1.2.7 (ma31p): 7. Finanzpolitik

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Die Kabinette Marx III und IVDas Kabinett Marx IV Bild 146-2004-0143Chamberlain, Vandervelde, Briand und Stresemann Bild 102-08491Stresemann an den Völkerbund Bild 102-03141Groener und Geßler Bild 102-05351

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Text

7. Finanzpolitik

a) Haushalt 1927 und Finanzausgleich

Als Reichsfinanzminister Köhler sein Amt antrat, übernahm er von seinem Vorgänger Reinhold kein leichtes Erbe. Wohl deuteten die Daten der wirtschaftlichen Entwicklung für 1927, wenn man von der prekären Lage der Landwirtschaft und der immer noch verhältnismäßig hohen Arbeitslosenziffer absah, auf eine weitere Belebung der Konjunktur hin, so daß der Finanzminister mit einem höheren Steueraufkommen rechnen konnte, doch mußte die Lage der Reichsfinanzen insgesamt als kritisch bezeichnet werden. Köhler beurteilte in seiner Etatrede vom 16. Februar 1927167 den noch von Reinhold aufgestellten Haushaltsplan denn auch mit unverhohlener Skepsis, nicht nur wegen des ungedeckten Anleihebedarfs im außerordentlichen Etat, sondern weil auch einige größere und anscheinend unvermeidbare Ausgaben nur unzureichend oder überhaupt nicht etatisiert waren. Im Verlauf der parlamentarischen Beratungen über den Haushalt, der nach dem Regierungsentwurf ein Volumen von ca. 8,5 Milliarden RM hatte, zeichnete sich als Folge von ausgabensteigernden Anträgen der Ressorts und der Parteien ein Defizit von über 800 Millionen RM ab. Die angestrengten Bemühungen Köhlers, in Beratungen mit den Reichsministerien und den Koalitionsparteien diesen beträchtlichen Fehlbetrag durch Streichung oder Reduzierung einzelner Ausgabepositionen zu vermindern, hatten nur einen begrenzten Erfolg, da eine Reihe zusätzlicher, ins Gewicht fallender Aufwendungen des Reichs insbesondere für soziale Zwecke und für Mehrüberweisungen an die Länder sich nicht eliminieren ließen, so daß ein Ausgabenüberhang von rd. 650 Millionen RM zu decken blieb. Schließlich brachte Köhler den Haushalt rein rechnerisch dadurch ins Gleichgewicht, daß er den größten[LXIX] Teil des Betriebsmittelfonds und sonstige Reserven einsetzte und die Steuereinnahmen nochmals höher schätzte. Zur Deckung der Ausgaben des außerordentlichen Haushalts wurden die noch nicht realisierten Anleiheermächtigungen des Vorjahres übertragen und neue Anleihen in erheblicher Größenordnung bewilligt – zusammen über 900 Millionen RM –, obwohl sich Köhler und alle Sachkenner darüber einig waren, daß nach dem wenig ermutigenden Ergebnis der „Reinhold-Anleihe“168 die Auflegung einer weiteren Reichsanleihe für absehbare Zeit nicht möglich sein würde. Insofern er den Haushalt durch Anleiheermächtigungen, Reservenabbau und Einnahmehöherschätzungen balancierte, setzte Köhler den umstrittenen Kurs seines Amtsvorgängers fort169. Wenn diese etatpolitisch riskanten Maßnahmen die Reichsfinanzen nicht schon 1927 in Bedrängnis brachten, so vor allem deshalb, weil der unerwartet steile Anstieg der Konjunktur Ausgabeneinsparungen sowie Steuermehreinnahmen zur Folge hatte, welche die optimistischen Voranschläge weit übertrafen und weil auch die Zolleinnahmen infolge des Importbooms erheblich über den Vorausschätzungen lagen. Doch war dies bei der Verabschiedung des Haushalts noch nicht vorauszusehen.

167

RT-Bd. 392, S. 9005  ff.

168

Zur Reichsanleihe vom Februar 1927 siehe oben S. XXXIII.

169

Zu den Beratungen über den Reichshaushaltsplan für 1927 siehe Dok. Nr. 115, P. 11; 118, P. 1; 162, P. 1; 186, P. 2; 193, P. 4; 200, P. 1; 202; 203; 205; 206; 207, P. 1; 210, P. 1; 211. Zur Finanzpolitik Köhlers vgl. Dieckmann, Johannes Politz, S. 68 ff.; J. Becker in der Einleitung zu: Köhler, Lebenserinnerungen, S. 30 ff.

Etwa gleichzeitig mit den Etatberatungen fanden Verhandlungen über die fällige Neuordnung des Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern und Gemeinden statt. Wie schon in den vergangenen Jahren seit der Stabilisierung der Währung kam es auch jetzt nicht zu dem geplanten „endgültigen“ Finanzausgleich, da hierfür wesentliche Voraussetzungen fehlten, sondern nur zu einer provisorischen, auf zwei Jahre befristeten Übergangsregelung. Bei ihrer Vorbereitung gab es das gewohnte Tauziehen zwischen dem Reich und den Gliedstaaten, den steuerstarken und den steuerschwachen Ländern um eine angemessene Verteilung der verfügbaren, angesichts wachsender Ausgaben stets zu knappen Finanzmasse. Der Gesetzentwurf über das Finanzausgleichsprovisorium war noch unter Minister Reinhold fertiggestellt und den parlamentarischen Körperschaften zugeleitet worden. Nach der Kabinettsumbildung wurde die Vorlage während der Ausschußberatungen unter Köhler in verschiedenen Punkten korrigiert und Anfang April 1927 verabschiedet. Wenngleich von einigen Landesregierungen und der Reichtagsopposition kritisiert, sicherte die Neuregelung im Endergebnis allen Ländern einen Zuwachs an Einnahmen. Der vom Reich garantierte Mindestbetrag der Überweisungen aus der Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer wurde von bisher 2,1 auf 2,6 Milliarden RM erhöht, wovon ein Teilbetrag zur Senkung der stark angespannten Realsteuern verwendet werden sollte. Eine Entlastung erfuhren die Länder und Gemeinden dadurch, daß das Reich ihnen mit dem Beginn des Rechnungsjahres 1927 die Ausgaben für die unterstützende Erwerbslosenfürsorge abnahm170.

170

Dok. Nr. 95, P. 6; 99, P. 1; 115, P. 3; 162, P. 1; 186, P. 3; 198; 211, Anm. 9. Entgegen der Intention des Finanzausgleichsgesetzes sind die erhöhten Steuerüberweisungen des Reichs von den Ländern und Gemeinden größtenteils nicht zur Senkung der Realsteuern, sondern zur Finanzierung der Besoldungsreform verwendet worden; vgl. Brüning, Finanz- und Steuerpolitik, in: Politisches Jahrbuch 1927/28, S. 734 f. Zu den Beschwerden der Länder über die ihnen aus der Reichsbesoldungsreform erwachsenden Finanzierungsschwierigkeiten siehe unten S. LXXVI f.

