Im Juni 1930 hatte die brit. Reg. zwei Weißbücher veröffentlicht („Native Policy in East Africa“ und „Statement of Conclusions“), in denen sie die Übereinstimmung der beabsichtigten Neuerung mit den Mandatsbestimmungen (Art. 22 VV) betonte. In einer Aufzeichnung, die StS v. Bülow der dt. Botschaft in London am 1.9.30 zugesandt hatte, hatte das AA seine Bedenken gegen die Absichten der brit. Reg. geäußert, da die Selbständigkeit des Mandatsgebiets durch die Vereinigung mit den brit. Kolonien aufgehoben oder wesentlich eingeschränkt werde (Pol. Archiv des AA, Büro RM, 62 Akten betr. Kolonien, Bd. 2). Das dt. Aide mémoire wurde am 4. 9. der Brit. Reg. überreicht (Telegramm Bernstorff, Nr. 461 vom 4.9.30, Pol. Arch. des AA, Büro RM, 6 Akten betr. England, Bd. 10).

Der Reichsminister des Auswärtigen hoffte, daß für die Überweisung der Minderheitenfrage an die politische (6.) Kommission Stimmenmehrheit zu erreichen sein werde4.

4

S. Dok. Nr. 130, Anm. 19.

Erstrebt werde, dort eine eingehende Erörterung herbeizuführen. In Madrid seien zwar einige Verbesserungen erzielt worden5, doch sei fraglich, ob weitere Erfolge, etwa eine permanente Minderheitenkommission, durchgesetzt werden könnten. Tatsächlich sei die Angelegenheit noch nicht spruchreif. Der Nationalitätenkongreß tage gegenwärtig in Genf6. Erst nach Abschluß seiner Verhandlungen könne endgültig Stellung genommen werden.

5

Vgl. Dok. Nr. 130, Anm. 10.

6

Der VI. Europäische Nationalitätenkongreß tagte vom 3.–5.9.30 in Genf (Schultheß 1930, S. 498 f.).

Die Angleichung der Völkerbundssatzung an den Kellogg-Pakt werde vertragsmäßig noch nicht festgelegt werden. Die Reichsregierung werde, wie in der Elfer-Kommission, den Wunsch der Engländer nach Anpassung der Satzung an den Pakt unterstützen7. Jedenfalls müsse erstrebt werden, das Verfahren für eine Revision der Verträge nach Artikel 19 besser zu gestalten8.[420] Besserungen seien bereits erzielt, weitere müßten erstrebt werden. Gegebenenfalls werde Staatssekretär von Bülow dem Kabinett Bericht erstatten.

7

Auf der 10. VB-Versammlung in Genf vom 2.–25.9.29 hatte die Brit. Reg. die Anpassung des VB-Vertrags an den Kellogg-Pakt beantragt; am 17. 9. war die Bildung einer Unterkommission zur Prüfung dieses Antrags beschlossen worden: Schultheß 1929, S. 534. Dieses Elferkomitee, ein reines Juristengremium, hatte eine Anzahl von Amendements für die VB-Satzung beschlossen, die unter vielen Vorbehalten in Richtung des im Kellogg-Pakt ausgesprochenen Kriegsverbots gingen (Vermerk Plancks vom 28.4.30, R 43 I /495 , Bl. 92). Die 11. VB-Bundesversammlung vom 10. 9.–4.10.30 vertagte die Beschlußfassung über die Vorschläge (Runderlaß v. Weizsäckers vom 18.10.30, R 43 I /495 , Bl. 212).

8

Art. 19 VV lautete: „Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte.“

Deutschland müsse sich darauf einstellen, daß unmittelbare Verhandlungen zwischen Polen und Litauen zu einer Einigung führen würden. Deutschland könne dadurch in eine schwierige Lage kommen.

