2.201.1 (feh1p): [Bericht über die Londoner Verhandlungen]

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RTF

[Bericht über die Londoner Verhandlungen]

Minister Simons berichtet eingehend über den Gang der Londoner Verhandlungen2.

2

Zur Vorgeschichte dieser Ministerratssitzung s. Dok. Nr. 188199. Zum Gang der Londoner Verhandlungen s. ferner RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 137  f und DBFP, 1st Series, Vol. XV, p. 216 f.

Die Delegation habe auf der Reise unsere Gegenvorschläge im Rahmen der Beschlüsse des Kabinetts nochmals formuliert. In London habe der Botschafter Sthamer ihm erklärt, unsere Gegenvorschläge erschienen ihm sehr hoch3. Lloyd George würde es nicht verstehen, wenn wir gleich anfangs das äußerste Angebot machten. Er habe zunächst erwidert, unsere Vorschläge seien ein Ganzes, das nicht zerrissen werden könne, es sei nicht beabsichtigt, das Angebot wie ein Handelsgeschäft anzusehen. Als letzte Möglichkeit habe er dem Botschafter Sthamer dann in Aussicht gestellt, die Ziffer B unserer Vorschläge mit den[543] theoretischen Besserungsscheinen zunächst nicht zu bringen. Nachdem Sthamer hierzu dringend geraten habe, habe sich die Delegation einhellig diesen Standpunkt zu eigen gemacht einschließlich des Staatssekretärs Bergmann4.

3

Zu dieser Unterredung mit Botschafter Sthamer s. Dok. Nr. 192.

4

Vgl. dazu jedoch die Schilderung, die StS Bergmann von diesen Ereignissen gibt. C. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 87.

Unsere Vorschläge seien bereits an die Grenze dessen gegangen, was die optimistischen Sachverständigen für möglich gehalten hätten. Daher wäre es gewagt gewesen, die Möglichkeit der Wiederbelebung unserer Wirtschaft nochmals stark in den Vordergrund zu stellen. Möglich sei dagegen erschienen, auf den Gedanken des Besserungsscheins einzugehen, wenn er seitens der Gegner vorgebracht wurde. So seien die Dinge später auch in der Tat verlaufen. Er habe auf vertraulichem Wege den Besserungsschein als eine mögliche Verhandlungsbasis den Gegnern bekannt gegeben5. Hätten wir ihn gleich in unsere Vorschläge gebracht, so wäre nach seiner Überzeugung über die Vorschläge und damit über den Besserungsschein dasselbe schroffe Verdikt gefällt worden, wie es nun ohne ihn geschehen sei. Die anfängliche Zurückhaltung des Besserungsscheins hätte also tatsächlich unsere Position nicht verschlechtert, sie sei vielmehr taktisch richtig gewesen, denn die Franzosen hätten unter allen Umständen zunächst eine Anerkennung ihres Prestigestandpunktes haben müssen.

5

Im Rahmen der inoffiziellen Verhandlungen während der Londoner Konferenz hatte RAM Simons StS Schroeder beauftragt, den Besserungsschein in einer Unterredung mit Lord D’Abernon am 4. 3. als weitere dt. Leistung vorzuschlagen. Siehe dazu Dok. Nr. 205, Anlage 1.

Genauso wäre der Verlauf gewesen, wenn wir einem anderen im Kabinett gemachten Vorschlag gefolgt wären, nämlich unser Angebot nach dem Muster des Pariser Fächers zu staffeln6, denn der Abzug unserer Vorleistungen wäre dabei doch sofort gemerkt worden und uns der Vorwurf der Unehrlichkeit gemacht worden. Das Ausgehen vom Gegenwartswert sei also der richtige Weg gewesen, ganz abgesehen davon, daß die Fächerstaffelung im deutschen Volk nicht verstanden worden wäre.

6

Dies hatte RFM Wirth bei der Beratung der dt. Gegenvorschläge in der Kabinettssitzung vom 25. 2. vorgeschlagen. Siehe dazu Dok. Nr. 181.

Der äußere Gang der Ereignisse sei bekannt. Es habe sofort die scharfe Kritik eingesetzt, die Lloyd George den ostentativen Beifall der Franzosen verschafft hätte. Dann sei die Vertagung bis Donnerstag [3.3.1921] eingetreten. In der Zwischenzeit hätten wir erwogen, was noch geschehen könnte. Am Donnerstag sei die Erwiderung der Alliierten mit dem Ultimatum bis Montag [7. 3.] erfolgt. Darauf hätten sofort mit Nachdruck die vertraulichen Besprechungen eingesetzt7. Er müsse sich hier allerdings vorwerfen, daß er das Kabinett nicht eingehend genug informiert habe. Dadurch sei die finanzielle Tragweite unseres Angebots in Berlin mißverstanden worden.

7

Diese vertraulichen Besprechungen hatten am 4. 3. eingesetzt. Siehe dazu Dok. Nr. 205.

Wir hätten bei der ganzen Sachlage nur noch glatt umfallen, d. h. die Pariser Beschlüsse annehmen, oder ein völlig neues Gesamtangebot machen können, das dann aber über die vom Kabinett bewilligten Grenzen hinausgegangen wäre.

Der Vorschlag von 30 Jahreszahlungen von je 3 Milliarden sei von England[544] ausgegangen, die Franzosen aber hätten nicht einmal dies angenommen8. Auch wir hätten darauf nicht eingehen können, da es über das eingesetzte Limit weit hinausgegangen wäre.

8

Dieser Vorschlag war am Nachmittag des 5. 3. in einer Besprechung zwischen dt. und all. Delegierten gemacht worden. Siehe dazu Dok. Nr. 205. Nach dem Bericht des AA war der Vorschlag der 30 Jahreszahlungen zu je 3 Mrd. GM allerdings von dem belg. Delegierten Theunis gemacht worden.

Eine fernere Möglichkeit hätte der modifizierte Vorschlag Rathenau geboten9. Dieser sei von uns vertraulich mit englischen Unterhändlern besprochen worden. Es sei aber sofort klar gewesen, daß dieser Gedanke nicht von uns in die Debatte geworfen werden konnte und zwar aus folgenden Gründen:

9

Zum Vorschlag Rathenau s. Dok. Nr. 197, Anm. 4.

