1.2.5 (ma31p): 5. Agrarpolitik

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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5. Agrarpolitik

In engem Zusammenhang mit den Handelsvertragsverhandlungen standen die Beratungen über die Ausgestaltung der Zolltarife, insbesondere über die kontroversen Agrarzölle. Bei ihrer Wiedereinführung in der Kleinen Zolltarifnovelle vom August 1925143 waren die Zölle für landwirtschaftliche Grundprodukte in der Form ermäßigter „Übergangs-“ oder „Zwischenzölle“ unter dem Niveau von 1913 in Kraft gesetzt worden. Seitdem forderten die landwirtschaftlichen Interessenorganisationen, die zeitlich befristeten Übergangszölle auslaufen zu lassen oder sie in ihrem realen Wert auf die Höhe der vertragsmäßigen Vorkriegszölle („Bülowzölle“) zu heben und die zuungunsten der Landwirtschaft gestörte „Parität“ zwischen Agrar- und Industriezöllen wiederherzustellen. Ein erster Schritt in Richtung auf dieses Ziel wurde bereits während der Regierungszeit des Kabinetts Marx III im Sommer 1926 getan, als im Mantelgesetz zum deutsch-schwedischen Handelsvertrag vor allem die ermäßigten Getreidezölle erhöht wurden. Nach der Einbeziehung der DNVP in die Koalition und der Übernahme des Ernährungsressorts durch Schiele verstärkten sich die Bemühungen um eine weitere Verbesserung des agrarischen Zollschutzes, war dieser Punkt doch ein wesentliches Motiv für die deutschnationale Regierungsbeteiligung. Allerdings schien nach der Genfer Weltwirtschaftskonferenz144 und ihren Empfehlungen für einen internationalen Zollabbau der Zeitpunkt für Zollerhöhungen psychologisch nicht günstig. Auch gab es in der Industrie[LXII] und den Gewerkschaften sowie in den Ressorts für Wirtschaft, Arbeit, Finanzen und im Auswärtigen Amt eine traditionelle, mehr oder minder ausgeprägte Opposition gegen Agrarzollerhöhungen wegen ihrer potentiell preissteigernden und produktionsverteuernden Wirkung. Dennoch vermochte Schiele – unter Verzicht auf weitergehende Wünsche – die Zustimmung des Kabinetts und der Koalition zur Anhebung der Zölle auf Schweinefleisch und Kartoffeln zu erlangen, die hauptsächlich die Masse der kleineren Landwirte begünstigen und das zollpolitische Instrumentarium für die Handelsvertragsverhandlungen mit Polen vervollständigen sollte. Außerdem erklärte sich das Kabinett mit der Weiterverfolgung eines bereits früher beschlossenen Gesetzentwurfs über die Erhöhung des Zuckerzolls bei gleichzeitiger Senkung der Zuckersteuer einverstanden. Auch das Zentrum hatte nach längerem Sträuben seines Gewerkschaftsflügels den Regierungsvorlagen schließlich zugestimmt. Als aber ein Teil der vorgesehenen Zollerhöhungen vom Reichsrat unter preußischer Führung abgelehnt wurde und die Sozialdemokraten während der Reichstagsberatungen das Zentrum wegen seiner Zustimmung attackierten, wollte die Mehrheit der Zentrumsfraktion von dem Regierungsentwurf abrücken, lenkte jedoch alsbald wieder ein, nachdem Graf Westarp für die Deutschnationalen zu verstehen gegeben hatte, daß bei einem Scheitern des Zollkompromisses auch die Koalition auseinanderbrechen müsse. Mit der Verabschiedung der Zollnovellen im Juli 1927 wurden die nominalen Agrarzölle der Vorkriegszeit mit einigen Abweichungen wiederhergestellt145.

143

Vgl. diese Edition, Die Kabinette Luther I/II, S. XL ff.; Panzer, Das Ringen um die deutsche Agrarpolitik, S. 24 ff.

144

Dok. Nr. 244.