Litauen habe nach dem Handstreich der Polen gegen Wilna9 den Polen den Durchgangsverkehr verweigert (ukrainisches Getreide nach Libau), auch der Memelstrom sei ihnen gesperrt worden. Die Angelegenheit beschäftige den Völkerbund. Polen werde versuchen, eine Vertagung der Verhandlungen über diese Transit-Fragen herbeizuführen10. Deutschland habe in der Angelegenheit bisher eine litauenfreundliche Haltung eingenommen. Wegen der zunehmenden Schwierigkeiten im Memelgebiet11 werde diese Frage aber wohl in Zukunft nur mit äußerster Vorsicht behandelt werden können. Wegen der Memelfrage sei inzwischen das schiedsrichterliche Verfahren in Gang gesetzt. Die unfreundliche Haltung Litauens beruhe auf der deutschen Agrarpolitik, die den litauischen Markt schädige. Agrarpolitische Zugeständnisse aber seien nicht möglich. Deutschland werde eine Änderung der Haltung Litauens in der Memelfrage fordern müssen. Auf eine Anfrage, wie Deutschland sich in der Transit-Angelegenheit verhalten werde, sei erklärt worden, daß dies von der Entwicklung der Memelfrage abhängen werde. Der Wunsch der Polen, die Transitfrage zu vertagen, beruhe auf der Hoffnung, daß die Spannung zwischen Deutschland und Litauen inzwischen weiter wachsen werde.

9

Während des poln.-russ. Krieges war Wilna im Oktober 1920 von poln. Truppen eingenommen und 1922 in das poln. Staatsgebiet eingegliedert worden. Litauen hatte Anspruch auf Wilna erhoben und 1928 diese Stadt zur Hauptstadt erklärt.

10

Der VB-Rat vertagte die Entscheidung auf die Januartagung 1931 (Runderlaß v. Weizsäckers vom 27.10.30 über die 60. und 61. Tagung des VB-Rats, R 43 I /495 , Bl. 199).

11

Vgl. Dok. Nr. 130, Anm. 11.

Eine Verständigung zwischen Litauen und Polen würde eine große Gefahr für Ostpreußen bedeuten. Der unmittelbare Verkehr mit Rußland wäre dann nur noch auf dem Seewege möglich.

Rußland stehe in diesen Fragen ganz auf deutscher Seite.

Wegen der Aufhebung des Bahnschutzes an der Saar12, der durch die Regierungskommission13 am 20. August von 800 auf 250 Köpfe herabgesetzt sei, werde er zunächst mit Briand sprechen. Die Regierungskommission könne den Bahnschutz verringern, aber nicht aufheben. Hierzu sei der Völkerbundsrat zuständig. Deutschland werde diesen damit befassen, ob unter der Hand oder öffentlich, müsse noch entschieden werden. Wenn es gelänge, sich über das Verfahren zu verständigen und Frankreich das Gesicht wahren könnte, wäre es möglich, daß Frankreich nachgebe14. Angeblich seien die 250 Mann[421] nötig, um den Kohlentransport zu sichern. Tatsächlich sei der Bahnschutz geschaffen, um die Truppentransporte sicherzustellen. Nachdem diese fortgefallen seien, fehle jeder Grund. Die friedlichen Kohlensendungen könnten nicht zur Begründung dienen. Vielleicht wäre es möglich, anstelle der Truppe Gendarmerie treten zu lassen. Ob in dieser Hinsicht Erfolge zu erzielen seien, sei fraglich. Für die Franzosen hätte der Bahnschutz keine praktische, wohl aber psychologische Bedeutung.

12

Der aus frz. Truppen bestehende Saarbahnschutz war durch den Beschluß des VB-Rats vom 12.3.27 zum Schutz der Eisenbahntransporte für die im Rheinland stationierten frz. Truppen sowie des allgemeinen Transits aufgestellt worden (Schultheß 1927, S. 512–513). Nach der endgültigen Räumung des Rheinlands am 30.6.30 hatte die RReg. die Zurückziehung des Bahnschutzes gefordert.

13

Die Regierungskommission des Saargebietes vertrat den VB. Sie bestand aus fünf Mitgliedern: einem frz., einem saarländischen und drei Mitgliedern, die Staatsangehörige dreier anderer Länder als Frankreich und Dtld sein mußten (§§ 16 und 17 VV).