[LXX] Ein Konflikt zwischen dem Reich und Preußen entzündete sich an der Biersteuerfrage. In seiner Etatrede vom 16. Februar hatte Köhler im Zusammenhang mit dem Finanzausgleich Verhandlungen mit Bayern, Württemberg und Baden über eine Erhöhung der Biersteuerentschädigung in Aussicht gestellt, die diese Länder seit 1919 vom Reich für den Verzicht auf ihr früheres Biersteuerreservat in Form jährlicher Überweisungen aus dem Biersteueraufkommen erhielten. Der preußische Ministerpräsident Braun erhob daraufhin beim Reichskanzler vorsorglich Einspruch gegen einen „Sonderfinanzausgleich“ zugunsten der süddeutschen Staaten, verlangte eine Gleichbehandlung aller Länder und erinnerte bei dieser Gelegenheit erneut an die noch nicht befriedigten Entschädigungsansprüche Preußens für die Übertragung seiner Eisenbahnen auf das Reich sowie für die friedensvertragsbedingten Verluste preußischen Staatseigentums in den abgetretenen Gebieten. Zudem wünschte Braun eine Nachprüfung des § 35 des Finanzausgleichsgesetzes, auf Grund dessen das Reich den steuerschwachen Ländern einschließlich Bayerns Ausgleichszahlungen gewährte. Dieser Vorstoß des preußischen Ministerpräsidenten blieb indessen ohne Erfolg. Die Reichsregierung kam mit den Koalitionsfraktionen überein, den § 35 bestehen zu lassen und die Biersteueranteile der süddeutschen Länder um etwa das Zweieinhalbache der bisherigen Sätze zu erhöhen. Eine entsprechende Biersteuernovelle gelangte trotz heftiger Proteste Preußens zusammen mit dem geänderten Finanzausgleich Anfang April 1927 im Reichstag mit den Stimmen der Regierungsparteien zur Annahme. Der daraufhin von der preußischen Regierung angerufene Staatsgerichtshof erklärte das Biersteuergesetz für ungültig, weil es nur mit einfacher Mehrheit angenommen worden war, gestattete aber die Weiterzahlung der erhöhten Biersteuerüberweisungen bis zu einer mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossenen Neuregelung, die jedoch nicht zustande kam. Damit war zwar der Rechtsstandpunkt Preußens bestätigt, aber die süddeutschen Länder behielten ihren finanziellen Vorteil171.

171

Dok. Nr. 192, P. 2; 194; 198.

Bereits im Mai 1927 legte Köhler dem Kabinett den in der Finanzausgleichsnovelle angekündigten Gesetzentwurf zur Regelung des Realsteuerwesens vor. Das Ziel dieses von der Wirtschaft verlangten und von der Parlamentsmehrheit grundsätzlich befürworteten Entwurfs eines „Steuervereinheitlichungsgesetzes“ war es, die sehr unterschiedlich ausgestalteten Realsteuern der Länder (Grund- und Gewerbesteuern) sowie die Mietzinssteuer durch verbindliche Grundsätze über Steuerveranlagung, -bemessung und -erhebung so weit wie möglich zu normieren, um zu einer Angleichung und auch Senkung der steuerlichen Belastung in den Ländern zu gelangen. Noch vor der Beratung der Materie im Kabinett erhoben besonders Bayern und Württemberg „stärkste Bedenken“, da die Vorlage über ein Rahmengesetz weit hinausgehe und die den Ländern verbliebene Steuer- und Finanzhoheit in unzumutbarer Weise einschränke. Aber auch die preußische Regierung, die sich mit der unitarischen Tendenz des Gesetzes einverstanden erklärte, hielt das Tempo und das Ausmaß der geplanten Vereinheitlichung für überzogen und schloß sich den Bedenken der übrigen Länder an. Auch nachdem der Reichsfinanzminister mit[LXXI] Rücksicht auf die Länderwünsche den Regierungsentwurf des Steuervereinheitlichungsgesetzes abgeschwächt hatte, beharrte vor allem die bayerische Regierung aus finanzpolitischen wie aus prinzipiell förderalistischen Gründen auf ihrem schroff ablehnenden Standpunkt: Bayern werde den Entwurf mit aller Entschiedenheit bekämpfen, da durch ihn „jenen Bestrebungen Vorschub geleistet wird, die auf die Mediatisierung aller Länder und auf die Schaffung des Reichs-Einheitsstaates gerichtet sind“. Ministerpräsident Held verlangte daher vom Reichskanzler die Zurückstellung des Entwurfs und drohte sogar mit dem Ausscheiden der Bayerischen Volkspartei aus der Regierungskoalition im Reich. Auf eine Preisgabe seiner Vorlage konnte sich das Kabinett ohne schwere Autoritätseinbuße nicht einlassen, doch gelang es dem Kanzler schließlich, den bayerischen Regierungschef mit dem Hinweis zu beruhigen, daß der Entwurf wegen der im Reichsrat überaus zahlreich eingebrachten Änderungsanträge in der laufenden Legislaturperiode sicherlich nicht mehr zur Verabschiedung gelangen werde172. Der Widerstand der Länder gegen die Realsteuervereinheitlichung war in der Tat so stark, daß das Projekt erst Ende 1930 verabschiedet werden konnte, als dem Kabinett Brüning der Artikel 48 als Vehikel für seine Gesetzesvorhaben zur Verfügung stand.

172

Dok. Nr. 243, P. 1; 263, P. 7; 276, P. 3; 283; 307; 320; 322, P. 1; 325.

b) Aufwertungsfrage und Liquidationsentschädigung

Ein Problem von außerordentlicher finanz- und sozialpolitischer Tragweite, mit dem sich alle Reichsregierungen seit der Währungsstabilisierung auseinanderzusetzen hatten, war die Aufwertung der durch die Inflation entwerteten Anleihen, Obligationen, Hypotheken, Sparguthaben und sonstigen Vermögensanlagen. Die vom Kabinett Luther verabschiedeten Aufwertungsgesetze vom 16. Juli 1925173, die das Problem endgültig regeln sollten, hatten nicht die erhoffte Beruhigung geschaffen, sondern den öffentlichen Streit um eine „gerechte“ und zugleich wirtschaftlich tragbare Aufwertung erneut in aller Schärfe aufleben lassen. Verschiedene, miteinander rivalisierende Organisationen der Sparer und Inflationsgeschädigten traten mit der Forderung nach einer fünfzig- oder sogar hundertprozentigen Aufwertung der Inflationsverluste auf den Plan. Demgegenüber haben die Kabinette Marx III und IV wie schon zuvor die Regierung Luther den Standpunkt vertreten, daß an den Grundlagen des geltenden Aufwertungsrechts keinesfalls „gerüttelt“ werden dürfe; eine weitere Erhöhung der gesetzlich fixierten Aufwertungsquoten würde die öffentlichen Haushalte und die Wirtschaft in unerträglicher Weise belasten, die Grundlagen des Staats- und Privatkredits erschüttern, die Währungsstabilität gefährden und die ohnehin komplizierte Abwicklung des Aufwertungsverfahrens unabsehbar verzögern. Mit dieser Argumentation widersetzte sich die Reichsregierung energisch allen Bestrebungen der Inflationsgeschädigtenverbände, ihre überspannten Forderungen auf plebiszitärem Wege durch Volksbegehren und Volksentscheid zu erreichen. Zwar mußte ein bereits vom Kabinett[LXXII] Luther im Reichstag eingebrachter Gesetzentwurf, der Referenden über Aufwertungsfragen prinzipiell unterbinden sollte, von der Regierung Marx wieder zurückgezogen werden, weil keine Aussicht bestand, die erforderliche Zweidrittelmehrheit zu erlangen. In der Folgezeit wurden die Anträge der Geschädigtenorganisationen auf Zulassung von Aufwertungsvolksbegehren durch das Reichsinnenministerium mit Zustimmung des Kabinetts unter Berufung auf Art. 73 Abs. 4 der Reichsverfassung abgelehnt.

