2.112 (feh1p): Nr. 112 Offener Brief des Gesamtvorstandes des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands an den Reichskanzler. Bochum, 15. November 1920

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Nr. 112
Offener Brief des Gesamtvorstandes des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands an den Reichskanzler. Bochum, 15. November 1920

R 43 I /2114 , Bl. 242–243 Umdruck1

1

Auch veröffentlicht im „Vorwärts“, Nr. 567 v. 18.11.1920.

Betrifft: Sozialisierung des Kohlenbergbaues

Sehr geehrter Herr Reichskanzler!

Als uns im Juli d. J. das Kohlendiktat von Spa auferlegt wurde, hat sich die Reichsregierung insbesondere an die Bergarbeiter mit der Bitte gewandt, die Ablieferung der 2 Millionen Tonnen Kohlen monatlich nach Kräften durch Überzeitarbeit zu ermöglichen. Die Reichsregierung ließ damals verlautbaren,[282] daß sie baldmöglichst einen Gesetzentwurf, betr. die Sozialisierung des Kohlenbergbaues herausbringen werde und dieserhalb die Sozialisierungskommission um die tunlichst rasche Ausarbeitung ihrer Vorschläge ersucht habe2. Unter dem frischen Eindruck des Diktats von Spa faßte auch der vorläufige Reichswirtschaftsrat einen der Sozialisierung des Bergbaues nicht ungünstigen Beschluß3.

2

Siehe dazu Dok. Nr. 43, P. 1.

3

Siehe dazu Dok. Nr. 42, Anm. 9.

Beseelt von dem guten Willen, bei der Erfüllung der in Spa von der Reichsregierung übernommenen Verpflichtungen nach Kräften mitzuhelfen, ferner um darüber hinaus eine Minderung der großen Kohlennot im Inlande herbeizuführen, entschlossen sich die Grubenarbeiter zum weiteren Verfahren von Überstunden und -schichten. Die schweren sozialen Bedenken gegen diese Arbeitszeitverlängerung sind gewiß nicht von der Hand zu weisen. Trotzdem erklärten sich aber die Grubenarbeiter zu dem Überschichtenabkommen bereit im Hinblick auf das erneute Regierungsversprechen, die sowohl im Sozialisierungsgesetz vom 23. März 1919 wie auch in der Reichsverfassung vorgesehene Sozialisierung des Kohlenbergbaues in Angriff zu nehmen4.

4

Sozialisierungsgesetz. Vom 23.3.1919, RGBl. 1919, S. 341  f. RV Art. 7, 153, 155, 156.

 

Seitdem sind wieder über drei Monate hingegangen. Die Sozialisierungskommission hat ihre Vorschläge längst veröffentlicht. Der vorläufige Reichswirtschaftsrat und der Reichskohlenrat haben jene Sozialisierungsvorschläge diskutiert. Es wurde dann eine Unterkommission eingesetzt5. Unter Ausschluß der Öffentlichkeit in Essen tagend, hat diese Kommission Vorschläge der Kommissionsmitglieder[283] Stinnes, Silverberg und Vögler akzeptiert. Diese Vorschläge können wir nach all dem Vorhergegangenen nur als einen wohlüberlegten Durchkreuzungsversuch der Sozialisierung bezeichnen. Wer die Anschauungen der Bergarbeitermassen und ihre wirtschaftliche Lage kennt, wird den Vorschlag, durch Ausgabe von „Kleinaktien“ den Empfindungen und Forderungen der Arbeiterklasse gerecht zu werden, als eine Verhöhnung der Arbeiterforderung bezeichnen. Das weitere Ansinnen, die Kohle nicht in das Gemeineigentum zu überführen, sondern den schon bestehenden oder in rascher Bildung begriffenen „gemischten“ privatkapitalistischen Werkskonzernen oder -trusts noch größere als bereits jetzt existierende Vorzugsrechte in der Kohlenbelieferung zu sichern, empfinden wir als eine direkte Verspottung des Gedankens der Sozialisierung. Die begreifliche Beunruhigung, die durch diese Sabotage und Verhöhnung der Bergarbeiterforderung in die Bergarbeiterschaft getragen ist, kommt schon in zahlreichen protestierenden Zuschriften und anderen Protesten zum Ausdruck. Durch das lange Ausbleiben der regierungsseitig versprochenen Gesetzesvorlage über die Sozialisierung sind die Bergarbeiter ohnehin stark beunruhigt6. Sie fühlen sich durch das bisherige Resultat der Beratungen im Reichswirtschaftsrat in ihren Erwartungen mit Recht betrogen.

5

Zu den Vorschlägen der Sozialisierungskommission s. Dok. Nr. 73, Anm. 15. Zur weiteren Behandlung der Vorschläge der Sozialisierungskommission hatten der RWiR und der Reichskohlenrat am 8. 10. einen 15köpfigen Unterausschuß aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern bestellt. Um diesen Unterausschuß handelt es sich hier.

