2.56.1 (bru1p): Politische Lage.

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Politische Lage.

Das Reichskabinett setzte die in der Nachtsitzung vom 24. Juni unterbrochenen Beratungen fort1.

1

S. Dok. Nr. 54.

Der Reichskanzler erklärte, daß er es nach reiflicher Überlegung für richtiger halte, von der Einbringung eines Ermächtigungsgesetzes abzusehen. Nach seiner Berechnung würden für ein solches Ermächtigungsgesetz im Reichstag günstigstenfalls 193 Stimmen zu haben sein. Ein derartig ungünstiges Abstimmungsergebnis[236] sei im Grund genommen gleichbedeutend mit einem Mißtrauensvotum gegen die Regierung. Darum schlage er vor, den Versuch zu machen, die Deckungsvorlagen auf ordnungsmäßigem Wege über Reichsrat und Reichstag durchzubringen. Einen derartigen Versuch halte er nicht einmal für aussichtslos. Aus Besprechungen mit führenden Persönlichkeiten der Deutschen Volkspartei habe er den Eindruck gewonnen, daß diese Fraktion doch noch einlenken und das Notopfer der Personen im öffentlichen Dienst letzten Endes mitmachen werde2. Falls sich allerdings vor den entscheidenden Abstimmungen herausstellen sollte, daß die Perspektiven für die Durchbringung der Deckungsgesetze absolut negativ seien, müsse die Regierung ihren Willen notfalls mit Hilfe des Art. 48 der Reichsverfassung durchsetzen. Übrigens halte er es auch nicht für ausgeschlossen, daß von seiten einzelner Fraktionen im Wege des Initiativantrages der Regierung ein Ermächtigungsgesetz angetragen werde, wenn nach der Entwicklung der Dinge feststehe, daß auf ordnungsmäßigem parlamentarischen Wege eine Annahme der Deckungsvorschläge ausgeschlossen erscheint.

2

Vgl. dagegen Dok. Nr. 54, Anm. 1.

Staatssekretär Joël äußerte sich auf Ersuchen des Reichskanzlers gutachtlich dahin, daß die Anwendung des Art. 48 der Reichsverfassung rechtlich möglich sei, sofern eine entscheidende Abstimmung über die in Frage kommenden Gesetze noch nicht erfolgt sei, daß dagegen der Erlaß vom Reichstag bereits abgelehnter Gesetze auf Grund des Art. 48 der RV rechtlich unmöglich sei. Er fügte hinzu, daß die politische Belastung in beiden Fällen wohl gleich groß sei, daß es aber nicht seines Amtes sei, zu der politischen Frage Stellung zu nehmen.

Der Reichskanzler führte als weiteren Grund gegen die Einbringung eines Ermächtigungsgesetzes an, daß die Reichsregierung gut daran tue, diesen Weg nicht schon jetzt zu verbrauchen. Im Spätherbst sei eine solche Fülle gesetzgeberischer Arbeit zu erledigen, daß die Reichsregierung alsdann auf ein Ermächtigungsgesetz kaum werde verzichten können, weil der Reichstag die Fülle der Neuregelungen auf ordnungsmäßigem Wege nicht werde bewältigen können, es sei denn, daß die Verabschiedung des Reichsetats 1931 wiederum nicht rechtzeitig gelinge.

In der Hoffnung, daß die parlamentarische Durchbringung des Notopfers jetzt auf ordnungsmäßigem Wege doch noch gelingen könne, werde er durch einen Bericht des Reichspostministers bestärkt, der auf seinen Wunsch eine Aussprache mit den Spitzenvertretungen seiner Beamtenschaft gehabt habe.

Der Reichspostminister bestätigte diese Darlegung und bemerkte, daß die Vertreter der Beamtenschaft ihm durchweg einmütig erklärt hätten, daß die Beamtenschaft das Notopfer tragen wolle, weil sie sich ihrer Pflichten als Beamte gegenüber dem Staat bewußt sei. Er habe den Vertretern nahegelegt, mit einer entsprechenden Erklärung an die Öffentlichkeit zu treten und sei dabei nicht auf absolute Abneigung gestoßen. Der Deutsche Beamtenbund werde am 26. d. M. zu einer Vorstandssitzung zusammentreten und wahrscheinlich zu[237] ähnlichen Beschlüssen kommen3. Er empfehle dringend, mit den Beamtenorganisationen Fühlung zu nehmen4.