173

Siehe diese Edition. Die Kabinette Luther I/II, S. XLIX ff.; zur Entstehung und zum Inhalt der Aufwertungsgesetzgebung vgl. auch: Wunderlich, Aufwertung, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Ergänzungsband, 1929, S. 24 ff.

Damit war der Versuch einer außerparlamentarischen Revision des Aufwertungsrechts vereitelt, doch sehr bald verlagerte sich die Auseinandersetzung wieder auf die Ebene des Parlaments. Nicht nur die Opposition beantragte Änderungen der Aufwertungsgesetze von 1925, auch im Lager der Regierungsparteien wuchs die Zahl der Befürworter einer maßvollen Novellierung zugunsten der Inflationsgeschädigten. Daraufhin mußte das Kabinett, das in dieser Frage „unbedingt die Führung in der Hand behalten“ wollte, seine bisherige Zurückhaltung aufgeben und sich zu einem entgegenkommenden Schritt entschließen. Im März 1927 legte Reichsjustizminister Hergt einen Gesetzentwurf vor, der sich darauf beschränkte, einige Härten auf dem Gebiet der Hypothekenaufwertung zu mildern. Während der Beratungen im Rechtsausschuß des Reichstags stellte sich jedoch heraus, daß eine Reihe von Abgeordneten der Koalitionsparteien – darunter ihre führenden Aufwertungsexperten – den Regierungsentwurf für unzulänglich hielten und trotz eindringlicher Mahnungen, sich in dieser hochbedeutsamen Frage der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen, auf ihrem Standpunkt beharrten. Um die Gefahr einer Abstimmungsniederlage der Koalition abzuwenden, war das Kabinett zu weiteren, insgesamt aber nicht sehr bedeutenden Konzessionen genötigt. Nach diesem Kompromiß wurde die Aufwertungsnovelle am 1. Juli 1927 vom Reichstag verabschiedet; auch die sozialdemokratische und demokratische Opposition stimmte, obschon ihre weiter gehenden Anträge abgelehnt worden waren, für das Gesetz, offenbar in der Einsicht, daß der inflationsbedingte Prozeß der Kapitalvernichtung und Vermögensumverteilung unter den gegebenen Verhältnissen nur in einem sehr begrenzten Umfang korrigierbar war174.

174

Dok. Nr. 1, P. 1 b; 3, Ministerbesprechung, P. 1; 16, P. 3; 29, P. 2; 34, P. 1; 62, P. 3; 111; 114, P. 1; 119, P. 1; 125, P. 1; 135, P. 3; 191, P. 2; 196, P. 3; 202, P. 2; 203, P. 1 und 2222; 246, P. 5; 251; 258. Besonders aufschlußreich für die Haltung der Reichsregierung, insbesondere des Kabinetts Marx IV sowie der Zentrumsführung in der Aufwertungsfrage ist das Schreiben des RK Marx an Kardinal Betram vom 10.4.1927: Dok. Nr. 222.

 

Zu der finanzpolitischen Erblast des verlorenen Krieges gehörte der Komplex der sog. Liquidationsentschädigung. Es handelte sich hierbei um die Abgeltung von Sach- und Vermögensschäden, die deutschen Privatpersonen und Firmen während des Krieges und aufgrund des Friedensvertrages in den alliierten und assoziierten Staaten, in den deutschen Kolonien und in den abgetretenen Gebieten durch Liquidationsmaßnahmen, durch Flucht oder Verdrängung entstanden waren. Da die Abfindungen, die das Reich in der Inflationszeit und in den ersten Jahren nach der Währungsstabilisierung gewährt hatte, in den meisten Fällen verhältnismäßig gering waren, verlangten die Interessenverbände der Geschädigten und ihre Exponenten in den politischen Parteien mit wachsendem Nachdruck eine angemessene und abschließende Schadensregulierung. Nachdem ein Antrag der deutschen Regierung,[LXXIII] die von ihr seit 1924 geleisteten und noch zu leistenden Liquidationsentschädigungen auf die Annuitäten des Dawes-Plans anzurechnen, vom Haager Schiedsgericht im Januar 1927 abgelehnt worden war, entschloß sich das Kabinett Marx, die von ihm bereits in Aussicht gestellte definitive Entschädigungsaktion auf Kosten des Reiches durchzuführen. Der von Finanzminister Köhler im Juli 1927 vorgelegte Ressortentwurf eines „Kriegsschädenschlußgesetzes“ blieb indes hinter den Erwartungen der Betroffenen weit zurück und wurde auch im Kabinett vor allem von Wirtschaftsminister Curtius als völlig unzulänglich kritisiert. Nach der Verabschiedung einer etwas verbesserten Regierungsvorlage gerieten die parlamentarischen Beratungen für mehrere Monate ins Stocken, weil die Finanzierung des Vorhabens – neben der geplanten Beamtenbesoldungserhöhung – erhebliche Probleme aufwarf und auch der Reparationsagent wegen der zu erwartenden Mehrbelastung des Reichshaushalts und Reichskredits Einspruch erhob. Trotz dieser Komplikationen sah sich das Kabinett während der Beratung des Gesetzes im Entschädigungsausschuß des Reichstags im Januar 1928 mit zusätzlichen Forderungen fast aller Parteien einschließlich der Regierungskoalition konfrontiert. Während Köhler die Parteienanträge unter Hinweis auf die begrenzten Finanzierungsmöglichkeiten sowie auf die Einwände des Reparationsagenten als stark überzogen bezeichnete und an der Regierungsvorlage im wesentlichen festzuhalten gedachte, vertrat Curtius demgegenüber die Auffassung, daß das Kabinett im Interesse des Wiederaufbaus der liquidationsgeschädigten Wirtschaft „bis an die äußerste Grenze der finanziellen Leistungsfähigkeit“ des Reiches gehen müsse und seine Entscheidung in dieser Frage nicht von den Argumenten des Reparationsagenten abhängig machen dürfe. Nach dem Auseinanderbrechen der Regierungskoalition im Februar 1928 wurde das Kriegsschädenschlußgesetz in das noch vor der Reichstagsauflösung zu verabschiedende „Notprogramm“ der Regierung einbezogen. In den abschließenden Verhandlungen über das Gesetz kam das Kabinett angesichts der herannahenden Neuwahlen den Wünschen der Parteien entgegen. In Anlehnung an ein Gutachten des Reichswirtschaftsrats wurden die nach sozialen Gesichtspunkten gestaffelten Entschädigungsquoten heraufgesetzt, das vom Reich bereitzustellende Entschädigungskapital wurde gegenüber dem Entwurf um 300 Millionen auf 1,3 Milliarden RM erhöht; hieraus sollten kleinere Schadensbeträge (bis zu 20 000 RM) kurzfristig und durch Barzahlung, größere Beträge in einem Zeitraum von zwanzig Jahren durch verzinsliche Schuldbucheintragungen abgegolten werden175.