145

Dok. Nr. 1, P. 3; 15, P. 1; 120, P. 1; 135, P. 5 u. 6; 141, P. 2 u. 3; 193, P. 1; 193, Anm. 9; 200, P. 2; 248, P. 3; 264, P. 1; 268.

Diese relativ maßvollen Zollerhöhungen und die sonstigen agrarprotektionistischen Maßnahmen reichten jedoch nicht aus, um die kritische Lage der Landwirtschaft, die in einer rapiden Zunahme der Verschuldung zahlreicher Betriebe zum Ausdruck kam, entscheidend zu verbessern. Nach der Entschuldung durch die Inflation war in nur knapp vier Jahren seit der Markstabilisierung eine Neuverschuldung von ca. 7 Milliarden RM entstanden146, von der ein erheblicher Teil auf kurzfristigen, für die Landwirtschaft ungeeigneten Personalkredit entfiel. Die Ursachen dieser Entwicklung lagen u. a. in drückendem Kapitalmangel, außerordentlich hohen Zinssätzen, unzureichenden Erzeugerpreisen bei steigenden Betriebskosten sowie in mangelnder Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem unter günstigeren Bedingungen billiger und besser produzierenden Ausland. In der zweiten Jahreshälfte 1927, als der konjunkturelle Aufschwung der Industrie seinem Höhepunkt zustrebte, verschärfte sich die Agrarkrise infolge einer bedrohlichen Kreditstockung und eines drastischen Verfalls der Schweinepreise, der namentlich den klein- und mittelbäuerlichen Besitz hart traf. Seit dem Spätherbst breitete sich unter der Landbevölkerung eine wachsende Erregung aus, die sich zuerst in Schleswig-Holstein und danach in anderen Gebieten des Reichs in einer Welle von Protestversammlungen entlud. Delegationen des Reichslandbundes und anderer agrarischer Interessenverbände wurden bei der Reichsregierung und beim Reichspräsidenten vorstellig, kritisierten die bisherige Wirtschaftspolitik und forderten, zum Teil unter Hinweis auf den steigenden staatlichen Aufwand für Sozialleistungen und Beamtenbesoldungen,[LXIII] die sofortige Einleitung wirksamer Hilfsmaßnahmen147. Ernährungsminister Schiele griff in seinen Ressortvorlagen das Verlangen nach Kredithilfe auch sogleich auf, während Finanzminister Köhler mit konkreten Zusagen wegen der nicht absehbaren etatpolitischen Konsequenzen zunächst zurückhielt, zumal das Kabinett erst vor kurzem gemäß den Ermahnungen des Reparationsagenten einen knapp kalkulierten Haushaltsentwurf aufgestellt hatte. Erst nachdem die Koalitionsparteien angesichts der anhaltenden Bauerndemonstrationen Mitte Januar 1928 mit seltener Einmütigkeit an die Reichsregierung appellierten, alles Erforderliche zu tun, „um den Untergang der deutschen Landwirtschaft zu verhüten“, kamen Verhandlungen zwischen dem Kabinett, den Parteien und den zuständigen Parlamentsausschüssen über das Konzept einer Hilfsaktion in Gang, die nach dem Bruch der Koalition als landwirtschaftliches „Notprogramm“ in das umfangreichere „Arbeitsnotprogramm“ der Reichsregierung integriert und vom Reichstag vor dessen Auflösung Ende März 1928 verabschiedet wurde.

146

Hinzu kamen etwa 3 Milliarden RM Aufwertungsschulden.

147

Dok. Nr. 326; 359; 411.