1. Wir seien mit Amerika noch im Kriegszustande, hätten also den Präsidenten Harding in eine unmögliche Lage gebracht.

2. Wir wären dem Prestige Frankreichs zu nahe getreten, das erwidert hätte, daß wir uns als zahlungsunfähig bezeichneten und trotzdem bessere Schuldner als Frankreich zu sein behaupteten. Frankreich erhoffe ferner auch einen Nachlaß dieser Schuld. Es läge auch ihnen nichts daran, diese Schuld los zu werden, sondern sie wollten bares Geld bekommen. Endlich wäre auch Englands Interesse durch diesen Vorschlag berührt worden. Hätten wir also diesen Vorschlag gemacht, so wäre er zweifellos sofort verworfen und damit dieser Weg für die Zukunft verbaut worden, der später vielleicht praktikabel sein würde, wenn nämlich die Franzosen in noch größerer finanzieller Bedrängnis wären und Amerika den englischen Handelskrieg mißbillige.

Nach all diesen Erwägungen sei das Provisorium der einzig mögliche Ausweg gewesen. Diesen Weg hätten schon die Brüsseler Sachverständigen gehen wollen10, ferner sei Lord D’Abernon ihm gegenüber auf diesen Weg als die einzig mögliche Basis zurückgekommen. Auch der französische Botschafter Laurent hätte in feierlicher Form diesen Weg als gangbar bezeichnet. Endlich hätte Lord Kilmarnock ihm eine schriftliche Ordre seiner Regierung vorgetragen, wonach auf das Provisorium hingearbeitet werden müsse. Wenn daher Lloyd George jetzt erkläre, keine Regierung habe an diesen Weg gedacht, so ließe ihn sein Gedächtnis im Stich11.

10

Ein Provisorium von 5 Jahren hatte bereits der Vorschlag Seydoux vom 7.1.1921 vorgesehen. Zu den Einzelheiten s. Dok. Nr. 156, Anm. 15.

11

Sowohl der brit. Botschafter D’Abernon als auch der frz. Botschafter Laurent hatten der RReg. geraten, den Vorschlag Seydoux auf eine vorläufige Regelung der Reparationszahlungen anzunehmen. Siehe dazu Dok. Nr. 156, P. 11 und Anm. 17.

Wir hätten demzufolge ein Provisorium für 5 Jahre in den Grenzen angeboten, die das Kabinett für möglich erklärt hätte. Aber hierzu sei eben eine Anleihe nötig gewesen. Auf diese Weise hätten wir uns faktisch durch Zinsen und Tilgung für mehr als 5 Jahre belastet. Voraussetzung dieses Provisoriums sei immer eine Anleihe gewesen, und zwar eine privilegierte mit dem Vorrecht vor Art. 248 des Friedensvertrags12 und Steuerfreiheit der Anleihe.[545] Um Briand zum Eingehen auf diesen Vorschlag zu bewegen, hätte die Delegation schließlich – unter formeller Überschreitung der vom Kabinett gesteckten Grenzen – sich bereit gefunden, Annuitäten gemäß den Pariser Ziffern zu bieten und außerdem ein Äquivalent für die 12%ige Exportabgabe, wenn eine Einigung über 5 Jahre zustande käme13.

12

Nach Art. 248 VV haftete das Dt. Reich und die dt. Staaten mit allem Besitz und allen Einnahmequellen für die Bezahlung der Reparationen. Ferner durfte die dt. Regierung bis zum 1.5.1921 ohne vorherige Zustimmung der in der Repko vertretenen Staaten weder Gold ausführen noch darüber verfügen noch die Ausfuhr oder die Verfügung darüber gestatten.

13

Diesen Vorschlag hatte RAM Simons in der Nacht vom 5. auf den 6. 3. mit dem Telegramm Nr. 50 nach Berlin übermittelt. Siehe dazu Dok. Nr. 196, Anm. 1.

Diese 13 Milliarden hätten nicht durch die Überschüsse aufgebracht werden sollen, sondern, wie bereits ausgeführt, durch die Belastung der Zukunft mit einer Anleihe. Auch wenn das Äquivalent für die variable Leistung dabei hoch geschätzt werde, so betrüge die Durchschnittsleistung der 5 Jahre höchstens 1,6 Milliarden. Dieses Angebot habe er im Widerspruch gegen die Meinung der Herren v. Meinel, von Le Suire und Fellinger gemacht14 und sei über seine Ablehnung seitens der Entente nur froh gewesen, denn es sei besser, daß der Gegensatz zwischen unseren Ansichten und denen der Entente klar zum Ausdruck gekommen sei und daß diese durch die Inkraftsetzung der Sanktionen ins Unrecht gesetzt worden sei. Wäre dies Angebot angenommen worden, so hätten wir unsere Leistungsfähigkeit bis an die äußerste Grenze für das Reparationskonto festgelegt, und es wäre nichts für die zu erwartende Forderung Amerikas, Chinas und weiterer Mächte zur Verfügung geblieben.

14

Zu der ablehnenden Haltung der Herren v. Meinel, von Le Suire und Fellinger zu diesem Provisoriumsvorschlag s. Dok. Nr. 196, bes. Anm. 4.

Ein solcher Vorschlag wie der gekennzeichnete könne von uns den Allierten nicht wieder gemacht werden, denn durch die Wirtschaftsmaßnahmen der Gegner im Rheinland würde unsere Leistungsfähigkeit zweifellos schwer beeinträchtigt werden.

Die „Voraussetzungen“ der Handelsfreiheit und Oberschlesiens15 hätten während der Verhandlungen eine große Rolle gespielt, beide seien aber von Frankreich schroff zurückgewiesen worden. Er sei überzeugt, daß die Entente einen großen Teil Oberschlesiens an Polen geben wolle. Würde diese Absicht durchgeführt, dann seien selbstverständlich nur sehr viel geringere Vorschläge in Zukunft möglich. Er müsse nochmals betonen, daß er der Entente immer wieder erklärt habe, solche Zahlungen wie in dem letzten Angebot könnten nur aus einer Anleihe geleistet werden. Wir seien also für die Zukunft nicht etwa so festgelegt, als habe er derartige Zahlungen aus Überschüssen versprochen. Die Pariser Beschlüsse seien nicht ernst gemeint und nicht haltbar. Die Situation in der Reparationsfrage werde von der Lüge des Versailler Vertrags auf der einen Seite und von der Zahlungs[un]fähigkeit Deutschlands auf der anderen Seite beherrscht. Die Ententeregierungen seien aber zur Zeit die Gefangenen der öffentlichen Meinung.

15

Die Wiederherstellung der Handelsfreiheit und der Verbleib Oberschlesiens beim Dt. Reich waren von dt. Seite zu Voraussetzungen für die dt. Gegenvorschläge gemacht worden. Siehe dazu RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 151 .