175

Dok. Nr. 193, P. 3; 206, P. 2; 207, P. 1; 272, P. 2; 276, P. 2; 309; 348, P. 3 d; 405, P. 1; 407; 409; 410; 415, P. 2; 424; 425, P. 2; 428; 430, P. 2 a; 431, dort bes. Anm. 3.

c) Die Reform der Beamtenbesoldung

Zu den bedeutendsten finanzpolitischen Vorhaben des Kabinetts zählte die von den vorangegangenen Regierungen mehrfach angekündigte, aber immer wieder verschobene Aufbesserung der Beamtengehälter. Die Unzulänglichkeit der Besoldungen wurde von keiner Seite ernsthaft bestritten. Im Zuge der Währungssanierung waren die Gehälter bei ihrer Neufestsetzung in „Goldmark“ Ende 1923 weit unter das Vorkriegsniveau herabgedrückt worden. Im darauffolgenden Jahr hatten[LXXIV] zwar verschiedene Anhebungen stattgefunden, aber seit Dezember 1924 stagnierten die Beamtenbezüge, während in der Zwischenzeit sowohl die Lebenshaltungskosten wie auch die vergleichbaren Einkommen in der Privatwirtschaft nicht unerheblich stiegen176. Reichsfinanzminister Köhler, der selbst aus dem mittleren Zolldienst hervorgegangen und sich der bedrängten Lage großer Teile der Beamtenschaft durchaus bewußt war, bezeichnete bald nach seinem Amtsantritt anläßlich der Haushaltsberatungen die Erhöhung der Beamtengehälter als eine „Staatsnotwendigkeit“, der man noch im laufenden Jahr werde Rechnung tragen müssen177. Trotz Drängens der DVP und der DNVP hielt Köhler es jedoch nicht für vertretbar, die erforderlichen Etatmittel in den bereits stark überlasteten Haushaltsplan für 1927 einzustellen, statt dessen gedachte er das Vorhaben in einem Nachtragsetat zu finanzieren. Köhler wollte Zeit gewinnen und die weitere Entwicklung der Wirtschaft und der Reichsfinanzen abwarten. Im Frühjahr und Frühsommer wuchs unterdessen die Unruhe und Unzufriedenheit in der Beamtenschaft wegen der erneuten Verzögerung. Außer den Beamtenorganisationen forderten nun auch verschiedene Oppositionsparteien (SPD, KPD, DDP) immer nachdrücklicher finanzielle Soforthilfen für die Gehaltsempfänger. Das Kabinett lehnte dagegen in Übereinstimmung mit den Absichten Köhlers alle Teillösungen und Vorgriffe ab, sicherte aber Mitte Juni in einer offiziellen Verlautbarung zu, daß, falls die Wirtschaftslage sich nicht verschlechtere, eine allgemeine Gehaltserhöhung mit Wirkung vom 1. Oktober 1927 in Kraft treten solle, und zwar in Verbindung mit einer durchgreifenden Reform der seit 1920 geltenden Besoldungsordnung. Diese Entscheidung wurde bald darauf auch von sämtlichen Koalitionsparteien akzeptiert, die sich verpflichteten, von weiterreichenden Zugeständnissen an die Beamten abzusehen und für eine Vertagung der Oppositionsanträge zu sorgen178.

176

Wie RFM Köhler im RT am 21.10.1927 ausführte, waren die Beamtengehälter seit Dezember 1924 um ca. 20% hinter den gestiegenen Arbeiterlöhnen zurückgeblieben (RT-Bd. 394, S. 11616  f., 11621). Vgl. dazu auch die Angaben in Dok. Nr. 224.

177

Köhler im RT am 16.2.1927, RT-Bd. 392, S. 9007 . Hierzu und zum Folgenden: Köhler, Lebenserinnerungen, S. 251 ff.; vgl. auch v. Hehl, Wilhelm Marx, S. 422 ff.

178

Dok. Nr. 202, P. 1; 206, P. 2; 207; 243, P. 9; 246, P. 1; 248, P. 6; 250; 252.

Im Juni war zunächst eine Gehaltserhöhung von ca. 10% vorgesehen179. Wenn Köhler in den folgenden Monaten bei der Konzipierung der Besoldungsreform eine wesentlich stärkere Anhebung der Gehaltssätze verantworten zu können glaubte, so vor allem deshalb, weil infolge des unerwartet kräftigen Konjunkturaufschwungs die Finanzsituation des Reichs sich deutlich verbesserte. Im Herbst 1927 rechnete das Finanzministerium mit Mehreinnahmen aus Steuern und Zöllen in Höhe von etwa 300 Millionen RM für das laufende Rechnungsjahr, während die Minderausgaben für Erwerbslosenunterstützung infolge der stark gesunkenen Arbeitslosigkeit auf 200 Millionen geschätzt wurden180. Eine Reservierung von Teilen dieses ansehnlichen Überschusses für künftige kritische Haushaltsjahre im Rahmen einer mittelfristigen Etatplanung hat das Finanzressort offensichtlich nicht in Betracht gezogen, zumal die – in den Jahren 1924/25 betriebene – Politik der „Thesaurierung“ aufgrund der Kritik der Wirtschaft und Parlamentsmehrheit inzwischen[LXXV] gründlich in Mißkredit geraten war. Auch hielt man eine zusätzliche Rückstellung von Reserven für die jährlich anwachsenden Reparationsverpflichtungen für inopportun, um nicht, wie es in einem vertraulichen Exposé des Reichsfinanzministeriums hieß, im Ausland „falsche Vorstellungen über die gegenwärtige wahre Leistungsfähigkeit Deutschlands“ aufkommen zu lassen181. Vielmehr war es die erklärte Absicht Köhlers und der Reichsregierung, die „Erholungsfrist“ mit verminderter Reparationsannuität, die der Dawes-Plan dem Reich einstweilen gewährte, zur Befriedigung aufgestauten Nachholbedarfs und zur Finanzierung vordringlicher Projekte wie der Besoldungerhöhung unter Einsatz der verfügbaren Haushaltsmittel zu nutzen, bevor 1928 die volle Dawes-Annuität fällig wurde182.

179

Siehe hierzu die Ausführungen Köhlers in der Sitzung des Haushaltsausschusses des RT vom 24.6.1927.

180

Siehe die Mitteilungen Köhlers im Haushaltsausschuß am 26.10.1927.

181

Dok. Nr. 275.

182

Vgl. dazu die Ausführungen Köhlers vor dem Haushaltsausschuß am 26. und 28.10.1927.

Nachdem Köhler mit seinem Referentenstab während der parlamentarischen Sommerpause die Vorarbeiten für die Reform unter weitgehender Geheimhaltung vorangetrieben hatte, trug er die Grundzüge der Besoldungsvorlage am 10. September im Kabinett vor183. Danach sollten die Grundgehälter der unteren Beamtengruppen um durchschnittlich 25%, der mittleren um 21% und der höheren Gruppen um knapp 18% steigen. Die jährlichen Mehrausgaben des Reichs für die Erhöhung der Beamtengehälter und -pensionen und für die damit verbundene Aufbesserung der Kriegsopferrenten veranschlagte Köhler auf 330 Millionen RM. Hinzu kamen allerdings die Mehraufwendungen der Reichsbahn, der Reichspost, der Länder und Gemeinden mit ihren personalstarken Verwaltungen, die dem Beispiel des Reichs folgen mußten. Die zusätzliche Haushaltsbelastung sämtlicher öffentlicher Körperschaften schätzte man auf 1,2 bis 1,5 Milliarden RM184; das entsprach etwa dem Betrag, den Deutschland im dritten Dawes-Planjahr (1926/27) an Reparationen aufzubringen hatte185.

183

Dok. Nr. 289, P. 4; 291.

184

So nach dem Memorandum des Reparationsagenten an die RReg. vom 25.10.1927; in ihrer Erwiderung vom 5.11.1927 schätzte die RReg. den Gesamtmehrbedarf aller öffentlichen Hände für die Besoldungsreform auf rd. 1,25 Mrd. RM. Siehe: Das Memorandum des Reparationsagenten und die Antwort der Reichsregierung, S. 18, 57 f.