Das Notprogramm hatte zwei Schwerpunkte, zum einen die Verbesserung der Rentabilität der Landwirtschaft durch preisstabilisierende, marktregulierende Maßnahmen und andererseits die Umschuldung landwirtschaftlicher Betriebe, d. h. die Umwandlung hochverzinslicher, kurzfristiger Verbindlichkeiten in langfristige, niedriger verzinsliche Realkredite. Die Beschaffung einer für die Umschuldung bestimmten Auslandsanleihe wurde vom Reich unterstützt, indem es Zwischenkredite gewährte und zusammen mit den Ländern und Provinzen Bürgschaften übernahm. Außerdem förderte das Reich mit Haushaltsmitteln die Vereinheitlichung des zersplitterten landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens, die Organisation des Absatzes von Vieh und Fleisch sowie die Qualitätsverbesserung, Standardisierung und Vermarktung von Milch- und Molkereiprodukten, Obst und Gemüse und anderen Agrarerzeugnissen. Der Preisstützung dienten auch die Reduzierung des zollfreien Gefrierfleischeinfuhrkontingents und die erweiterte Anwendung des Einfuhrscheinsystems. Zwar waren die 85 Millionen RM, die im Haushalt 1928 für die Absatz-, Produktions- und Genossenschaftsrationalisierung im Rahmen des Notprogramms vorgesehen waren, ein im Verhältnis zum Modernisierungsdefizit der Landwirtschaft recht bescheidener Betrag. Andererseits ging das Reich damit bis an die Grenze seiner Finanzierungsmöglichkeiten, und zudem war die Aktion als Auftakt zu weiteren Stützungsmaßnahmen gedacht148. Das hielt jedoch den Reichslandbund nicht davon ab, in seiner Unzufriedenheit über das Notprogramm öffentlich gegen das „gegenwärtige System der organisierten Verantwortungslosigkeit“ zu polemisieren und die radikalisierten Bauern in kaum verhüllter Form zum Steuerstreik aufzurufen, so daß sich der Reichskanzler zu einer energischen Zurechtweisung der Landbundführung veranlaßt sah149.

148

Dok. Nr. 326; 359; 384, P. 3; 385, P. 1; 400; 403, P. 4; 411; 416; 421; 424; 425, P. 1; 427; 428; 430, P. 2 c; 431; 432; 436; 452; 467, P. 4. Zu den Einzelheiten des Notprogramms siehe die „Denkschrift über das landwirtschaftliche Notprogramm und seine Ausgestaltung“, die REM Schiele am 28.6.1928 dem RT übermittelte: RT-Bd. 430 , Drucks. Nr. 218 .

149

Dok. Nr. 450, P. 4; 451, P. 2.

In besonders starkem Maße war von der Agrarkrise die Landwirtschaft Ostpreußens betroffen. Seit jeher durch ungünstiges Klima und lange Absatzwege zu[LXIV] den mittel- und westdeutschen Verbraucherzentren benachteiligt, wurde die Agrarwirtschaft Ostpreußens wie die gesamte Provinz durch die Grenzziehung des Versailler Vertrags zusätzlich geschädigt. Aus diesem Grunde ist Ostpreußen im Grenzhilfeprogramm („Sofortprogramm“) von 1926150 reichlicher als die anderen preußischen Ostprovinzen mit Reichszuschüssen und -krediten bedacht worden. Das änderte sich allerdings schon 1927, weil aus dem insgesamt knapper bemessenen Grenzhilfefonds dieses Jahres nicht nur die Grenzgebiete Preußens, sondern auch diejenigen Sachsens, Bayerns und Badens dotiert wurden, so daß auf Ostpreußen nur ein geringfügiger Betrag entfiel. Der preußische Ministerpräsident richtete wegen dieser Zurücksetzung des preußischen Ostens und insonderheit Ostpreußens an den Reichskanzler eine geharnischte Protestnote und erreichte auch mit Unterstützung des Reichspräsidenten, daß das Kabinett für Ostpreußen eine zusätzliche Zahlung bewilligte151. Indessen waren die Finanzmittel der Grenzfonds ganz überwiegend für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf sozial-, kultur-, verkehrs- und wirtschaftspolitischem Gebiet vorgesehen und nur zum geringeren Teil für die direkte Subventionierung der Landwirtschaft bestimmt. Mit der Zuspitzung der Agrarkrise wurde daher der Ruf der Interessenten nach einer großzügigen Reichs- und Staatshilfe zur Sanierung der teilweise hochverschuldeten ostpreußischen Landwirtschaft immer lauter. Daraufhin ergriff der für die Grenzlandförderung federführende Reichsinnenminister v. Keudell im Herbst 1927 die Initiative und ersuchte die mitbeteiligten Ressorts, mit den Vorarbeiten für ein Hilfsprogramm zu beginnen, das in erster Linie der Landwirtschaft Ostpreußens zugute kommen sollte. Gleichzeitig verfolgte Keudell den Plan, zur wirksameren Vertretung der Belange der Ostgebiete die hierfür zuständige Abteilung seines Ministeriums organisatorisch und personell auszubauen, doch waren der Verwirklichung dieser Absicht wegen der Bedenken der Kabinettsmehrheit sowie des Widerspruchs der Preußenregierung, die eine Schmälerung ihrer eigenen Ostkompetenzen befürchtete, enge Grenzen gezogen152.