Nach der Ablehnung unseres Angebots am Donnerstag [3. 3.] wäre sofort unter der Hand Verbindung mit den Gegnern aufgenommen worden16; so hätte[546] Staatssekretär Schroeder mit Lord D’Abernon und Ministerialdirektor v. Simson mit dem Botschafter Laurent Unterhaltungen gehabt. Diese Unterhaltungen hätten im Hause des Lord Curzon zu einer Zusammenkunft geführt, an der Lloyd George, Briand, Curzon, D’Abernon, Loucheur, Bergmann wie er, der Minister, teilgenommen hätten. Hierbei habe er ein Provisorium vorgeschlagen, wobei insbesondere die Frage der Anleihe durchgesprochen worden sei. Er habe darauf hingewiesen, daß sie insbesondere dazu diene, auch das deutsche steuerpflichtige Kapital für die Wiederaufbauzwecke heranzuziehen. Ferner sei die Wiederaufbaufrage eingehend besprochen worden. Man habe ihm interessiert zugehört, die Stimmung habe sich gebessert. Inzwischen habe Loucheur aber alles getan, diesen Plan zu durchkreuzen. Er habe die Pariser Forderungen sehr schroff in den Vordergrund gestellt und jede Konzession für unmöglich erklärt. Auf diese Weise habe Loucheur, der sich für ein Kabinett Poincaré reserviere, den Abbruch herbeigeführt. Lloyd George hätte noch bei dieser Unterredung die Beschlagnahme eines Teils des Kaufpreises für aus Deutschland exportierte Waren aufgeworfen. Auf seine, des Ministers, Einwendungen, daß die Sache nicht praktikabel sei, weil sie einerseits zu einer Verstärkung der Inflation Deutschlands führen müsse und andererseits der deutsche Ausfuhrhandel den Umweg über das neutrale Ausland machen werde, habe Lloyd George erklärt, die Inflation sei unvermeidbar, wie man die Reparation auch anfasse, und gegen den Umweg über das neutrale Ausland würden die Alliierten die nötigen Maßnahmen zu treffen wissen.

16

Zu den im folgenden aufgeführten einzelnen Unterredungen zwischen Mitgliedern der dt. und der all. Delegation s. insgesamt Dok. Nr. 205.

Der Hintergedanke Lloyd Georges bei diesem Plan sei nach seiner, des Ministers, Ansicht der, daß er die deutsche Konkurrenz beseitigen wolle. Er habe es aber für taktisch richtig gehalten, den Gedanken als diskutabel zu bezeichnen, aber unter völliger Wahrung der Stellungnahme des Kabinetts. Diese Haltung hätte er annehmen müssen, weil er Lloyd George, der bei der derzeitigen Konstellation immer noch unser stärkster Faktor sei, nicht hätte verprellen dürfen. Leider sei England gegenüber der französischen Politik wiederum schwach gewesen. Aus der Haltung Lloyd Georges nach dem endgültigen Bruch hätte man sehen können, wie völlig unerwünscht ihm dieser Ausgang gewesen sei.

Er wolle nicht sagen, daß die Delegation in jedem Punkte das richtige getan habe, aber das eine könne er behaupten, daß nämlich aus der gesamten Situation beim besten Willen nicht mehr herauszuholen gewesen sei. Er halte es auch für besser, daß endlich einmal Klarheit geschaffen sei. Die Sanktionen wären doch einmal gekommen, und jetzt sei dies so geschehen, daß die Welt die Entente als im Unrecht befindlich ansehe.

Zum Gesamtergebnis möchte er bemerken, daß die gegenseitigen Anschauungen sich in einigen Punkten doch genähert hätten. Der Gegner habe eingesehen, daß unsere Vorleistungen eingestellt werden müßten, daß unsere Leistungsfähigkeit nochmals geprüft werden müsse und daß die 42 Jahre nicht aufrechtzuerhalten seien17. Manche Umstände sprächen dafür, daß für die Zukunft eine neue Regelung möglich sein werde; unrichtig sei aber, daß er beim[547] Abschied von London gesagt hätte, wir würden bald wiederkommen18. Er habe im Gegenteil betont, daß nach Eintritt der Sanktionen es nicht mehr möglich sei, so zu tun, als ob nichts geschehen sei.

17

Zahlungen für die Dauer von 42 Jahren sah der Pariser Reparationsvorschlag der Alliierten vom 29.1.1921 vor. Siehe dazu RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 19 .

18

Die brit. Nachrichtenagentur Reuter hatte am 9. 3. über die Abreise der dt. Delegation aus London berichtet: „Nur eine kleine Anzahl Zuschauer wohnte der Abreise der deutschen Delegation bei. Dr. Simons erklärte einem Reuter-Vertreter gegenüber: ‚Ich hoffe, demnächst wieder zurückzukehren. Ich gebe die Sache nicht auf.‘“ In Dtld. waren diese von der Agentur Reuter berichteten Äußerungen des RAM auf Kritik gestoßen (Vorwärts Nr. 114 v. 9.3.1921).

An Bord des Schiffes sei mit Oberst Raudey, einem Abgesandten Lloyd Georges, zusammengetroffen. Dieser habe es für wünschenswert erklärt, die Verhandlungen alsbald wieder aufzunehmen. Er hätte dies angesichts der Sanktionen für unmöglich erklärt. Raudey habe gemeint, das würde nicht lange dauern, und sei sehr betreten gewesen, als er ihm erwidert habe, daß schon allein wegen Oberschlesien vor April jede Verhandlung unmöglich sei.

Nach allem habe er den Eindruck, daß England versuchen werde, bald neue Verhandlungen zu ermöglichen. Aber nach seiner Ansicht sei dies erst möglich, wenn über Oberschlesien entschieden und die Sanktionen beseitigt seien.

Nach längerer Geschäftsordnungsdebatte wird beschlossen, zunächst allein im Kreise des Kabinetts weiter zu verhandeln. Die nicht zum Kabinett gehörenden Herren verlassen den Saal.

Minister Scholz: In der Sitzung des Wirtschaftsausschusses des Kabinetts vom 8. März hätte sich Aufregung unter den Sachverständigen aus zwei Gründen gezeigt19 :

19

Zu dieser Sitzung des wirtschaftlichen Ausschusses schreibt RIM Koch in seinen „Aufzeichnungen“ unter dem Datum des 9.3.1921: „Ich warte […] die Ankunft von Simons ab, aber andere leider nicht. Scholz hat gestern eine Sitzung des wirtschaftlichen Ausschusses des Kabinetts einberufen mit der Tagesordnung etwa ‚Sanktionen und Wiederaufbau‘. Die politischen Minister sind gegen die Gepflogenheit von dieser Sitzung nicht benachrichtigt, obwohl ich wegen des besetzten Gebietes starkes Interesse an einer Beteiligung gehabt hätte. Dagegen sind die Sachverständigen für London geladen und außerdem einige Politiker wie Dr. Becker und Zapf von der Volkspartei. Man hat aber nicht über die Zukunft gesprochen, sondern Stinnes hat einen sehr scharfen Vorstoß gegen Simons und auch wohl gegen das Kabinett gemacht wegen ihres zu großen Entgegenkommens. Becker hat sich angeschlossen. Die Sache sieht sehr perfide aus.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 423).

