1.128.1 (lut2p): [Ostsiedlungsfrage]

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 8). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Die Kabinette Luther I und II (1925/26), Band 2.Das Kabinett Luther I Bild 102-02064Reichspräsident Friedrich Ebert verstorben Bild 102-01129Hindenburgkopf Bild 146-1986-107-32AStresemann, Chamberlain, Briand Bild 183-R03618

Extras:

 

Text

RTF

[Ostsiedlungsfrage]

Der Reichskanzler wies einleitend darauf hin, daß die dichtere Besiedlung des Ostens eine für das Deutsche Reich lebenswichtige Frage der deutschen Kultur sei; es habe sich als Verhängnis herausgestellt, daß die Siedlung nicht schon früher intensiver durchgeführt worden sei; die Korridorfrage wäre vielleicht für Deutschland günstiger geregelt worden, wenn nicht schwere Unterlassungen in der Vergangenheit begangen worden wären. Es handele sich um eine Aufgabe von größter geschichtlicher Bedeutung, um die Eindämmung der vorflutenden Slawenwelle. Hierin, und weniger in der Beschäftigungsfrage, liege der Kern der Aufgabe. Diese Art der Siedlung könne nur als Reichsaufgabe durchgeführt werden. Wenn das der Fall sei, so müsse ein Schnitt gezogen werden zwischen der Siedlung als Landesaufgabe und der Tätigkeit des Reichs. Die ganze übrige Siedlung, d. h. die Binnensiedlung und die Ansetzung auf Meliorationsboden und neu zu gewinnendem Boden sowie die Melioration selbst müßten Landessache bleiben. Das Reich habe sich auf die Besiedlung des Ostens und vielleicht Schleswig-Holsteins zu beschränken. Zu der notwendigen politischen Auseinandersetzung mit Preußen müßten hier klare Richtlinien von seiten des Reichs aufgestellt werden. Die Durchführung sei durch Schaffung eines zentralen Ausschusses, an dem Preußen beteiligt sei, mit Preußen zusammen unter Ausnutzung seiner Einrichtungen zu betreiben. Für die Durchführung könne nur eine irgendwie geartete Form der Pachtung, ohne daß man diesen Begriff zu verwenden brauche, in Frage kommen, da nur bei einer Beschränkung des Eigentums und des Eigentumsübergangs die nationalpolitischen Gesichtspunkte auf die Dauer gewahrt bleiben könnten. Die Sicherung der nationalpolitischen Belange auf Jahrzehnte sei nicht möglich, wenn das Eigentum der Siedler frei übertragbar sei. Die Entwicklung dürfe nicht etwa dahin führen, wie das früher bei der Verleihung von Konzessionen an die ausscheidenden Stabsapotheker möglich gewesen sei, daß z. B. die angesetzten Wehrsoldaten alsbald nach der Ansetzung ihr Besitztum weiter veräußerten. Daher halte er eine besondere Rechtsgestaltung für erforderlich2. Vorfrage für die Durchführbarkeit der Aufgabe,[1147] die er für eine absolute Staatsnotwendigkeit halte, sei jedoch die Möglichkeit der Bereitstellung der erforderlichen Mittel, die in großem Umfange bereitstehen müßten, wenn das erstrebte Ziel erreicht werden solle.

2

Zur vorangegangenen Erörterung über die rechtliche Konstruktion der Siedlung vgl. 1) die Vorschläge Wachsmanns vom 6. 1. über Nießbrauch und langfristigen Pachtbesitz (Anm. 1 zu Dok. Nr. 268), 2) die auf eine Rentengutregelung zielenden Vorstellungen des REMin. vom 28. 1. (Anm. 2 zu Dok. Nr. 285) sowie 3) die Anregung des PrLandwM vom 12. 1. betr. großangelegten Landerwerb aus Staatsmitteln (Dok. Nr. 262).

Der Reichsarbeitsminister erhob gewisse Bedenken dagegen, daß das Reich sich auf die Siedlung im Osten beschränken solle. Er regte an, daß der Versuch gemacht werden möge, dem Reich auch da, wo es im Binnenlande Mittel für die Besiedlung zur Verfügung gestellt habe, das Land zur Weitervergebung an Siedler entsprechend dem Verhältnis seiner Geldverwendung zur Verfügung zu stellen.