150

Siehe oben S. XXXI.

151

Dok. Nr. 225; 231, P. 2; 238, P. 1.

152

Dok. Nr. 298; 322, P. 2; 328, P. 2; 357, P. 3; 450, P. 3.

Als die Beratungen über den materiellen Inhalt der Hilfsmaßnahmen infolge der ungelösten Finanzierungsprobleme und der Meinungsverschiedenheiten mit Preußen zu versanden drohten, intervenierte der Reichspräsident, der seit der Schenkung des Gutes Neudeck153 noch enger als bisher mit den Interessen Ostpreußens und seiner Agrarwirtschaft verbunden war, um mit der ganzen Autorität seines Amtes und seiner Person die Verhandlungen wieder in Fluß zu bringen und in das gewünschte Fahrwasser zu lenken. In einem Brief an den Reichskanzler vom 3. Dezember 1927 unterstrich Hindenburg die ökonomische wie auch die nationalpolitische Dringlichkeit der geplanten Hilfsaktion und ließ es auch nicht an konkreten Anweisungen für die Art ihrer Durchführung fehlen. Zugleich bekräftigte er den Grundsatz, daß die exzeptionelle Lage und Gefährdung Ostpreußens eine Berufung anderer Reichsteile nicht zulasse. Wenn jetzt nicht Entscheidendes geschehe, könnte Ostpreußen den Mut zur Selbstbehauptung verlieren und „eines Tages eine Beute des immer auf der Lauer liegenden polnischen Nachbarn“ werden, dann[LXV] sei aber „auch die Schlacht von Tannenberg umsonst geschlagen“154. Bei den folgenden Ressortbesprechungen bemühten sich die Reichsministerien darum, eine verbindliche Zusage Preußens über seine Beteiligung an den Kosten des Vorhabens zu erlangen. In einer von Hindenburg gewünschten und von ihm geleiteten Ministerratssitzung des Reichskabinetts und der Preußenregierung wurde sodann das Ostpreußenprogramm in den Grundzügen vorläufig festgelegt, und nachdem die Ressorts mit führenden Vertretern der ostpreußischen Wirtschaft über die Einzelheiten konferiert hatten, konnte das Programm bereits am 7. Februar 1928 in einem zweiten Ministerrat endgültig sanktioniert werden. Im wesentlichen sah es Beihilfen für die Beschaffung zinsgünstiger Kredite insbesondere zur Konsolidierung schwebender Schulden vor, außerdem Steuererleichterungen sowie Ermäßigungen der Eisenbahnfrachttarife. Von dem Gesamtaufwand von 75 Millionen RM entfielen 60 Millionen auf das Reich und der Rest auf Preußen155. Diese vom Kabinett Marx IV ins Werk gesetzte, vom Kabinett Müller II fortgeführte agrarische Ostpreußenhilfe bildete den Auftakt für die später auf das ostelbische Deutschland erweiterte Osthilfe der Regierung Brüning. Die spezielle Ostpreußenhilfe hat ebenso wie das allgemeine landwirtschaftliche Notprogramm wohl die Situation der sanierungsfähigen Agrarbetriebe erleichtern, den mit der Weltwirtschaftskrise verstärkt einsetzenden Niedergang der Landwirtschaft jedoch nicht aufhalten können.

153

Dok. Nr. 240, Anm. 6.

154

Dok. Nr. 363.

155

Dok. Nr. 379; 382; 383; 413.

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