185

Zur Höhe der Reparationsannuitäten vgl. Bergmann, Der Weg der Reparation, S. 298 f.; Bericht des Generalagenten für Reparationszahlungen vom 10.12.1927, S. 5.

Die Reformpläne Köhlers lösten bei ihrem Bekanntwerden in der Öffentlichkeit eine vielstimmige, höchst kontroverse Debatte aus. Von seiten der Länder wurde zwar die Notwendigkeit einer Anhebung der Beamtenbezüge durchaus anerkannt; auch hatten einige von ihnen, wie insbesondere Sachsen, bereits im Frühjahr 1927 auf eine wegweisende Initiative der Reichsregierung in dieser Frage gedrängt186. Andererseits erklärten sie aber übereinstimmend, daß sie die für eine Höherbesoldung der Länderbeamten erforderlichen Ausgaben aus eigenen Mitteln nicht bestreiten könnten und verlangten daher vom Reich eine Nachbesserung des Finanzausgleichs in Form einer Erhöhung des Länderanteils an der Einkommen- und Körperschaftssteuer. Köhler lehnte dieses Ansinnen wie auch die Durchführung eines entsprechenden Reichsratsbeschlusses rundweg ab, bemühte sich jedoch, die Länderfinanzminister mit dem Argument zu beschwichtigen, daß sie aufgrund der günstigen Konjunktur auch bei unveränderter Finanzausgleichsregelung[LXXVI] in Zukunft mit höheren Steuerüberweisungen und zudem mit steigenden Realsteuereinnahmen rechnen könnten. Die Ländervertreter begegneten solchen Prognosen überwiegend mit Skepsis, mußten sich aber mit der Entscheidung Köhlers, die vom Reichskabinett voll gedeckt wurde, wohl oder übel abfinden. Nur der bayerische Ministerpräsident Held bestand hartnäckig auf einem finanziellen Entgegenkommen des Reichs, wobei er die Koalitionsbeteiligung der BVP als Druckmittel einsetzte. Um die Zustimmung Bayerns und der BVP zur Besoldungsreform zu erlangen, fand sich Köhler schließlich zu einem auch von Marx gebilligten Geheimabkommen bereit, wonach Bayern einen Kassenkredit von 35 Millionen RM als Vorschuß auf die Postabfindung erhalten sollte. Allerdings ist diese Zusage vom Reichsfinanzministerium zur Entrüstung Helds später nicht eingehalten worden187.

186

Dok. Nr. 224.

187

Dok. Nr. 252, Anm. 4; 306, außerhalb der Tagesordnung; 307; 311; 318, P. 1; 320; 321; 322, P. 1; 325, dort auch Anm. 4 a.

Zu der Sorge der Landesregierungen vor zunehmenden Haushaltsdefiziten gesellten sich die Bedenken der Unternehmer. Die industriellen Arbeitgeberverbände befürchteten, daß die Beamtengehaltserhöhung in dem geplanten beträchtlichen Ausmaß neue Lohnforderungen der Gewerkschaften provozieren, einen Anreiz zu Preissteigerungen schaffen und schließlich die öffentlichen Körperschaften zu Steuererhöhungen nötigen werde, was die Rentabilität und Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft empfindlich schwächen müsse; auch wurde in diesem Zusammenhang die Seriosität der Etatplanung des Reichsfinanzministeriums in Zweifel gezogen188. Die schärfste Opposition gegen die Besoldungsvorlage kam jedoch überraschend aus Köhlers eigener Partei, sie wurde getragen von den christlichen Gewerkschaften und ihrem Vorsitzenden Adam Stegerwald. An der Besoldungsfrage entzündete sich alsbald ein heftiger Konflikt zwischen dem Arbeitnehmerflügel und den Beamtenvertretern des Zentrums, der die Partei in eine tiefe Krise stürzte und die Manövrierfähigkeit nicht nur der Zentrumsführung, sondern auch der Regierungskoalition und des Kabinetts beeinträchtigte. Einen ersten Eindruck von der Härte und Stoßrichtung der Opposition der christlichen Gewerkschaften erhielt das Kabinett, als Stegerwald in einer Besprechung unter Vorsitz des Reichskanzlers der Regierung eine übermäßige Bevorzugung der Beamten vorwarf und Kompensationen zugunsten der Arbeiterschaft forderte; wenn die Wirtschaft – so Stegerwald – die „enorme Summe“ für die Aufbesserung der Beamtengehälter aufbringen könne, müsse sich auch in der Lage sein, den Arbeitern höhere Löhne zu zahlen189.

188

Dok. Nr. 315; vgl. auch Dok. Nr. 317, Anm. 5.

189

Dok. Nr. 303. Zur Kritik Stegerwalds an der Gehaltserhöhung vgl. auch dessen Schrift: Zur Reform der Beamtenbesoldung, 2. Aufl., 1928.

 

Angesichts dieser von verschiedenen Interessengruppen erhobenen Forderungen und Warnungen und auch im Hinblick auf die starken Bedenken des Reparationsagenten190 hat sich das Kabinett wiederholt mit der Frage der volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Besoldungsreform befaßt. Dabei konnten die Minister, namentlich Brauns und Curtius, lohn- und preissteigernde Tendenzen nicht ausschließen, hielten sie aber im Zusammenhang mit dem Besoldungsentwurf nicht für berechtigt, und da man sich in der Sache bereits festgelegt hatte, kamen sie[LXXVII] überein, die Beweisführung des Reichsfinanzministers bei den bevorstehenden parlamentarischen Verhandlungen solidarisch zu unterstützen191. Köhler betonte dann auch bei der ersten Lesung im Reichstag192, daß die Reform weder Preisnoch Lohnerhöhungen rechtfertige und daß die etatmäßige Deckung auch für 1928 ohne Steuererhöhungen gewährleistet sei, sofern nicht ein konjunktureller Rückschlag einträte – eine Möglichkeit, mit der Köhler jedoch in bewußt optimistischer Einschätzung der Wirtschaftsentwicklung nicht rechnen zu müssen glaubte.

190

Zur Kritik des Reparationsagenten an der Besoldungserhöhung siehe die Aufzeichnung Stresemanns über seine Besprechung mit dem Agenten am 6.10.1927: ADAP, Serie B, Bd. VII, Dok. Nr. 11; leicht gekürzter und geänderter Abdruck in: Stresemann, Vermächtnis, Bd. III, S. 259 ff.

191

Dok. Nr. 309; 317, P. 1; 319, P. 3.

192

Am 21.10.1927, RT-Bd. 394, S. 11616  ff.