Ein Protokoll dieser Sitzung des wirtschaftlichen Ausschusses war in R 43 I nicht zu ermitteln.

1. Wegen des Angebots des Kabinetts. Die Sachverständigen seien der Ansicht, daß das Angebot weit über die deutsche Leistungsfähigkeit hinausginge. Es erhebe sich die Frage, ob nicht das Kabinett bei seinem Beschluß angenommen hätte, daß die Sachverständigen einmütig für den von Minister Simons vorgetragenen Vorschlag gewesen wären. Er persönlich habe dies angenommen, obwohl er teilweise bei den Sitzungen des Sachverständigenausschusses nicht dabei gewesen wäre. Er hätte geglaubt, daß die 30 Milliarden Gegenwartswert durch die Sachverständigen gedeckt würden. Diese bestritten das20. Er sehe[548] voraus, daß diese Frage im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten zur Sprache kommen werde;

20

An der Ausarbeitung der dt. Gegenvorschläge für die Londoner Konferenz waren von RAM Simons nur wenige der von der RReg. berufenen Sachverständigen beteiligt worden. Siehe dazu Dok. Nr. 181, Anm. 2.

Nach Bekanntwerden der dt. Gegenvorschläge hatten daraufhin einige der nicht beteiligten Sachverständigen scharfe Kritik an der Höhe der beabsichtigten Zahlungen geübt. Einer dieser Sachverständigen war RbkPräs. Havenstein gewesen, der die dt. Gegenvorschläge in London als „untragbar“ und „verhängnisvoll, wenn nicht vernichtend“ bezeichnet hatte. Siehe dazu Dok. Nr. 197, Anm. 2.

2. sei es fraglich, ob das Telegramm des Kabinetts vom Sonntagabend [6. 3.] richtig zur Kenntnis der Delegation gekommen sei. Wenn ja, so müsse man fragen, warum die Delegation über die im Telegramm gesteckten Grenzen hinausgegangen sei21.

21

Zu dem vom Kabinett in dem Telegramm vom Abend des 6. 3. vorgeschlagenen Provisorium s. Dok. Nr. 199, Anm. 1.

Zu dem von RAM Simons am Mittag des 7. 3. in London vorgeschlagenen Provisorium s. RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 169  und DBFP, 1st Series, Vol. XV, p. 318.

Minister Simons: Zu 1): Der Minister Scholz habe den Verhandlungen im Sachverständigengremium und im Kabinett wohl nur teilweise beigewohnt. Er, Minister Simons, habe ausgeführt, daß ein Teil der Sachverständigen nicht für den Vorschlag sei, so beispielsweise Havenstein. Daher sollte ein kleineres Gremium berufen werden, darunter u. a. Melchior und Wiedfeldt. Hier sei der Vorschlag mit den 30 Milliarden gebilligt worden, also habe er das Kabinett richtig orientiert. Er habe ausdrücklich gesagt, daß Havenstein und Stinnes den Vorschlag nicht billigten.

Zu 2): Das Telegramm vom Sonntag abend habe seines Erachtens mehr konzediert, als was die Delegation dann geboten habe. Die Delegation habe statt der Fixierung des Telegramms ein Angebot gemäß den Pariser Annuitäten gemacht und Ersatz für die variable Rate angeboten. Die Finanzsachverständigen der Delegation seien in der Beratung zu dem Ergebnis gekommen, daß dies hinter den Summen des Telegramms erheblich zurückbliebe.

Minister v. Raumer: Er habe s[einer]z[eit] die Ausführungen des Außenministers im Kabinett22 so verstanden, daß nur Havenstein und Stinnes dem Angebot widersprochen hätten. Der Ministerialdirektor v. Simson habe am Donnerstag [24. 2.] ihm gegenüber geäußert, daß Übereinstimmung erzielt sei und auch die Minister Scholz und Wirth dafür seien. Er habe dann im Kabinett für den Vorschlag gestimmt, weil er der Überzeugung gewesen sei, daß auch die Sachverständigen dafür seien. Jetzt werde ihm mitgeteilt, daß dies von Wiedfeldt bestritten werde. Die Überschreitung der Instruktionen halte er nicht für so wichtig. Eine große Rolle aber spiele die Frage, wie der Irrtum über die Haltung der Sachverständigen zu erklären sei.

22

Es handelt sich hier offenbar um die Kabinettssitzung vom 25.2.1921. Siehe Dok. Nr. 181. Die hier vom RAM und RSchM angeführten Äußerungen aus der Kabinettssitzung lassen sich in dem Protokoll der Kabinettssitzung jedoch nicht nachweisen.

Minister Simons: Er habe die Widersprüche unter den Sachverständigen ausdrücklich hervorgehoben. Außerdem seien die Minister Wirth und Scholz über den ganzen Verlauf orientiert gewesen. Sie hätten also gewußt, daß eine Einigung im kleinen Gremium erzielt war.

Man dürfe nicht übersehen, daß wir überall als hartnäckige Zahlungsweigerer angesehen würden; zu berücksichtigen sei auch, daß die Sachverständigen zum Teil Interessenten wären. Endlich sei zu beachten, daß wir durch die Annahme des Provisoriums Oberschlesien gerettet haben würden.

[549] Der Reichskanzler bestätigt, daß im Kabinett von dem engeren Gremium von Sachverständigen gesprochen worden sei, das sich mit dem Vorschlage einverstanden erklärt habe. Das Kabinett habe gewußt, daß Havenstein und Stinnes gegen das Angebot seien. Maßgebend für die Delegation sei die Auffassung des Kabinetts gewesen. Richtig sei allerdings, daß Minister Scholz nicht mitgestimmt habe23.

23

Zu dem Verhalten von RWiM Scholz während der Abstimmung über die dt. Gegenvorschläge s. Dok. Nr. 181, Anm. 11.

Was die Frage der Instruktionsüberschreitung betrifft, so habe Minister Simons bereits aufgeklärt, wie die Delegation das Telegramm vom Sonntag rechnerisch aufgefaßt habe. Im übrigen sei dies auch unerheblich, denn wir alle wüßten, daß der Delegation eine gewisse Latitude gelassen werden müsse.