3

Der Allgemeine Beamtenbund wies am 28.6.30 darauf hin, daß er gegen das Notopfer die stärksten beamtenpolitischen und allgemeinen Bedenken habe und diese „Reichshilfe“ in der vorgeschlagenen Form – zu niedrige Freigrenze, keine Staffelung nach oben, keine Berücksichtigung des Familienstandes – ablehnen müsse (Schreiben des Allg. Dt. Beamtenbundes an den RK, R 43 I /2365 , Bl. 56–57). Ebenso lehnten der Reichsbund der höheren Beamten (Schreiben vom 30.6.30 in R 43 I /2365 , Bl. 93–95) und der Dt. Beamtenbund (Schreiben vom 1.7.30 in R 43 I /2365 , Bl. 97–98) das Notopfer ab.

4

S. Dok. Nr. 58.

Das Reichskabinett erörterte darauf in eingehender Aussprache den Vorschlag des Reichskanzlers. Als Ergebnis dieser Aussprache traf der Reichskanzler die ausdrückliche Feststellung, daß die Gesamtheit der Reichsminister einmütig fest entschlossen ist, das Regierungsprogramm mit allen verfassungsmäßigen Mitteln durchzuführen und daß sie die Auswahl der Wege zu diesem Ziele von der Weiterentwicklung der Dinge im Reichsrat und Reichstag abhängig machen will.

Der Reichskanzler richtete ferner an alle Reichsminister einen dringenden Appell, über das Ergebnis der Beratung absolutes Stillschweigen nach außen hin zu bewahren, damit der Reichsregierung das Gesetz des Handelns nicht vorzeitig von den Parteien des Reichstags vorgeschrieben werde. Er beabsichtige, sich am kommenden Tage zunächst zu dem Herrn Reichspräsidenten nach Neudeck zum Vortrag zu begeben und um dessen Entscheidung einzuholen. Nach seiner Rückkehr am Freitag, den 27. Juni, werde er das Kabinett alsdann nochmals zusammenbitten zwecks Feststellung einer Verlautbarung an die Öffentlichkeit über das Programm und die Absichten der Reichsregierung5.

5

S. Dok. Nr. 57, P. 2.

Der Reichskanzler stellte die einmütige Zustimmung des Kabinetts zu diesem Vorschlage fest.

Der Stellvertreter des Reichskanzlers stellte sodann die Finanzfragen zur Erörterung. Nachdem der Reichsarbeitsminister erklärt hatte, daß sich der Fehlbetrag bei der Arbeitslosenversicherung wegen der verzögerten Verabschiedung der Novelle zum Arbeitslosenversicherungsgesetz6 um weitere 42 Millionen RM – d. i. der Ausfall eines Monats – vermehren werde, stellte der Stellvertreter des Reichskanzlers für den Finanzbedarf folgende Berechnung auf:

6

Vgl. Dok. Nr. 46, P. 1 und Anm. 5.

I.

Arbeitslosenversicherung

(in Millionen)

Fehlbetrag

443

Deckung:

Beitragserhöhung 1%

(7 Monate)

170

Ersparnisse durch Reformen

(8 Monate)

97

267

mithin Fehlbetrag

176

[238] II.

Krisenfürsorge:

Mehrbedarf

150

Verwaltungskosten des Reichs

12

Fehlbetrag

162

III.

Mindereinnahmen im Etat:

a) Zölle

100

b) Umsatzsteuer, Vermögenssteuer, Beförderungssteuer

50

150

insgesamt

488

Zur Deckung dieses Finanzbedarfes forderte der Stellvertreter des Reichskanzlers in erster Linie, daß an den Haushaltsansätzen insgesamt 100 Millionen Reichsmark erspart werden. Es soll sich hierbei um echte Ersparnisse handeln.

Im einzelnen einigte sich das Kabinett auf Grund der Aussprache wie folgt:

Die Einzelersparnisse werden in Besprechungen der Ressorts mit dem Reichsfinanzminister festgesetzt. Wenn sich eine Einigung nicht erreichen läßt, wird die Verteilung der zu leistenden Ersparnisse auf die Einzelressorts durch den Reichskanzler vorgenommen.

Auf Grund dieser Verteilung sind die einzusparenden Beträge bei jeder in Betracht kommenden Etatsposition festzulegen. Die durch diese Ersparnisaktion festgelegten Beträge gelten sowohl für die Anwendung des § 33 RGO7 wie für die Prüfung durch den Rechnungshof als die durch den Etat festgesetzten Positionen.

7

Gemeint ist wohl § 33 der Reichshaushaltsordnung (RHO) vom 31.12.22 (RGBl. 1923 II, S. 21 ).