14

Vgl. dazu Dok. Nr. 130.

Auch die Schulfrage an der Saar sei schwierig. Frankreich versuche, deutsche Kinder in die französischen Schulen zu pressen. Die Interessenten schienen sich hierüber bereits beim Völkerbund beschwert zu haben. Es werde aber wegen der Schwierigkeiten der Verhandlungen über den Bahnschutz für Deutschland nicht möglich sein, zur Zeit diese Beschwerden zu unterstützen.

Briand habe seinerzeit möglichst baldige Lösung der gesamten Saarfragen gewünscht und auch versprochen, den Bahnschutz verschwinden zu lassen. Inzwischen sei die französische Politik wesentlich verschärft worden, so daß die Rückgliederung der Saar voraussichtlich nicht so bald erneut betrieben werden könne15. Das Kabinett werde hierüber im Herbst zu entscheiden haben. Keinesfalls würde es möglich sein, von deutscher Seite Konzessionen anzubieten.

15

Zum Scheitern der dt.-frz. Saarverhandlungen s. Dok. Nr. 61, P. 2.

Die Parteien im Saargebiet hätten eine Saaranleihe gefordert16; das Reich und Preußen hätten sie vor der Rückgliederung abgelehnt. Die Forderung sei aber erneut gestellt worden wegen der Arbeitslosigkeit und der Depression im Wirtschaftsleben.

16

S. Dok. Nr. 130, Anm. 6.

Es sei erwogen worden, Kommunalanleihen aufzunehmen. Wenn sich die Regierungskommission mit der Deutschen Regierung über die Durchführung des Verwendungszweckes verständigen würde, könnte auch an ein weitergehendes Entgegenkommen gedacht werden. Das Reich könne die Gelder aufnehmen, die Regierungskommission sie als Treuhänder verwalten. Zunächst sei es aber fraglich, ob es überhaupt zur Zeit möglich sei, auf dem Geldmarkt eine Anleihe hierfür aufzunehmen. Demnächst werde hierüber mit dem Reichsbankpräsidenten verhandelt werden müssen.

Es sei zu befürchten, daß die Parteien die Deutsche Regierung für einen weiteren Rückgang der wirtschaftlichen Verhältnisse an der Saar verantwortlich machen könnten, wenn ihren Wünschen nicht entsprochen würde. Es käme in Frage, daß Deutschland und Frankreich gemeinsam die Anleihe garantierten. Dann bestände aber die Gefahr, daß bei einer Abstimmung die dritte Frage, Beibehaltung des bisherigen Zustandes, gestellt und möglicherweise von der Bevölkerung bejaht würde. Dies müsse unter allen Umständen vermieden werden.

Den Wünschen der Bevölkerung sei, soweit irgend möglich, entgegenzukommen.

Der Reichskanzler wies darauf hin, daß eine Völkerbundsanleihe unmöglich sei; sie wäre eine Katastrophe. Die Vertreter der SPD hätten sie gefordert.

[422] Hierzu führte Staatssekretär von Bülow aus, daß die Anleihe amortisiert werden müßte. Die internationale Kontrolle würde also in einem Teilgebiet der Saar über 1935 hinaus aufrechterhalten werden müssen.

Preußen steht nach einer Erklärung des Staatssekretärs Weismann auf dem Standpunkt des Reichsministers des Auswärtigen.

Der Reichsminister des Auswärtigen führte weiter aus: Zur Paneuropa-Frage sei sachlich durch das Memorandum Stellung genommen17. Ergänzungen könnten nötigenfalls mit Hilfe der Sachverständigen gemacht werden. Hinsichtlich des Verfahrens habe Briand vorgeschlagen, am 8. und 9. September mit den 27 europäischen Mächten Sonderbesprechungen abzuhalten. Hierzu werde ein Weißbuch vorgelegt werden, das nur die Antworten der Länder ohne eine Würdigung ihrer Ausführungen enthalten würde18. Deutschland habe sich mit dem Verfahren einverstanden erklärt.