Daß man sich nicht immer unbedingt an das Gutachten der Sachverständigen halten könne, hätte die Verhandlung von Spa ergeben. Endlich sei unser ursprünglicher Vorschlag in London als durchaus ungenügend bezeichnet worden. Es sei daher voll begreiflich, wenn die Delegation in ihrem Angebot dann so weit ging, daß eine Würdigung wenigstens bei den Neutralen zu erwarten war. Er, der Kanzler, könne sich daher zu einer Kritik des Verhaltens der Delegation nicht verstehen.

Minister Scholz: Er stimme den Ausführungen des Ministers Simons und des Reichskanzlers zu, diese übersähen jedoch sein Motiv. Das Kabinett müsse sich über diese Frage unterhalten, weil sie im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten und wohl auch in der Öffentlichkeit zur Sprache kommen würde24. Er habe also mit der Aufrollung heute im Kabinett einen Freundschaftsdienst für den Minister Simons beabsichtigt, denn die Sachverständigen hätten erklärt, daß ihre Ansicht nicht beachtet worden und daß die Regierung über die Stimmung der Sachverständigen nicht genügend informiert worden sei.

24

Im RT kam die Verhandlungsführung von RAM Simons am 12. 3. zur Sprache; s. dazu RT-Bd. 348, S. 2839  f.

Der Auswärtige Ausschuß des RT beriet am 10. und 11. 3. über die Londoner Verhandlungen, s. Schultheß 1921, I, S. 78–79.

In einem kleinen Gremium von Sachverständigen sei in seiner Anwesenheit nur über die Form gesprochen worden, so daß er die sachliche Seite als erledigt hätte ansehen müssen.

Gewiß sei eine Bewegungsfreiheit für die Delegation nötig. Das müsse dann aber das Kabinett auch ausdrücklich aussprechen, denn andernfalls könne das Kabinett eine Verantwortung für eine Instruktionsüberschreitung nicht übernehmen. Seines Erachtens sei rechnungsmäßig die Instruktion doch überschritten worden.

Minister v. Raumer: Hier im Kabinett müßte diese Frage mit aller Offenheit behandelt werden, denn nur so sei es möglich, die politische Situation zurechtzuziehen. Er wie die Parteiführer hätten sich im Irrtum befunden. Die Prämisse seiner Übersteigung im Kabinett sei unrichtig gewesen, denn die Sachverständigen haben in der Tat unsere Londoner Vorschläge nicht gebilligt. Solche Fragen müßten aber nicht im Plenum des Reichstags erledigt werden. Man müsse sich jetzt darüber klar werden, was nun geschehen solle. Wenn man[550] mit der zukünftigen Haltung einverstanden sei, dann würden demgegenüber retrospektive Betrachtungen nicht ins Gewicht fallen. Man müsse aber nach Gründen für die Überschreitung der Instruktion suchen. In diesem Sinne müßte auch mit den Parteiführern Fühlung genommen werden.

Minister Simons: Am Sonnabend [26. 2.] vor seiner Abreise hätten ihm bereits Sachverständige Mitteilungen über den Gang der Verhandlungen im Kabinett gemacht, daher sei ihm sofort klar geworden, daß die Angriffe der Sachverständigen kommen würden. Er müsse aber noch betonen, daß die Minister ständig Vertreter in den Sitzungen gehabt hätten und daß Protokolle über die Verhandlungen geführt worden seien, so daß die beteiligten Minister sich jederzeit informieren konnten. Die Formulierung der Gegenvorschläge sei von dem kleinen Sachverständigenausschuß gemacht worden, wobei Wiedfeldt nicht widersprochen habe. Vorher sei Wiedfeldt sogar bereit gewesen, die volle Zollkontrolle anzubieten. Vielleicht habe er sich im Kabinett nicht ausführlich genug über die Vorverhandlungen geäußert. Im übrigen könne er versichern, daß er Abweichungen von Instruktionen des Kabinetts im allgemeinen nicht für vertretbar halte. Aber er könne nicht zusagen, daß er, wenn er noch einmal zu solchen Verhandlungen entsandt werden sollte, unter allen Umständen jede Abweichung von den Instruktionen, auch aus der besseren Kenntnis der Verhältnisse heraus, vermeiden würde. Sonst könne er einen solchen Auftrag nicht mehr übernehmen.

Minister Brauns: Minister Simons habe im Kabinett mehrfach erklärt, daß ein übereinstimmendes Votum erst im Unterausschuß der Sachverständigen zustande gekommen sei.

Am Sonntag [6. 3.] sei dadurch eine schwierige Situation entstanden, daß keine genügende Zeit zum Überlegen mehr gewesen wäre. Was wir telegraphierten25, hätte auf Annahme in London nicht rechnen können, es sei daher voll begreiflich, wenn der Minister Simons es anders formuliert hätte. Der Vorschlag Rathenau26 gehe möglicherweise in seinen Konsequenzen noch weiter. Er sei mit der Art nicht einverstanden gewesen, wie Rathenau zu den Verhandlungen zugezogen sei und wie jetzt die ganze Stellung der Sachverständigen hingestellt werde. Die Politik werde vom Kabinett gemacht und nicht von den Sachverständigen. Rathenau habe gleich bei Beginn seiner Ausführung erklärt, daß er zu der ganzen Frage nicht nur rechnungsmäßig, sondern auch politisch sprechen müsse, Havenstein habe auf die Größe des Rathenauschen Angebots sofort hingewiesen. Er, der Minister Brauns, habe dagegen gestimmt27.

25

Zu diesem Telegramm s. Dok. Nr. 199, Anm. 1.

26

Siehe o. Anm. 9.

27

Es waren dies die Verhandlungen in der Ministerratssitzung vom 6. 3., 15 Uhr. Siehe dazu Dok. Nr. 197.

Die Frage unserer zukünftigen Haltung sei unabhängig von der Stellungnahme zum Verhalten der Delegation. Würden diese beiden Fragen verquickt, so verliere die Regierung das Heft aus der Hand. Er stelle nunmehr den Antrag, daß das Kabinett angesichts der Zusammenhänge seine Billigung zu der Haltung der Delegation ausspräche.

Minister Koch: Minister Simons habe seinerzeit im Kabinett erklärt, daß[551] bei den Sachverständigen keine Einigung erzielt worden sei, daß die Vorschläge vielmehr von einem kleineren Gremium ausgearbeitet worden seien. Hierüber könne kein Zweifel herrschen, eine Kritik in dieser Frage sei also nicht berechtigt.