Über zahlreiche Einzelprobleme der Besoldungsvorlage, über die Eingruppierung und die Gehaltssätze der verschiedenen Beamtenkategorien, über Ortszuschläge, Ministerialzulagen und dergleichen ist im Kabinett, im interfraktionellen Ausschuß der Regierungsparteien sowie im Haushaltsausschuß des Reichstags eingehend und kontrovers beraten worden. In den meisten Parteien und auch im Kabinett selbst machte sich alsbald das Bestreben geltend, für einzelne Beamtengruppen über den Besoldungsentwurf hinausgehende Verbesserungen zu erreichen. Um die ohnehin hohen Ausgaben für die Reform nicht ins Uferlose steigen zu lassen, hielt Köhler demgegenüber an dem Grundsatz fest, daß Änderungen seiner Vorlage nur insoweit zulässig sein sollten, als dadurch der eingeplante finanzielle Gesamtaufwand nicht oder nur unwesentlich überschritten würde. Aus diesem Grunde mußte auch die Absicht aufgegeben werden, die Bezüge der höheren Beamten weiter anzuheben, weil andernfalls mit unabsehbaren Berufungen der Interessenvertreter der unteren und mittleren Beamten zu rechnen war. Einen zentralen Streitpunkt bildete wegen der finanziellen Auswirkungen die Regelung der Pensionen im Besoldungsgesetz. Es ging dabei um die Frage, ob die große Zahl der bereits vor dem Inkrafttreten der Besoldungsreform (1.10.1927) in den Ruhestand versetzten Beamten in die neue Besoldungsordnung mit ihren höheren Gehaltssätzen eingruppiert oder aber ob sie mit gestaffelten, prozentualen Zuschlägen zu ihren bisherigen Pensionsbezügen abgefunden werden sollten. Für die Eingruppierung sprachen sich vorwiegend die DVP, die DNVP und einige Oppositionsparteien aus, während das System der prozentualen Zuschläge wegen seines geringeren Kostenaufwandes vom Reichsfinanzminister, dem Zentrum, der BVP, den Ländern und der Reichsbahn favorisiert wurde. Nach langwierigen Verhandlungen, in deren Verlauf es zu einem ernsthaften Koalitionsstreit zwischen der DVP und der DNVP einerseits und dem Zentrum auf der anderen Seite kam, einigte man sich schließlich auf das Prinzip der prozentualen Zuschläge, wobei für hohe Pensionen eine Obergrenze festgesetzt wurde. Ein in der letzten Verhandlungsphase vom Gewerkschaftsflügel des Zentrums unterbreiteter Vorschlag, die vorgesehenen Gehaltserhöhungen zunächst nur zu 75% auszuzahlen, stieß im Reichskabinett wie in der Preußenregierung auf Ablehnung. Dagegen konnte das Zentrum die übrigen Koalitionsfraktionen und das Kabinett für die Einfügung mehrerer Paragraphen in das Besoldungsgesetz und für eine parlamentarische Entschließung gewinnen, die langfristig auf eine Verminderung des Beamtenapparats und eine Vereinfachung der Behördenorganisation abzielten. Damit sollte der Öffentlichkeit wie auch dem Reparationsagenten gegenüber bekundet werden, daß Reichsregierung und Reichstag[LXXVIII] gewillt seien, mit der Besoldungserhöhung zugleich einen kostenmindernden Verwaltungsabbau in Angriff zu nehmen193.

193

Dok. Nr. 291; 293297302; 304; 306; 308; 353, P. 1 und 4355; 360; 362; 364, P. 3; 366, P. 6; 367; 368; 373; 374.

Obwohl am Ende der parlamentarischen Beratungen zahlreiche Sonderwünsche der Parteien unberücksichtigt geblieben waren, wurde das Besoldungsgesetz bei der Schlußabstimmung im Reichstag am 14. Dezember 1927 mit einer überraschend großen Mehrheit angenommen; mit den Regierungsparteien votierten auch die Sozialdemokraten, die Demokraten und die Nationalsozialisten für das Gesetz, wobei neben wahltaktischen Motiven auch der Wunsch ausschlaggebend war, die Beamten noch zu Weihnachten in den Genuß der Gehaltsaufbesserung kommen zu lassen. Die starken Widerstände innerhalb des Zentrums gegen die Köhlersche Besoldungsvorlage kamen darin zum Ausdruck, daß fast sämtliche Gewerkschaftsvertreter der Zentrumsfraktion entweder Stimmenthaltung übten oder der Abstimmung fernblieben194. Unter denen, die sich wegen finanzpolitischer Bedenken der Stimme enthielten, befand sich auch Brüning, unter dessen Kanzlerschaft die Beamtengehaltserhöhungen von 1927 während der Weltwirtschaftskrise wieder rückgängig gemacht wurden.

194

Zum Abstimmungsergebnis siehe RT-Bd. 394, S. 12116  ff.

d) Finanzpolitik, Reparationen und Auslandsanleihen

Wie bei der Abfindung der Liquidationsgeschädigten und der Erhöhung der Beamtengehälter hatte die Reichsregierung bei allen Vorhaben, die mit größeren finanziellen Aufwendungen verbunden waren, deren Vereinbarkeit mit den Verpflichtungen des Reichs aufgrund des Dawes-Plans zu bedenken. Zwar hatte sich die Abwicklung der Reparationszahlungen bisher äußerlich reibungslos vollzogen, doch wurden sie mit dem Ansteigen der Annuitäten zunehmend als drückende Last empfunden. Die Aufbringung der Leistungen aus dem Reichshaushalt warf angesichts der ebenfalls wachsenden innerdeutschen Ansprüche immer größere Probleme auf, und die Transferierung der Reparationsbeträge an die Gläubigerländer erfolgte nicht, wie im Dawes-Gutachten langfristig vorgesehen, aus einem Überschuß der deutschen Leistungsbilanz, sondern wurde mit Hilfe ausländischer, vornehmlich amerikanischer Kredite bewerkstelligt. Von daher ist es zu verstehen, daß das Kabinett von Zeit zu Zeit nach Ansatzpunkten für eine lastensenkende Revision Ausschau hielt. Im Grunde waren alle Reichsregierungen seit der Ingangsetzung des Dawes-Plans ebenso wie namhafte ausländische Experten davon überzeugt, daß sich der Plan nach dem Fälligwerden der Standardannuität von 2,5 Milliarden RM ab September 1928 entweder hinsichtlich der Aufbringung oder – was wahrscheinlicher war – hinsichtlich des Transfers als undurchführbar und korrekturbedürftig erweisen würde195.

195

Zur Revision des Dawes-Plans vgl. Wandel, Die Bedeutung der Vereinigten Staaten für das Reparationsproblem, S. 78 ff.; Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland, S. 321, 382 ff.; Maurer, Reichsfinanzen und Große Koalition, S. 24 ff.; Hertz-Eichenrode, Wirtschaftskrise und Arbeitsbeschaffung, S. 215 ff.; Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, S. 414 ff.