17

Vgl. Dok. Nr. 67, Anm. 1 u. 5.

18

Das Weißbuch der Frz. Reg. „Rapport sur les Résultats de l’Enquête instituée au sujet de l’Organisation d’un régime d’Union Fédérale européenne“ wurde den Regg. der europäischen Völkerbundsmächte am 8.9.30 in Genf vorgelegt. Text und Übersetzung des frz. Weißbuchs wurden in die 2. Ausgabe des Weißbuchs des AA „Schriftstücke zum Europa-Memorandum der Französischen Regierung“ (1930), S. 127–147 aufgenommen. Das dt. Weißbuch befindet sich in R 43 I /618 , Bl. 65–143.

Überwiegend werde eine besondere europäische Organisation abgelehnt. Der Völkerbund könne dadurch beiseite gedrückt werden. Das sei vom deutschen Standpunkt entschieden zu vermeiden.

Briand wolle vor der Völkerbundsversammlung seinen Standpunkt entwickeln mit dem Antrage, die Angelegenheit auf die Tagesordnung der Bundesversammlung zu setzen19.

19

In einem Gespräch mit Hoesch bestätigte Briand diese Absicht (Telegramm Hoeschs Nr. 866 vom 4.9.30, R 43 I /619 , Bl. 14–15).

Der Reichsminister des Auswärtigen hielt es für geboten, sich der englischen Anregung anzuschließen, nach der die Bundesversammlung über die Frage verhandeln solle. Weitergehende Beschlüsse müßten vermieden werden, insbesondere hinsichtlich einer permanenten Kommission. Die weiteren Entschließungen müßten bis zur Beendigung der Generaldebatte der Bundesversammlung zurückgestellt werden, die am 10. September beginne. Voraussichtlich werde der Plan an die politische und wirtschaftliche Kommission verwiesen werden.

Dann werde wohl die Einsetzung einer Studienkommission folgen, die das Ergebnis der Antworten zusammenfassen und die politischen und wirtschaftlichen Seiten des Planes besprechen würde20. Praktische Maßnahmen würden nicht beschlossen werden.

20

Der Wunsch nach Einsetzung eines Studienkomitees ging auf Briand zurück (Telegramm Hoeschs Nr. 866 vom 4.9.30, R 43 I /619 , Bl. 14–15). Die VB-Bundesversammlung beschloß am 17.9.30 die Konstituierung einer Studienkommission für die europäische Union. Auf Vorschlag des brit. AM Henderson wurde Briand am 23. 9. zum Vorsitzenden dieser Kommission gewählt (Weißbuch des AA, „Schriftstücke zum Europa-Memorandum der Französischen Regierung“, 2. Ausgabe 1930, S. 150–155).

Auf eine Bemerkung des Reichskanzlers sagte der Reichsminister des Auswärtigen zu, daß er dafür sorgen werde, daß die politischen Ausführungen des[423] deutschen Memorandums die erforderliche Beachtung finden würden. Er stellte auch in Aussicht, gegebenenfalls über die Zusammensetzung der Studienkommission zu berichten, die nach Ansicht des Reichsministers des Innern erhebliche politische Bedeutung erlangen könne, insbesondere weil die Gefahr bestehe, daß sie sich, beispielsweise hinsichtlich des Artikel 19, der französischen Meinung von vornherein anschließen würde.

Der Reichsminister des Auswärtigen hielt es für geboten, die ganze Angelegenheit zur Verhandlung im Völkerbund zu bringen.

Über die Wirtschaftskonferenzen der letzten Wochen berichtete Ministerialdirektor Dr. Ritter. In Bukarest seien auf Initiative des rumänischen Innenministers Vertreter der rumänischen, jugoslawischen und ungarischen Regierung zusammengetreten21, zunächst um den Fragebogen der Genfer Konferenz zu beantworten22. Dabei sei beschlossen worden, auf eine europäische Zollpräferenz hinzuarbeiten, eine Verpflichtung von Ländern, Getreide zum Vorzugszollsatz abzunehmen. Weiter solle der Zweck, die eigene Ernte unterzubringen, durch halbstaatliche Handelsgeschäfte angestrebt werden. Gemeinsame Abreden über Veterinärfragen seien getroffen worden. Im übrigen seien innere Fragen – Organisierung der Getreideerzeugung und des Absatzes, Standardisierung und ähnliches – zur Sprache gekommen.