Der Reichskanzler hob demgegenüber hervor, daß das Reichsprogramm geschwächt werde, wenn man es nicht streng auf die Ostgrenze beschränke. Wenn das Reichssiedlungsinteresse zersplittert werde, erlahme die Stoßkraft im Osten. Vielmehr müßten, ähnlich wie beim Deichbau, alle Kräfte des Reichs auf die gefährdete Stelle konzentriert werden. Im übrigen könne Mitwirkung des Reichs nur noch im Rahmen der produktiven Erwerbslosenfürsorge3 in Frage kommen4.

3

Vgl. Anm. 7 zu Dok. Nr. 57.

4

Dem RR liegt ein vom Kabinett am 14.7.25 verabschiedeter „Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung von Darlehen zur Hebung der landwirtschaftlichen Erzeugung“ (vgl. Dok. Nr. 121, P. 6, dort auch Anm. 11) vor, der die Verwendung von 15 Mio RM aus Mitteln der Reichsgetreidestelle für Darlehen zur Förderung der landwirtschaftlichen Siedlung während eines Zeitraums von 15 Jahren vorsieht (RR-Drucks. Nr. 198, Bd. 1925 II).

Der Reichsarbeitsminister erklärte sich damit einverstanden.

Ebenso stimmten der Reichsfinanzminister und der Reichsinnenminister zu; letzterer bat jedoch um Klarstellung, ob der Plan sich auf Ostsiedlung oder auf Grenzsiedlung schlechthin, d. h. die Besiedlung der ganzen deutschen Grenze erstrecken solle. Bei der Beschränkung auf die Ostsiedlung käme nur preußisches Gebiet in Frage.

Der Reichskanzler stellte als Ziel des Problems die Ostsiedlung als Abwehr des Slawentums und bat, auch die von Staatssekretär Hagedorn angeregte Frage der Einbeziehung Schleswig-Holsteins einstweilen zurückzustellen, da die dänische Gefahr wesentlich anders und weniger ernst zu beurteilen sei als das Vordringen des Slawentums.

Der Reichskanzler stellte danach Übereinstimmung sämtlicher Minister zu seinen Vorschlägen fest und bat um die Zustimmung dazu, daß er in Anbetracht der großen politischen Wichtigkeit der Frage demnächst selbst in eine Aussprache mit dem Herrn Preuß. Ministerpräsidenten eintrete.

Die Minister erklärten ihr Einverständnis, der Reichsarbeitsminister mit dem Hinweis darauf, daß von seiten der Reichsressorts zu der Besprechung die notwendigen Unterlagen schriftlich festgestellt werden müßten.

Der Reichskanzler stimmte dem zu.

Unter Hinweis auf die Verhältnisse in England und die Siedlung an der österreichischen Militärgrenze wies der Reichskanzler nochmals eingehend auf die Notwendigkeit der Ausschaltung freien Eigentums hin, die auch für die Finanzierungsfrage von starker Bedeutung sei. Die letztere wurde anhand der in der Reichskanzlei ausgearbeiteten Pläne eingehend auf der Basis besprochen,[1148] daß jährlich mindestens je 50 Millionen M zur Ansetzung von etwa 5000 Siedlern, Landarbeitern und Handwerkern bereitgestellt werden müßten, und zwar solange, bis der Anleihemarkt für eine Siedlungsanleihe zur Verfügung stehe und der Hypothekenmarkt für die Aufnahme von Pfandbriefen oder Rentenbriefen zu dem erforderlichen Zinssatz, der im Höchstsatz mit 4% für vertretbar bezeichnet werde, zur Verfügung stehen würde. Die Frage der Heranziehung preußischer Mittel aus der Hauszinssteuer5 wurde erörtert, aber noch nicht geklärt, jedoch die Aufnahme der Verhandlungen darüber zum Zwecke der Verbilligung als erwünscht bezeichnet. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Länder Bayern, Baden und Württemberg sich bereit erklärt hätten, für Siedler aus ihrem Gebiet die nötigen Mittel aus der Hauszinssteuer zur Verfügung zu stellen.