[LXXIX] Im Sommer 1926, als das Kabinett Marx III über die vorzeitige Ablösung der aufgrund des „Kleinen Besserungsscheins“ fälligen Haushaltszahlungen beriet, nahm man unter dem frischen Eindruck der Wirtschaftsdepression sogar an, daß die Revisionsfrage bereits 1927 akut werden würde196. Derartige Erwartungen wurden infolge der Besserung der Wirtschafts- und Kreditsituation allerdings bald enttäuscht197. Dennoch wurde gelegentlich der Beratungen des Kabinetts Marx IV über den Haushaltsplan für 1927, dessen Balancierung wegen der zusätzlich beschlossenen Ausgaben erhebliche Schwierigkeiten bereitete, wiederholt die Frage diskutiert, ob es im Hinblick auf die angestrebten Verhandlungen über eine Revision des Dawes-Plans förderlich sei, den Etat 1927 mit einem Fehlbetrag abschließen zu lassen. Diese Erörterung war deshalb besonders bemerkenswert, weil der Haushaltsausgleich nicht nur als eine unumstößliche, durch die Inflationserfahrungen vielfach bestätigte Maxime seriöser Finanzpolitik galt, sondern weil er auch einen essentiellen Bestandteil des Dawes-Plans bildete. Zu den Kabinettsmitgliedern, die einen Defizitetat als Beweis mangelnder Reparationsfähigkeit und daher als taugliches Revisionsargument befürworteten, gehörte Stresemann. Das Kabinett war zwar ebenfalls davon überzeugt, daß die volle Dawes-Annuität „unmöglich getragen werden könne“, entschied sich aber doch dafür, den Haushalt „wenigstens bei der Vorlage“ formal als ausgeglichen zu präsentieren, wobei man davon ausging, daß sich im Laufe des Rechnungsjahres mit großer Wahrscheinlichkeit ein Fehlbetrag ergeben und in einem Nachtragsetat auch offen ausgewiesen werde198. Der Reparationsagent Gilbert hatte die Haushaltsverhandlungen mit kritischer Aufmerksamkeit verfolgt und bereits während der Etatrede Köhlers am 16. Februar, in welcher der Finanzminister die Aufbringung der steigenden Reparationslasten in den kommenden Jahren als problematisch bezeichnet hatte, den Verdacht geschöpft, die neue Reichsregierung wolle einen verstärkt revisionistischen Kurs in der Reparationspolitik einschlagen. Gilbert brachte diese Vermutung in einer Unterredung mit dem Kanzler auch offen zum Ausdruck und sprach bei dieser Gelegenheit von dem „Mißtrauen, das zweifellos in weiten Kreisen des Auslandes mehr wie zuvor gegen die finanzielle Gebarung Deutschlands bestehe“. Marx bemühte sich nach Kräften, dieses Mißtrauen durch die Versicherung loyaler Erfüllungsbereitschaft zu beseitigen, vermochte Gilbert aber offenbar nicht zu überzeugen199. In seinem Halbjahresbericht vom 10. Juni 1927 unterzog der Reparationsagent die deutsche Finanzpolitik wegen der Ausgabensteigerungen, des verkappten Defizits im außerordentlichen Haushalt und der undurchsichtigen Etatgestaltung einer detaillierten Kritik. Während Köhler im Kabinett diese Beanstandungen zurückwies, erkannte Reichsbankpräsident Schacht die Vorwürfe Gilberts als berechtigt an, was nach dem Zeugnis Stresemanns bei den Ministern eine starke Verstimmung hervorrief und den Eindruck einer Komplicenschaft zwischen dem Reparationsagenten und Schacht erweckte200. Tatsächlich verfolgten beide ganz verschiedene Ziele:[LXXX] Gilbert wünschte den Dawes-Mechanismus so lange wie möglich bzw. nötig funktionsfähig zu erhalten, Schacht wollte dagegen ebenso wie das Kabinett seine baldige Revision, andererseits verurteilten beide aus währungspolitischen Motiven und einer privatwirtschaftlich-konservativen Denkweise heraus eine ausgabenfreudige und defizitäre Haushaltspolitik, die Schacht auch in revisionspolitischer Hinsicht für verfehlt hielt, da sie der Gegenseite eine breite Angriffsfläche bot.

196

Dok. Nr. 35; 36; 37, P. 1; 69, P. 3; 75, P. 5.

197

Vgl. dazu die Ausführungen des RbkPräs. Schacht und des RK Marx über die Wirtschaftslage und die Revision des Dawes-Plans in Dok. Nr. 195 (bes. S. 591, 598 ff., 601 ff.).

198

Dok. Nr. 200, P. 1; 210, P. 1.

199

Dok. Nr. 197.

200

Dok. Nr. 254; 256, P. 5; 257.

Die für die Reparationspolitik zuständigen Reichsressorts, das federführende Finanzministerium, das Auswärtige Amt und das Wirtschaftsministerium gelangten im Sommer 1927 übereinstimmend zu der Überzeugung, daß alle Bemühungen um eine Revision vorderhand aussichtslos seien, da nicht nur Frankreich und England, sondern auch die USA die Absicht erkennen ließen, die Vorteile des Dawes-Plans einstweilen voll auszunutzen. Zudem war die Regierung der Vereinigten Staaten, die den Schlüssel zur Lösung des Problems in der Hand hielt, keineswegs bereit, sich vor den amerikanischen Präsidentenwahlen Ende 1928 mit der Neuregelung der Reparationen und der damit verknüpften interalliierten Schulden zu befassen201. Diese Lagebeurteilung der Berliner Ministerien wurde gestützt durch die ausführlichen Berichte der deutschen Botschaft in Washington, die dringend vor jeder Revisionspropaganda warnte, da diese nur geeignet sei, Deutschland mit dem Odium des Unruhestifters zu belasten und den deutschen Auslandskredit zu gefährden. Vielmehr solle man die Initiative und Verantwortung dem Reparationsagenten, dem Vertrauensmann der amerikanischen Regierung und Hochfinanz überlassen. Solchen Ratschlägen, die in Berlin offene Ohren fanden, lag das Kalkül zugrunde, daß das starke Engagement amerikanischen Privatkapitals in Deutschland sich aus geschäftlichem Eigeninteresse zum rechten Zeitpunkt im Sinne einer ökonomisch tragbaren Begrenzung der deutschen Reparationsschuld auswirken werde202.

201

Dok. Nr. 275.

202

Dok. Nr. 280.

Der nun auf vorsichtige Zurückhaltung und geduldiges Abwarten eingestellten Taktik der Ressorts kam die vorprellende Aktivität des Reichsbankpräsidenten in der Frage der Regulierung der Auslandsanleihen wegen ihrer reparationspolitischen Implikationen ganz ungelegen. Schacht hatte durch die Herabsetzung des Reichsbankdiskonts auf den niedrigen Satz von 5% versucht, den starken Zustrom von kurzfristigem Auslandskredit einzudämmen. Das hatte im Verlauf des ersten Halbjahres 1927 zu einer erheblichen Minderung der Devisenreserven der Reichsbank geführt und bei dem Reparationsagenten nicht zu Unrecht den Verdacht erregt, Schacht wolle durch eine gezielte Politik der Devisenverknappung eine Unterbrechung des Reparationstransfers erreichen, zumal bekannt war, daß Schacht die bisher übliche Übertragung der Reparationen mittels Anleihedevisen als „unechten“ und planwidrigen Transfer scharf mißbilligte. Anfang Juni war Schacht schließlich genötigt, den Diskontsatz wieder auf 6% zu erhöhen203. Diese Maßnahme sowie die etwa gleichzeitig vom Reichsfinanzminister wieder zugelassene Kapitalertragssteuerbefreiung von Auslandsanleihen bewirkten, daß infolge der günstigen[LXXXI] Gewinnmöglichkeiten erneut ein starker Zufluß von Auslandskrediten einsetzte. Da nach Schachts Überzeugung die deutsche Auslandsverschuldung bereits ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hatte, wiesen er und das Reichsbankdirektorium in Schreiben an den Reichskanzler vom 27. Juni und 15. August204 auf die währungs-, wirtschafts- und reparationspolitischen Gefahren der fortgesetzten Auslandskreditaufnahme hin: Das übermäßige Einströmen von Auslandskapital habe die Regulierung des Geldmarkts durch die Reichsbank außerordentlich erschwert, die Importneigung verstärkt und den Exportdruck vermindert, durch eine ungesunde Stimulierung des Konsums und der Konjunktur eine über die wahre Lage hinwegtäuschende Scheinblüte der Wirtschaft erzeugt und die Reparationsproblematik durch den Transfer aus Leihdevisen verschleiert. Der Schuldendienst für die aufgenommenen Auslandskredite, die Finanzierung der wachsenden Außenhandelsdefizite sowie des zunehmenden Reparationstransfers erforderten immer höhere Devisenbeträge und Kapitalimporte, und wenn die Anleihebereitschaft des Auslandes nachlasse und der hohe Bestand an kurzfristigen Auslandskrediten plötzlich zurückgezogen werde, sei angesichts der ungenügenden Liquidität der deutschen Banken und der begrenzten Devisenreserven der Reichsbank eine schwere Kredit- und Wirtschaftskrise die unvermeidliche Folge. Die Schlußfolgerung, die Schacht aus dieser pointiert formulierten Negativbilanz der deutschen Auslandsverschuldung zog, lautete: Sparsamste Haushaltspolitik der öffentlichen Hände und weitgehendes „Abbremsen“ der Auslandskredite. Hierbei dachte der Reichsbankpräsident in erster Linie an die Einschränkung der öffentlichen und besonders der kommunalen Auslandsanleihen, weil diese in aller Regel nicht für „produktive“, d. h. für unmittelbar devisenschaffende oder devisensparende Investitionen verwendet würden. Da die Reichsbank diese Probleme nicht im Alleingang lösen konnte, erbat Schacht unter Hinweis auf den Ernst der Lage eine Besprechung mit der Reichsregierung, um ein einheitliches Vorgehen in der Anleihepolitik festzulegen, an dem es in der Vergangenheit häufig gefehlt hatte.