21

Die Konferenz hatte im Juli stattgefunden (Schultheß 1930, S. 376 f.).

22

Die Genfer Zollkonferenz hatte im März 1930 die Versendung eines Fragebogens über zukünftige Handelsverhandlungen an alle beteiligten Staaten beschlossen. Die Antworten sollten bis zum 1.9.30 dem VB-Generalsekretär übermittelt werden.

Rumänien und Jugoslawien hätten dann in Sinaia weiterverhandelt. Sie strebten eine Zollunion an; die Verwirklichung des Planes sei schwierig.

Polen habe die drei Länder sowie Bulgarien, die Tschechoslowakei, Lettland, Estland, Litauen und Finnland zu einer Konferenz nach Warschau eingeladen. Litauen habe abgelehnt, Finnland einen Beobachter gesandt; im übrigen seien Vertreter der Regierungen erschienen23.

23

Die Warschauer Agrarkonferenz hatte vom 28.–30.8.30 getagt (Schultheß 1930, S. 371).

Ministerialdirektor Dr. Ritter gab dann eine Übersicht über die wesentlichen Beschlüsse, die in Warschau gefaßt worden sind (Telegramm aus Warschau Nr. 114 vom 31. August)24. Bei diesen Beschlüssen spielten die Veterinärfragen eine ziemlich erhebliche Rolle. Sie würden in Genf voraussichtlich dilatorisch behandelt werden, da sich die Länder, die als Käufer von Vieh und Viehprodukten auftreten, gegen die von den Verkäufern getroffenen Vereinbarungen sträuben. England habe Deutschland in dieser Hinsicht tatkräftig unterstützt. Allerdings sei in den nächsten Jahren mit starkem Druck der Verkäuferstaaten zu rechnen.

24

Die Konferenz hatte u. a. folgende Beschlüsse gefaßt: 1. Vorschlag für eine internationale Konvention über die Abschaffung von Ausfuhrprämien für landwirtschaftliche Erzeugnisse; 2. Grundsätzliche Annahme des rumänischen Vorschlags betr. die Festsetzung von Vorzugszöllen für europäisches Getreide; 3. Einberufung einer Finanzkommission in Warschau vor dem 10.11.30, die für die Konferenzstaaten gleiche Bestimmungen über die Gewährung landwirtschaftlicher Kredite ausarbeiten sollte; 4. Schaffung ständiger wirtschaftlicher Studienkomitees; 5. Vorschlag für den Abschluß einer internationalen Veterinärkonvention (Telegramm v. Rintelens, Warschau, Nr. 114 vom 31.8.30. R 43 I /1446 , Bl. 217 bis 218).

[424] Auf holländische Anregung habe eine vierte Konferenz in Kopenhagen stattgefunden, an der Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen beteiligt gewesen seien. Auch sie habe der Beantwortung der Fragebogen des Völkerbundes gedient, habe aber zu schärfsten Angriffen auf die deutsche Handelspolitik geführt.

Zunächst seien die rumänisch-jugoslawischen Besprechungen von besonderer Bedeutung, da mächtige Kreise der Regierung und Wirtschaft hinter diesen Bestrebungen ständen. Mit einer einheitlichen Front bei der Ausgestaltung unserer handelspolitischen Beziehungen zu diesen Ländern sei zu rechnen. Mit Rumänien würden die Verhandlungen bereits Anfang Oktober wieder aufzunehmen sein, da das letzte Abkommen nur bis 28. Februar [19]31 gelte. Der Wunsch gehe auf Zusage der Abnahme von Gerste und Mais.