 

Der Unterausschuß hatte am 25., 26. und 27. 10. drei Sitzungen abgehalten, in denen das Problem der Sozialisierung eingehend erörtert worden war; der Ausschuß war jedoch wegen der zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern bestehenden Gegensätze zu keiner Einigung gekommen. Der Unterausschuß hatte daraufhin einen Verständigungsausschuß gebildet, der die Gegensätze ausgleichen sollte. Dem Verständigungsausschuß gehörten insgesamt 7 Mitglieder an: 3 Arbeitgebervertreter (Stinnes, Silverberg, Vögler), 3 Arbeitnehmervertreter (Imbusch, Wagner, Werner) und ein Unparteiischer (Bgm. Berthold).

 

Der Verständigungsausschuß hatte nach eingehenden Beratungen, die in Essen stattgefunden hatten, ein Mehrheitsgutachten und ein Minderheitsgutachten vorgelegt. Das Mehrheitsgutachten war unterzeichnet von den Mitgliedern Stinnes, Silverberg, Vögler, Imbusch, Wagner und Berthold. Das Mitglied Werner gab ein eigenes Gutachten ab (Hauschild, Der vorl. Reichswirtschaftsrat 1920–1926, Berlin 1926, S. 247; R 43 I /2114 , Bl. 216–219).

In dem Mehrheitsgutachten wurden die Vorschläge der Sozialisierungskommission zurückgewiesen. Stattdessen schlug man zur Steigerung der Produktivität eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Kohlenbergbau und den weiterverarbeitenden Industrien vor. Dabei sollten die weiterverarbeitenden Industrien in ausreichendem Maße mit Kohle versorgt werden. Für die Arbeitnehmer sah das Mehrheitsgutachten vor, daß die Arbeiterschaft am Kapital der großen Bergbauunternehmen durch Kleinaktien beteiligt werden sollte (Text des Mehrheitsgutachtens, R 43 I /2114 , Bl. 198–202). Das Gutachten Werner forderte die Überführung des Kohlenbergbaues in die Gemeinwirtschaft auf genossenschaftlicher Grundlage. Die Unternehmer sollten entschädigt werden und das Reich am Gewinn lediglich durch die Kohlensteuer beteiligt werden (Text des Gutachtens Werner, R 43 I /2114 , Bl. 203–207).

Am 10. und 12. 11. hatte der Unterausschuß zu beiden Gutachten Stellung genommen, doch hatte eine Einigung zwischen den Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern im Ausschuß nicht erzielt werden können (Hauschild, S. 247).

6

Am 12. 11. war folgendes Telegramm des sozialdemokratischen RT-Abg. Hué beim AA eingetroffen: „Mußte nach Ruhrgebiet, Stinnes Kampf gegen die Sozialisierung schafft große Erregung. Überschichten für Spa dadurch stark bedroht. Hier schnelle Klarheit schaffen durch Regierung.“ (Abschrift R 43 I /2114 , Bl. 226). Nähere Einzelheiten ließen sich in R 43 I nicht ermitteln.

Es sei daran erinnert, daß die Bergarbeitergewerkschaften aller Richtungen sich in Revierkonferenzen und auf den Generalversammlungen ihrer Organisationen einmütig für die Sozialisierung des Bergbaues entschieden haben. Wir weisen ferner auf den einmütigen Beschluß des Genfer Internationalen Bergarbeiterkongresses für die Bergbausozialisierung hin7, die, so heißt es auch in dem Beschluß, wenn nötig, durch den Generalstreik der Bergleute erreicht werden müsse. Diesem Beschluß haben sämtliche in Genf vertretenen deutschen Bergarbeiterverbände rückhaltlos zugestimmt. Der Gedanke, in der Begünstigung privatkapitalistischer Werkskonzerne und -trusts und in der Ausgabe von „Kleinaktien“ an Arbeiter und Angestellte eine „Sozialisierung“ zu erblicken, konnte den Delegierten aus Deutschland in Genf umso weniger kommen, als dort durch den Sprecher der deutschen Delegation, den Abgeordneten Imbusch, ausdrücklich erklärt worden ist:

7

In Genf hatte vom 2.–6.8.1920 der 25. Internationale Bergarbeiterkongreß getagt. Am 3.8.1920 hatte der Kongreß eine Resolution angenommen, in der es u. a. hieß: „Der Kongreß beschließt, daß alle Länder endgültig für die Nationalisierung oder Sozialisierung der Bergwerke eintreten, ebenso für die Beseitigung der kapitalistischen Besitzerrechte und die Durchführung der Kontrolle und der Verwaltung der Bergbauindustrie durch Vertreter der Staaten, der beteiligten Arbeiter und Konsumenten.“ (Vorwärts, Nr. 386 v. 4.8.1920).