5

Mietzinssteuer, eine Ertragssteuer, die auf Grund der 3. Steuernotverordnung vom 14.2.24 (RGBl. I, S. 74 ) durch Länder und Gemeinden von bebauten Grundstücken erhoben wird.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte sich bereit, neben der Bereitstellung der erforderlichen Mittel aus dem Anleiheablösungsfonds6 in den Haushalt unter Umständen als jährliche Aufwendungen die Mittel einzusetzen, die zum Zinsausgleich zwischen der tatsächlichen Zinshöhe und dem Betrag, der billigerweise den Siedlern auferlegt werden könne, erforderlich seien.

6

Auf Grund des „Gesetzes über Ablösung öffentlicher Anleihen“ vom 16.7.25 (RGBl. I, S. 137 ) eingerichteter Fonds, der zur beschleunigten Tilgung der Anleiheablösungsschuld des Dt. Reichs verwendet werden soll.

Als Ergebnis der Besprechung über diesen Punkt stellte der Reichskanzler fest:

Die Inventarbeschaffung dürfe nur Sache der Siedler selbst bleiben. Beschaffung des Geländes zu Eigentum komme nicht in Frage. Wer Eigentum erwerben wolle, solle das auf dem freien Gütermarkt selbst tun. Es sei eine Rechtsform zu finden, bei der das Reich die Hand auf dem Siedlungsgelände behalte und die andererseits den Siedler möglichst nahe an das freie Eigentum bringe, etwa in Anlehnung an das frühere Rentengutssystem7. Man habe mit einer Aufwendung von durchschnittlich je 10 000 M für etwa 5000 Stellen jährlich zu rechnen. Zur Deckung sei nach Möglichkeit ein preußischer Landeszuschuß aus der Hauszinssteuer heranzuziehen.

7

Nach diesem System konnte das Eigentum an Grundstücken gegen die Verpflichtung einer festen jährlichen Rentenzahlung erworben werden. Näheres s. im pr. „Gesetz über Rentengüter“ vom 27.6.1890 (Pr. Gesetz-Sammlung, S. 209).

Der Reichskanzler bezeichnete sodann eine Zusammenfassung der Organe innerhalb des Reichs als erforderlich. Das bisherige Tätigsein des Reichsarbeits-, Reichsinnen-, Reichsernährungs- und Reichsfinanzministeriums auf ihren Gebieten nebeneinander habe sich nicht immer als zweckmäßig erwiesen. Die Zusammenfassung der Ressorts in einem Ausschuß unter Beteiligung Preußens sei geboten und nach seiner Ansicht der Vorsitz des Reichskanzlers eine Notwendigkeit.

Der Reichsminister der Finanzen stimmte dem zu, der Reichsarbeitsminister mit der Maßgabe, daß der Vorsitz sich auf Veranstaltungen mehr repräsentativer Natur beschränken, daß aber die Reichskanzlei selbst in die Verwaltungsarbeit nicht eingreifen möge.

[1149] Der Reichskanzler stellte in Aussicht, daß dieser Anregung Rechnung getragen werden soll.

Der Reichsarbeitsminister gab alsdann Mitteilungen über die Organe in der Zentrale, in einer Zwischenstelle und in der unteren Instanz, wie er sie sich denke. Für die mittlere Instanz würde die Neuland-AG8 eine geeignete Grundlage bieten, der vielleicht eine Abteilung für Ostsiedlung als besondere Verwaltungsabteilung angegliedert werden könne. In der unteren Instanz sei mit den vorhandenen Organen (Siedlungsgesellschaften, Kulturämtern) zu arbeiten. Neue Organe seien nicht nötig, außer der Zwischenstelle. Er erscheine ihm zweckmäßig, einen Reichskommissar und einen preußischen Kommissar zu schaffen, die in der obersten Spitze miteinander zu arbeiten hätten. Im übrigen sei eine Mitarbeit der Genossenschaften vorzusehen.

8

Neuland A.G. Berlin, Finanzierungsunternehmen der pr. gemeinnützigen Siedlungsgesellschaften, gegr. 30.8.18.

Der Reichsminister des Innern wies auf die Notwendigkeit hin, bei der Durchorganisierung einen Träger der siedlungswirtschaftlichen Seite und einen Träger der staatspolitischen Seite zu schaffen. Beide könnten in dem vorgesehenen Ausschuß zusammengefaßt werden, die praktische Arbeit müsse aber von dem Ausschuß ferngehalten werden.