Von der Warschauer Konferenz werde keine starke Wirkung ausgehen. Sie würde von einzelnen Ländern als unerwünschte Einmischung der Polnischen Regierung empfunden. Zwischen Ungarn und der Tschechoslowakei seien die Gegensätze stark zum Ausdruck gekommen.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft hielt es für notwendig, auf eine Bevorzugung von Rumänien und Jugoslawien hinzuarbeiten. Das Maismonopol25 werde hierzu die Möglichkeit geben. Im übrigen würden aber wegen der Meistbegünstigung weitere Maßnahmen kaum möglich sein.

25

Vgl. Dok. Nr. 11, Anm. 13.

Das Einfuhrbedürfnis an Weizen sinke in Deutschland stark, in der zweiten Hälfte von 1931 werde mit einem wesentlichen Rückgang der Weizeneinfuhr gerechnet werden können, da die Landwirtschaft sich stark auf den Weizenbau umstelle. Es müsse angestrebt werden, den deutschen Bedarf an landwirtschaftlichen Gütern dort zu decken, wo die Industrie besondere Ausfuhrinteressen habe.

Staatssekretär Dr. Trendelenburg führte hierzu folgendes aus: die Südostländer Europas wollen keine Kontingente, sondern Vorzugszölle. An sich sei das eine erträgliche Lösung, solange die Mengen, die von dort her bezogen werden, den Bedarf nicht in vollem Umfange decken.

Zu prüfen sei aber die Rückwirkung einer Maßnahme dieser Art auf die übrige Handelspolitik.

Ein Präferential-System würde die englischen Bestrebungen in dieser Richtung fördern. Wenn das übrige Europa Zollsenkungen grundsätzlich ablehne, werde England zu einem engeren Zusammenschluß des Britischen Weltreichs kommen, das sich dann durch Zölle von der übrigen Weltwirtschaft abschließen werde.

Die Rückwirkung würde auch in den Vereinigten Staaten und in Südamerika zu verspüren sein. Jetzt bereits seien die südamerikanischen Regierungen von den Vereinigten Staaten weitgehend abhängig. Mit einem wirtschaftlichen Panamerika könne dann gerechnet werden. Argentinien versuche noch mit Europa zu arbeiten, aber wenn seine Waren dort schlechter gestellt würden als die anderer Länder, so würde es auch der amerikanischen Wirtschaftsmacht überantwortet.

[425] Diese Gruppenbildung würde vom Standpunkt der Landwirtschaft schwerwiegende Folgen haben. Die wichtigste Frage aber sei, ob Deutschland seinen Export mehr nach Übersee als nach Europa zu lenken gezwungen sei.

Es müsse vermieden werden, daß bei der Behandlung dieser Probleme durch den Völkerbund Europa zu stark unter den Einfluß Frankreichs komme. Deutschland habe als Einfuhrland in dieser Hinsicht eine starke Position.

Der französische Paneuropa-Plan erstrebe die Kontrolle über die Märkte. Keine Studienkommission dürfe in die Lage kommen, die deutsche Bewegungsfreiheit zu hemmen.

Es werde erforderlich sein, daß Deutschland mit Jugoslawien und Rumänien die grundsätzlichen Fragen durchspreche. Dann müßten die anderen Länder in das geplante Präferential-System mit diesen einwilligen. Auch andere unschädliche Länder könnten hinübergezogen werden.

Die Erklärung des Reichsministers Dietrich wegen der Südoststaaten Europas hätte die Aufmerksamkeit Frankreichs erweckt, obwohl Frankreich an sich an dem Getreideproblem nur gering interessiert sei.

In der Veterinärfrage möchte Frankreich den Polen und den Ostländern auf Kosten Deutschlands Vorteile verschaffen. Es müsse vermieden werden, daß sich die Franzosen dort einschalten, wo sie sachlich weniger als andere in Frage kommen.

Es bestand Übereinstimmung darüber, daß die Staatssekretäre Trendelenburg und Dr. Pünder zunächst die Delegation nicht nach Genf begleiten, daß sie aber nötigenfalls nachreisen werden.

Nach eingehender Aussprache stimmte das Kabinett den Vorschlägen des Reichsministers des Auswärtigen zu.

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