„Das Bergwerkseigentum muß unseres Erachtens im Interesse des Volksganzen verwaltet und ausgenutzt werden. Nicht das private Gewinnstreben des Einzelnen, sondern das Wohl der Gesamtheit muß entscheidend sein. In stets zunehmendem Maße wird bei uns der Gedanke vertreten, der private Gewinn, das arbeitslose Einkommen müsse unbedingt ausgeschaltet werden[284] und besonders bei der Kohle wird dieser Standpunkt mit aller Schärfe vertreten. Der privatkapitalistische Gewinn muß ein für allemal aufhören.“

Diese Erklärung läßt zweifellos keinen Raum für eine Befestigung der privatkapitalistischen Bergbauwirtschaft, wie sie im Plane der Herren Stinnes und Genossen liegt. Selbst die anfänglich auch von einigen Arbeitnehmern und Verbrauchervertretern im Glauben auf eine günstigere Zukunft gehegte Auffassung, die Verwirklichung des Planes der Herren Stinnes und Genossen bereite ein Übergangsstadium zur wirklichen Sozialisierung vor, trifft nicht zu. Die Pläne der Herren Stinnes und Genossen, wie überhaupt alle Projekte, die in irgendeiner Kapitalbeteiligung der einzelnen Arbeiter und Angestellten oder in privatkapitalistisch aufgebauten Arbeitsgesellschaften im Kohlenbergbau eine „Lösung“ der Sozialisierungsfrage erblicken, laufen bewußt oder unbewußt auf die Befestigung der privatkapitalistischen Profitwirtschaft hinaus. Dies geschieht durch die Aufpeitschung der persönlichen Profitsucht.

Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, ohne die Befriedigung der persönlichen Profitsucht fehle es dem Wirtschaftsleben an der „nötigen Antriebskraft“, dann ist das allerdings die glatte Ablehnung jeder Sozialisierung. Das bedeutet dann auch die Aufforderung an den Egoismus, sich gegenüber dem Gemeinwesen möglichst wenige, am besten gar keine Schranken aufzuerlegen.

Nach den Erfahrungen des verflossenen Jahres sind sich wohl alle Kreise darüber klar geworden, daß die einflußreichsten großkapitalistischen Führer den rücksichtslosesten Widerstand gegen die Sozialisierung des Bergbaues leisten. Dieser Widerstand wird auch von Mitgliedern des Reichsministeriums aus prinzipieller Feindschaft gegen den Sozialismus unterstützt, wo es nur eben möglich ist8. Seit Monaten sehen wir statt der Erfüllung des Regierungsversprechens der Sozialisierung eine sich immer mehr ausbreitende, durch gewaltige kapitalistische Mittel gespeiste, auch mit verleumderischen Beschimpfungen der Sozialisierungsfreunde durchsetzte Agitation gegen jedwede Sozialisierung. Wir sehen weiter eine Verschleppungsarbeit in immer neuen und ergänzten sogenannten „Verständigungskommissionen“. Andererseits aber sehen wir, daß die Bergarbeiterschaft dem notleidenden Gemeinwesen unter Aufopferung aller ihrer Kräfte Überarbeit leistet. Soll dieses weiter geschehen, muß auch der berechtigten Forderung auf Sozialisierung des Bergbaues entgegengekommen werden.

8

Vgl. dazu Dok. Nr. 73, P. 2 und Dok. Nr. 82.

Es ist nun die höchste Zeit, daß volle Klarheit zunächst über die Absicht der Reichsregierung geschaffen wird. Will sie gemäß ihrem gegebenen Versprechen dem Reichstag die Sozialisierung des Kohlenbergbaues vorschlagen oder nicht? Wenn ja, wann gedenkt die Reichsregierung diesen Gesetzentwurf dem Reichsparlament zu unterbreiten?

An Sie, geehrter Herr Reichskanzler, wenden wir uns mit der Bitte, uns jetzt klaren Wein über die Stellung des Reichsministeriums zur Bergbausozialisierung einzuschenken. Die Bergarbeiter müssen wissen, was sie wenigstens von der Reichsregierung zu erwarten haben. Die Haltung des Reichstages zu[285] der von uns geforderten Sozialisierung des Bergbaues ist eine Sache für sich, mit der man sich zur gegebenen Zeit zu beschäftigen haben wird. Je länger die Ungewißheit dauert, umso schwieriger werden die Folgen sein.

In der Erwartung baldigster Antwort zeichnet9

9

Siehe dazu Dok. Nr. 120.

mit bergmännischem Glückauf!

Der Gesamtvorstand

des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands.

Husemann. Waldhecker. Bittner. Wißmann. Schmidt. Jungesblut.

Fischer. Klare. Kleine. Boden. Hofmeyer. Lübbe. Neumann. Lachnitt.

Bloch. Ständeke. Heiland.

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