Was die Abweichung von der Instruktion anlange, so konnte Simons davon abweichen, hätte es aber auf sein Risiko getan. Wäre in London hieraufhin eine Einigung zustande gekommen, so hätte Minister Simons seinen Kopf für diesen Vertrag hingehalten. Formell läge also auch hier kein Bedenken gegen die Haltung der Delegation vor. Was die materielle Seite des Angebots anlange, so sei er zunächst über seine Höhe erschüttert gewesen. Nachdem er aber gehört habe, daß Minister Simons immer wieder in London betont habe, daß derartige Summen nur mit Hilfe einer internationalen Anleihe aufgebracht werden können, sei er in dieser Beziehung beruhigt. Dies sei auch deshalb der Fall, weil Minister Simons betone, daß wir moralisch nicht gebunden seien und daß wir nach der Haltung der Entente im Rheinland erklären könnten, daß ein solches Angebot nicht nochmals gemacht werden könne. Endlich begrüße er, daß eine alsbaldige Wiederaufnahme der Verhandlungen nicht beabsichtigt sei.

Also auch materiell sei jede Kritik im wesentlichen erledigt.

Minister Giesberts schließt sich der Ansicht des Ministers Brauns an, daß die Politik nicht durch die Sachverständigen geführt werden dürfe.

Der Reichskanzler ist mit den Ministern Brauns und Koch der Ansicht, daß der Minister Simons mit seinem Angebot durch das Kabinett desavouiert werden könne. Er persönlich billige aber das Verhalten des Ministers Simons durchaus und sei bereit, ihm, soweit er seine Instruktionen überschritten habe, Indemnität zu erteilen. Er halte es aber nicht für zweckmäßig, daß dies ausdrücklich in dieser Form ausgesprochen würde.

Minister Hermes: Ihm sei nicht klar geworden, inwiefern die Instruktion des Kabinetts über das Simons’sche Angebot noch hinausgegangen sei, denn in dem Telegramm sei die Mitwirkung der Alliierten bei der Anleihe ausdrücklich gefordert worden.

Minister Simons: Die Alliierten hätten das Risiko der 8 Milliarden nicht annehmen wollen, da aber für die Anleihe auch Steuerfreiheit und Verzicht auf das Vorrecht des Art. 24828 verlangt worden sei, so wäre die Mitwirkung der Alliierten immer nötig gewesen.

28

Siehe o. Anm. 12.

Minister Wirth warnt davor, den Vorstoß der Sachverständigen zu unterschätzen. Im übrigen bitte er, allen Ministern Abschriften der zwischen Delegation und Kabinett gewechselten Telegramme zuzustellen.

Bei der Besprechung im kleinen Ausschuß habe Wiedfeldt in der Tat Vorstellungen gegen die Vorschläge erhoben. Er glaube aber, daß Minister Simons zu dieser Zeit gerade herausgerufen worden war.

Daß das Sonntagstelegramm [6. 3.] des Kabinetts noch über das Angebot Simons’ herausgegangen sei, halte er für irrtümlich. Er bäte jedenfalls, daß diese Auffassung im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten nicht vertreten würde.

[552] Minister v. Raumer: Die Stimmung unter den Sachverständigen und den Parteien biete gewisse Gefahren, deshalb habe er die Angelegenheit zur Sprache gebracht, um diese Gefahr zu beseitigen. Stinnes, Vögler und andere hätten sofort ihre Ämter niederlegen wollen. Er habe dies verhindert, aber es sei für die Stimmung bezeichnend. Seines Erachtens müsse der Gedanke ausgeräumt werden, daß das Kabinett auf Grund unrichtiger oder mangelhafter Orientierung gehandelt habe. Parteien und Sachverständige müßten vor allen Dingen dahin aufgeklärt werden, daß Simons nicht erklärt habe, wir würden alsbald zu neuen Verhandlungen schreiten, sondern daß er vielmehr hierin die Gegner auf uns zukommen lassen wolle.

Minister Scholz: Die Besprechung im Kabinett sei nötig gewesen, denn eine Diskussion werde folgen. Festhalten könne man, daß das Angebot über das Telegramm des Kabinetts hinausgegangen sei, denn es seien in London tatsächlich Jahresleistungen von 1,84 Milliarden geboten worden. Er persönlich, der Verantwortungsfreudigkeit ganz besonders hoch schätze, sähe aber diese Sache als erledigt an, wenn Minister Simons erkläre, daß er angesichts der Verhältnisse bewußt die Instruktion überschritten habe. Er, der Minister Scholz, stimme für die Indemnität.

Der Herr Reichspräsident Die Aussprache habe die erwünschte Klärung gebracht. Nach seiner Erfahrung hätten Verhandlungen mit dem Ausland stets derartige Auseinandersetzungen zur Folge, wenn sie auch seines Erachtens früher mehr Berechtigung gehabt hätten als gerade in diesem Fall. Man müsse jetzt dadurch für glatte Verhandlungen im Auswärtigen Ausschuß29 sorgen, daß die betreffenden Minister mit ihren Parteien sprächen. Auch er möchte betonen, daß die Sachverständigenpolitik niemals in den Vordergrund treten dürfe. Dies sei inner- und außenpolitisch gefährlich. Es müsse alles vermieden werden, was den Anschein erwecke, als ob eine Kabinettskrise vorläge, denn das Wort von Lloyd George, daß ein anderer deutscher Minister des Auswärtigen die Vorschläge der Entente unterschreiben würde, dürfe unter keinen Umständen wahr werden.

29

Der Auswärtige Ausschuß tagte am Nachmittag des 10. 3. RIM Koch notierte darüber in seinen „Aufzeichnungen“ unter dem Datum des 10. 3.: „Nachmittags Auswärtiger Ausschuß, der nun auch ohne Sturm verläuft.“ (Nachlaß Koch-Weser  27, Bl. 341).

In der nun vorgenommenen Abstimmung beschließt das Kabinett einstimmig, die Haltung des Ministers Simons und der Delegation bei den Londoner Verhandlungen zu billigen.

Der Reichspräsident spricht dem Minister Simons den Dank des Kabinetts für seine hingebende Tätigkeit aus.

Minister Simons dankt dem Herrn Reichspräsidenten für seine Worte.

Nachdem die übrigen Herren den Saal wieder betreten hatten, wurde die Verhandlung in Anwesenheit der Botschafter Sthamer und Mayer und des Gesandten Landsberg fortgesetzt30.

30

Unmittelbar nach dem Ende der Londoner Konferenz waren die Botschafter Sthamer und Mayer und der Gesandte Landsberg nach Berlin beordert worden (Vorwärts Nr. 114 v. 9.3.1921).

[553] Der Reichspräsident schlägt vor, nachdem das Kabinett sich mit der Haltung des Ministers Simons einmütig einverstanden erklärt habe, nun über die in Zukunft einzuschlagende Politik zu beraten.