Nach eingehender Debatte, in der die bisherigen Pläne der Reichskanzlei eingehend dargelegt wurden, stellte der Reichskanzler als Ergebnis hierzu fest, daß im Unterbau mit den vorhandenen Einrichtungen (Siedlungsgesellschaften und Behörden) gearbeitet werden solle, daß aber eine politisch unabhängige zentrale Spitze geschaffen werden müsse. Deren Ausgestaltung hinge davon ab, ob man die Tätigkeit des Reichs als eine mehr finanzielle – dann läge der Schwerpunkt im Finanzministerium – oder als eine mehr sachliche ansehe; im letzteren Falle würde das Bestreben Preußens, die Vorhand zu gewinnen, schwer zu bekämpfen sein. Infolgedessen würde zur Ausschaltung dieser Schwierigkeiten eine behördenartige Mittelstelle zu schaffen sein. In der Kriegswirtschaft seien durchaus gute Erfahrungen mit Gesellschaften mit beschränkter Haftung gemacht worden, bei denen eine Verwaltungsabteilung neben einer Geschäftsabteilung bestanden hätte. Er denke sich auch hier die Entwicklung so, daß man in einer Verwaltungsabteilung der neuen Gesellschaft mit behördlichen Funktionen die regiminelle Arbeit leiste und in der Geschäftsabteilung die geschäftliche und technische Durchführung der Maßnahmen bearbeite. Das könne durch Umorganisation der Neuland-AG geschehen. – Es müsse eine Persönlichkeit als Vorsitzender der Verwaltungsabteilung der Neuland-AG geschaffen werden, die zugleich den Vorsitz im Verwaltungsrat der Gesellschaft haben müsse. Diese Persönlichkeit sei vom Reich im Benehmen mit Preußen zu bestellen; sie habe dann die Berichterstattung im Ressortausschuß zu übernehmen. Ihm schwebe die Entwicklung so vor: An der Spitze ein politischer Ausschuß unter Beteiligung von Reich und Preußen im Grundsatz unter Vorsitz des Reichskanzlers. Diesem Ausschuß gehöre der Reichs- und Landeskommissar in einer Person an. Dieser sei Vorsitzender der Verwaltungsabteilung der zentralen Siedlungsgesellschaft und gleichzeitig des Aufsichtsrats. In der unteren Instanz sei jedoch alle Arbeit mit den vorhandenen Einrichtungen zu leisten.

[1150] Staatssekretär Hagedorn unterstrich die Notwendigkeit, daß der Vorsitzende der Verwaltungsabteilung und der Geschäftsabteilung identisch sein müsse.

Ministerialrat Staudinger bat um die Zuziehung des Reichswirtschaftsministeriums zum Ausschuß.

Der Reichskanzler behielt diese Frage der späteren Entscheidung des Kabinetts vor und hielt seinerseits für ausreichend, wenn das Reich außer dem Reichskanzler durch den Reichsarbeits-, Reichsernährungs-, Reichsinnen- und Reichsfinanzminister vertreten sei.

Der Reichsarbeitsminister warnte vor der Zuziehung des Reichswirtschaftsministeriums, da dann namentlich wegen der zu erwartenden Wünsche Preußens der Ausschuß so groß werden würde, daß seine Arbeitsfähigkeit zu bezweifeln wäre.

Der Reichskanzler stellte abschließend die Übereinstimmung aller mit den von ihm dargelegten Grundlinien fest und schlug vor, zur Vorbereitung der von ihm mit Preußen zu führenden Verhandlungen in nächster Zeit von seiten der Reichskanzlei eine neue Besprechung zu veranstalten, in der das Ergebnis der heutigen Sitzung festzustellen und die Grundzüge eines Gesetzentwurfs über das neue Siedlungsrecht zu vereinbaren seien9.

9

Zum Ergebnis dieser Besprechung, die am 1. 3. stattfindet, und über die anschließenden Vorverhandlungen des RArbMin. mit pr. Ressortvertretern s. Anm. 1 zu Dok. Nr. 351.

Diesem Vorschlage wurde zugestimmt.

Extras (Fußzeile):