Die Einzelersparnisse sollen den gesetzgebenden Körperschaften nicht mitgeteilt, sondern in einer Gesamtsumme von 100 Millionen als Minusausgabe in den Haushalt eingestellt werden. Die Formulierung dieses Etatspostens sowie die endgültige Formulierung des vorstehenden Beschlusses soll vom Reichsfinanzminister im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Rechnungshofs ausgearbeitet und dem Kabinett zur nächsten Sitzung vorgelegt werden.

In diese Ersparnisse von 100 Millionen RM soll der Betrag von 35 Millionen, der dadurch freigeworden ist, daß der Jahresabschluß 1929 besser ausgefallen ist, als ursprünglich angenommen wurde, nicht eingerechnet werden.

Für die vom Reichskabinett bereits beschlossene Vorverlegung der Fristen bei der Tabaksteuer8 setzte der Stellvertreter des Reichskanzlers einen Betrag von 46 Millionen RM in der Berechnung für die Deckung ein.

8

S. Dok. Nr. 46, P. 2.

Sodann stellte er den beiliegenden Entwurf eines Gesetzes über eine Reichshilfe der Personen im öffentlichen Dienst zur Erörterung.

[239] Nach eingehender Aussprache billigte das Kabinett den materiellen Inhalt dieses Entwurfs mit der Maßgabe, daß die Reichshilfe auf 2½ v.H. festgesetzt wird. Dieser Beschluß wurde mit Stimmenmehrheit gefaßt.

Der finanzielle Ertrag dieses Gesetzes für das laufende Rechnungsjahr wurde auf 58 Millionen RM veranschlagt.

Ferner billigte das Kabinett nach eingehender Aussprache grundsätzlich den vom Stellvertreter des Reichskanzlers vorgelegten anliegenden Entwurf eines Gesetzes über einmalig außerordentliche Zuschläge zur Einkommensteuer9. Der finanzielle Ertrag dieses Gesetzes wurde für das laufende Rechnungsjahr auf 100 Millionen RM festgesetzt.

9

Die beiden Entwürfe über die Reichshilfe und die Zuschläge zur Einkommenssteuer wurden in einem GesEntw. zusammengefaßt und dem RR am 28.6.30 vom RFM Dietrich zugesandt (RR-Drucks. 1930, Bd. 3, Nr. 125). Der Zuschlag zur Einkommensteuer betrug für Personen mit einem höheren Einkommen als 800 RM jährlich 5%; vgl. auch Dok. Nr. 57, Anm. 5.

Auf Grund dieser Beschlüsse ergab sich für die Deckung folgende Berechnung:

I.

Aus dem Etat:

a) Minderdefizit 1929

35 Millionen RM

b) Abstriche

100 Millionen RM

II.

Tabaksteuer (Vorverlegung der Fristen)

46 Millionen RM

III.

Außerordentliche Zuschläge zur Einkommensteuer:

a) bei den ledigen einkommensteuerpflichtigen Personen

100 Millionen RM

b) 5% Zuschlag auf Einkommen über 8000 RM

58 Millionen RM

IV.

Reichshilfe der Personen im öffentlichen Dienst

135 Millionen RM

insgesamt

474 Millionen RM

Zum Schluß der Sitzung erklärte der Reichskanzler daß er nunmehr dem Herrn Reichspräsidenten die Ernennung des Stellvertreters des Reichskanzlers Dietrich zum Finanzminister vorschlagen werde, unter Entbindung vom Amte des Reichswirtschaftsministers. Er streifte auch kurz die Frage der Neubesetzung des Reichswirtschaftsministeriums und deutete an, daß er wahrscheinlich dazu kommen werde, dem Herrn Reichspräsidenten vorzuschlagen, den Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Dr. Trendelenburg bis auf weiteres mit der Wahrnehmung der Geschäfte zu beauftragen10.

10

Abschrift der Ernennungsurkunde des StS Trendelenburg zum amtierenden RWiM vom 26.6.30 in R 43 I /1308 , S. 585.

Der Reichsminister des Auswärtigen befürwortete diese Absicht, damit zur Deutschen Volkspartei, die sich möglicherweise doch noch entschließen werde, dieses Amt zu besetzen, nicht vorzeitig die Brücken abgebrochen würden.

Beschlüsse wurden nicht gefaßt, da der Reichskanzler erklärte, daß die Entschließung über die Besetzung der Ministerposten zu seiner ausschließlichen Zuständigkeit gehöre.

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