Minister Simons: Die Haltung der Entente in der Frage der sogenannten Sanktionen entbehre jedes Rechtsgrundes. Die Entente fühle sich auch sehr wenig wohl dabei. Was unser weiteres Vorgehen anlange, so würde rechtlich die Möglichkeit bestehen, von dem Versailler Vertrag zurückzutreten. Bei der gegenwärtigen Weltlage wäre das jedoch für Deutschland nicht ratsam. Man sollte daher die nach den Grundsätzen des BGB mögliche andere Alternative wählen, d. h. Erfüllung des Vertrages von der Gegenseite zu verlangen. Er habe nach dieser Richtung noch keine Schritte unternommen mit Ausnahme der Ankündigung eines Appells an den Völkerbund wegen der von der Entente angewandten Gewaltmaßnahmen (Sanktionen)31; in einem ähnlichen Falle (Besetzung von Frankfurt a. M. durch die Franzosen) sei das auch geschehen32. Er erbitte daher die Zustimmung des Kabinetts, sofort den bereits angekündigten Appell an den Völkerbund ergehen lassen zu dürfen.

31

Die dt. Protestnote an den Völkerbund erfolgte am 15.3.1921; zum Wortlaut dieser Note s. Schultheß 1921, II, S. 259–260.

32

Dt. Note vom 8.4.1920; zum Wortlaut dieser Note s. Schultheß 1920, II, S. 395.

Weiterhin bestände an und für sich die Möglichkeit, in der Entwaffnungsfrage nichts mehr zu veranlassen und die Ausführung der Verpflichtungen aus dem Spa-Abkommen, insbesondere hinsichtlich der Kohlenlieferungen33, einzustellen. In der Entwaffnungsfrage sollte man s. E. nicht über die Forderungen des Friedensvertrages hinausgehen. Hinsichtlich der Kohlenlieferungen sollte man nicht ostentativ abbrechen, sondern ruhig weiter leisten, aber auch keinen Übereifer zeigen; die Erleichterungen würden wir hier sowieso bekommen, da die Franzosen jetzt schon die Reparationskohlen verkauften.

33

Siehe dazu das Kohlenprotokoll der Konferenz von Spa vom 16.7.1920, RT-Drucks. Nr. 187, Bd. 363 , Anlage 21.

Man könnte auch erwägen, ob man mit Rücksicht auf die beabsichtigten Zollschranken34 im Rheinland nunmehr der Entente auch die Verantwortung für die Verwaltung im Rheinland auferlegen solle. Dieser Weg würde gefährlich sein, da er notwendig zum Zusammenbruch der Rheinlande führen müsse. Auch die Einstellung der Ernährungszuschüsse würde unerträglich sein35.

34

Die Errichtung einer Zollschranke gehörte zu den von den Alliierten am 3. 3. angedrohten und am 8. 3. in Kraft gesetzten Sanktionen. Siehe dazu Dok. Nr. 188, Anm. 6 und Dok. Nr. 199, Anm. 2.

35

Hier handelt es sich um die Zuschüsse, die das Reich zur Ermäßigung der Getreidepreise im besetzten Gebiet bewilligt hatte. Siehe dazu im einzelnen Dok. Nr. 100, P. 5.

Diese Fragen habe die Delegation auf der Rückreise mit dem Grafen Bernstorff besprochen36; man sei einstimmig zu der Überzeugung gelangt:

36

Graf Bernstorff war der Vertreter des AA beim RKom. für die besetzten rheinischen Gebiete.

a)

die Verwaltung des Rheinlandes nicht den Gegnern zu überlassen37,

b)

die Ernährungszuschüsse nicht einzustellen,

c)

[554]Auffangvorrichtungen, aber keine neue Zollgrenze an der Innenseite der neuen Zollgrenze einzurichten.

37

Dies war bereits in den „Richtlinien für den Fall der Besetzung weiteren deutschen Gebiets“ vom 1.3.1921 verfügt worden. Siehe dazu Dok. Nr. 186.

Ein Protokoll über die Besprechung würde dem Kabinett noch zugehen38. Was die Fortführung der Verhandlungen anlange, so sollten wir uns zunächst nicht rühren.

38

Ein solches Protokoll war in R 43 I nicht zu ermitteln.

Wir sollten jetzt unter allen Umständen abwarten, daß die Alliierten uns kämen, und sie würden uns sicher kommen. Der Reutersche Bericht sei falsch, er habe ein letztes Interview abgelehnt39. Wir müßten jetzt die Entscheidung in Oberschlesien abwarten, um eine feste Basis zu gewinnen. Ferner müsse erst größere Klarheit über die Haltung Amerikas abgewartet werden. Amerika sei sich anscheinend über seine Stellungnahme noch nicht klar. England und Frankreich suchten es in ihrem Sinne zu beeinflussen. Amerikanische Geschäftsleute wollten wohl sofort Frieden schließen, aber ein Teil der Politiker sei gegen einen zu raschen Friedensschluß. Man müsse also abwarten, bis der Kongreß gesprochen habe. Aber auch dann dürften wir nicht den ersten Schritt tun. Inzwischen müsse unser Protest gegen die sogenannten Sanktionen im Reichstage in scharfer Form wiederholt werden40. Ferner sei es seines Erachtens die Pflicht der Reichsregierung, nunmehr die Wiederaufnahme des Verfahrens in der Schuldfrage zu betreiben und diese Kampagne rücksichtslos durchzuführen. Ferner halte er es für richtig, formellen Protest beim Völkerbund einzulegen. Endlich sei es nötig, enge Verbindung mit dem Rheinland zu halten.

39

Siehe dazu o. Anm. 18.

40

Bereits am 8. 3. hatte RK Fehrenbach im RT gegen die Sanktionen protestiert (RT-Bd. 348, S. 2722 ); am 12. 3. wiederholte RAM Simons vor dem RT diesen Protest (RT-Bd. 348, S. 2839  f.).

Minister v. Raumer: Er schlage vor, den Reichskommissar in Koblenz zu beauftragen, der interalliierten Kommission formell mitzuteilen, daß das angewandte Verfahren dem Rheinlandabkommen widerspräche. Da aber Gewaltakte vorlägen, würden die Beamten angewiesen, alles zu erfüllen, was von ihnen verlangt würde. Ergingen solche Anweisungen nicht, so könne er, der Minister v. Raumer, die Verwaltung im Rheinland nicht halten. Er bitte um entsprechenden Kabinettsbeschluß.

Die Frage des Ministers v. Raumer, ob Minister Simons einen scharfen diplomatischen Protest beabsichtige, wird von Minister Simons bejaht.

Reichskanzler Die Haltung der Presse gehe völlig auseinander. Während die „Freiheit“ die Verhandlungen sofort wieder aufgenommen sehen wolle, erkläre die äußerste rechte Presse, die Verträge von Versailles und Spa müßten von uns für aufgehoben erklärt werden. Er sei der Ansicht, daß beide Verträge fortbeständen. Im übrigen schließe er sich den Ausführungen des Ministers Simons an und schlage ferner vor, die Staatspräsidenten der Länder zur Information und zu Beratungszwecken nach Berlin zu berufen.

Minister Koch: Die Ausführungen des Ministers Simons böten eine geeignete Plattform für das weitere Vorgehen. Die bisherigen Maßnahmen zur Durchführung der Verträge von Versailles und Spa sollten seines Erachtens fortgeführt[555] werden, wenn auch nicht mit zu großem Eifer. Bez[üglich] der Selbstschutzorganisationen nehme er an, daß die Fristen der Pariser Beschlüsse beibehalten würden41. Auch mit dem Vorschlage des Ministers v. Raumer über die Verwaltung im Rheinland sei er einverstanden. Ob sich dort dauernd die Vermögensverwaltung in der bisherigen Form halten lassen werde, müsse geprüft werden42. Endlich schließe er sich den Ausführungen des Ministers Simons in der Schuldfrage voll an.

41

In den Pariser Beschlüssen vom 29.1.1921 war zu den Selbstschutzorganisationen festgelegt worden, daß bis zum 15.3.1921 gesetzliche Vorschriften über ihre Auflösung veröffentlicht werden mußten. Die Auflösung selbst mußte dann bis zum 30.6.1921 abgeschlossen sein (RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 13 ).

42

Im Bereich des RSchMin. bestand eine besondere Reichsvermögensverwaltung für die besetzten rheinischen Gebiete. Diese Vermögensverwaltung war bisher von Berlin aus geleitet worden.

Minister Simons: In der Entwaffnungsfrage werde es bei den Pariser Beschlüssen und den dort gestellten Fristen bleiben müssen43. Die Beamten des Rheinlandes müßten sofort mit Weisung versehen werden.

43

Zu den Pariser Beschlüssen in der Entwaffnungsfrage s. RT-Drucks. Nr. 1640, Bd. 366, S. 9 –17.

Minister v. Raumer bemerkt, daß dies schon geschehen sei.

Minister Simons, fortfahrend: In der rheinischen Vermögensverwaltung müsse man von der bisher geübten Zentralisierung zurückkommen und weitgehende Kompetenzen den rheinischen Organen übertragen.

Minister Brauns berichtet über seine Rheinlandreise44, daß in einer Versammlung in Köln, bei der Handel, Industrie, Gewerkschaften, Landwirtschaft, Bürgermeister und Parteien vertreten gewesen seien, die Zollgrenze, auch die gegen Holland, äußerst ernst angesehen würde. Man nehme an, daß man sich auf eine längere Zeitdauer der Zwangsmaßnahmen einrichten müsse. Er, der Minister, habe geäußert, daß der Brief des Oberbürgermeisters Adenauer das Kabinett überrascht hätte45. Es sei im Rheinlande das Verlangen gestellt worden, daß das Reich bei der Tragung der finanziellen Lasten helfen solle, insbesondere bezüglich der der Industrie durch die Zollgrenze entstehenden Kosten. Seines Erachtens dürfe man hier unter keinen Umständen sofort nein sagen. Man habe weiter anfangs die Schaffung eines Rheinlandorgans verlangt, das als Vertreter der rheinischen wirtschaftlichen Interessen schnell zu handeln in der Lage sei46. Ferner seien Forderungen nach neuen Geldzeichen und nach einem Verordnungsrecht auf wirtschaftlichem Gebiete gestellt worden. Schließlich habe man sich aber auf eine beratende Körperschaft beschränkt. Weiter sei ein besonderer Minister für das Rheinland gefordert worden. Endlich sei ihm mitgeteilt worden, daß plötzlich zahlreiche kaufmännische Aufträge aus Deutschland annulliert worden seien, was im Rheinland niederdrückend wirke. Nach seiner Auffassung sei eine baldige Erklärung der Regierung dahin nötig, daß das Reich die durch die Gewaltmaßnahmen des Feindes hervorgerufenen Nachteile mit dem Rheinland gemeinsam tragen würde47. Er bäte, die im[556] Rheinland gemachten Vorschläge sorgfältig zu prüfen und endlich die sogenannte Abfangorganisation nicht zu eilig einzurichten.

44

Zu der Rheinlandreise von RArbM Brauns s. Dok. Nr. 193, Anm. 5.

45

Zu dem Schreiben Adenauers s. Dok. Nr. 193.

46

Siehe dazu Dok. Nr. 210, P. 4.

47

Zu allen diesen Fragen s. Dok. Nr. 203 und Dok. Nr. 206.

Minister Geßler: Die kampflose Besetzung deutscher Städte im Westen habe den Osten in Aufregung versetzt. Er sei gebeten worden, eine Erklärung abzugeben, daß der deutsche Boden im Osten mit allen Mitteln geschützt werden würde48. Er habe in dieser Beziehung noch nichts getan, erbitte aber die Zustimmung des Kabinetts zu einer entsprechenden Erklärung.

48

Zur Lage an der poln. Grenze s. Dok. Nr. 207.

Minister Scholz schlägt vor, noch heute eine kleine Kommission einzusetzen, die alle das Rheinland betreffenden Fragen beraten solle. Er teilt ferner mit, daß die alliierten Truppen die anfangs besetzten Bergwerke wieder geräumt hätten.

Der Herr Reichspräsident stellt fest, daß das Kabinett die vom Minister Simons vorgeschlagenen Richtlinien für die in Zukunft zu betreibende Politik in der Entschädigungsfrage billigt.

Dem vom Minister v. Raumer gestellten Antrag auf Weisung an die rheinischen Beamten wird zugestimmt.

Auf Antrag des Ministers Simons wird ferner beschlossen, für die durch die Zwangsmaßnahmen entstehenden Kosten eine Gegenrechnung für das Reparationskonto aufzustellen.

Das Kabinett beschließt weiter, die Staats- und Ministerpräsidenten zu einem vom Reichskanzler zu bestimmenden Termin nach Berlin zu berufen49.

49

Eine solche Sitzung der Staats- und Ministerpräsidenten ließ sich in R 43 I nicht ermitteln.

Zur Beratung der Rheinlandangelegenheiten wird eine Kommission eingesetzt, bestehend aus den Staatssekretären des Reichsministeriums des Innern, der Finanzen, des Reichswirtschaftsministeriums, des Reichsschatz- und des Reichsverkehrsministeriums.

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