203

Dazu Link, a. a. O., 406 ff.; Maurer, a. a. O., S. 29; Hardach, Weltmarktorientierung und relative Stagnation, S. 70 ff.

204

Dok. Nr. 260; 286.

Den mit Anleihefragen befaßten Ressorts sind die von Schacht so stark unterstrichenen nachteiligen Folge- und Begleiterscheinungen der Auslandskredite nicht unbekannt gewesen205, doch schreckten sie vor den von ihm empfohlenen restriktiven Eingriffen zurück, weil sie die Risiken für weniger gravierend hielten und vor allem die positiven, konsolidierenden Wirkungen sahen, die von den amerikanischen Anleihen auf die Wirtschaft und indirekt auch auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ausgingen206.

205

Vgl. etwa die Ausführungen über Auslandsanleihen in Dok. Nr. 275.

206

Dok. Nr. 300.

Als das Kabinett auf die Schreiben Schachts nicht alsbald reagierte, stellte die Reichsbank ihre Mitarbeit in der für die Begutachtung und faktisch auch für die Genehmigung von Auslandsanleihen der Länder und Gemeinden zuständigen Beratungsstelle ein. Schacht begründete diesen spektakulären Schritt damit, daß die bisherige Genehmigungspraxis zu weitherzig und der Einfluß der Reichsbank auf das Genehmigungsverfahren unzureichend sei. Daraufhin kam es zu heftigen Kontroversen zwischen dem Reichsbankpräsidenten und den Vertretern der Gemeinden.[LXXXII] Diese protestierten gegen jede zusätzliche Beschränkung des kommunalen Auslandskredits und verwahrten sich entschieden gegen den von Schacht erhobenen Vorwurf leichtfertiger Verschuldung und unproduktiver Kreditverwendung207. Indes saßen die Kommunen hinsichtlich der Anleihefrage am kürzeren Hebel, denn Schacht fand in seinem Kampf gegen die anschwellende Auslandsverschuldung im Reparationsagenten einen mächtigen Verbündeten. Etwa zur gleichen Zeit, als die Reichsbank in der Beratungsstelle intervenierte, warnte auch Gilbert, von der amerikanischen Regierung unterstützt, vor einer weiteren Häufung von Auslandskrediten der öffentlichen Hand und erneuerte anläßlich der Auflegung einer Amerika-Anleihe Preußens seine auf Artikel 248 des Friedensvertrags gestützte „Prioritäts“-These, derzufolge den Reparationszahlungen ein prinzipieller Vorrang vor dem Schuldendienst für die Auslandsanleihen des Reichs, der Länder und anderer öffentlicher Körperschaften zukam. Dahinter stand die Absicht, eine Kollision zwischen den Interessen der Reparationsgläubiger und der privaten Anleihegläubiger Deutschlands zu vermeiden, und zudem wünschte Gilbert den öffentlichen Kredit des Reichs für die mit einer Endregelung des Reparationsproblems verbundenen internationalen Anleiheoperationen intakt zu halten.

207

Dok. Nr. 301; 310; 312; siehe auch 323; 356, bes. Anm. 2; 357, P. 1.

 

Die vom Reparationsagenten ausgelöste Prioritätsdebatte und die Blockade der Beratungsstelle für Auslandskredite durch die Reichsbank nötigten das Kabinett. sich der bislang aufgeschobenen Auseinandersetzung mit Schacht zu stellen. In einer Chefbesprechung am 6. Oktober bereiteten sich die Minister auf die Aussprache vor208. Man war entschlossen, den eigenwilligen Reichsbankpräsidenten in seine Schranken zu weisen, mußte aber andererseits schon mit Rücksicht auf das hohe internationale Ansehen Schachts und seine engen Kontakte zu Gilbert einen für beide Seiten tragbaren Kompromiß finden. In der gemeinsamen Besprechung am 7. Oktober209 zeigte sich Schacht bemerkenswert zugänglich. Er erkannte der Reichsregierung die „Priorität und Superiorität“ in den umstrittenen Fragen zu und versicherte seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Erhebliche Meinungsverschiedenheiten ergaben sich in der Einschätzung der Wirtschaftslage und der Verschuldungssituation durch Wirtschaftsminister Curtius und Schacht. Curtius zeichnete ein durchaus optimistisches Bild: Die Industrie habe in den letzten Jahren ihre Produktivität erheblich gesteigert, ihre Verschuldung sei im Verhältnis zu ihrem Eigenkapital niedrig, und für den Fall einer Krise sei sie gut gerüstet. Die Zufuhr weiterer Auslandskredite hielt Curtius für unentbehrlich, um die Rationalisierung der Industrie fortzuführen, die gute Konjunktur zu stabilisieren und die Arbeitslosigkeit auf einem niedrigen Stand zu halten210. Schacht beurteilte die Verhältnisse wesentlich skeptischer und wiederholte die aus den Eingaben der Reichsbank bekannten Argumente. Schließlich einigten sich das Kabinett und der Reichsbankpräsident dahingehend, daß die Aufnahme von Auslandskapital durch die Privatwirtschaft nicht behindert werden sollte; es war dies ein Punkt, über den man sich zuvor auch mit dem Reparationsagenten verständigt hatte. Dagegen sollten die Richtlinien für die[LXXXIII] Genehmigung von Auslandskrediten der Länder und Gemeinden etwas schärfer gefaßt werden, ohne daß jedoch die Reichsbank im Genehmigungsverfahren der Beratungsstelle die von ihr gewünschte Vetoposition erhielt.

208

Dok. Nr. 312.

209

Dok. Nr. 313.

210
 

Vgl. auch Curtius’ Reichstagsrede vom 1.12.1927: RT-Bd. 394, S. 11749  ff.

Hatte die Reichsregierung damit den Vorstoß Schachts im wesentlichen erfolgreich abgewehrt, so wurde sie durch ein aufsehenerregendes Memorandum des Reparationsagenten vom 20. Oktober 1927 erneut in die Defensive gedrängt. In dem Memorandum erneuerte und verschärfte Gilbert die bereits in seinem Juni-Bericht geübte Kritik an der öffentlichen Finanz- und Anleihepolitik. Er beanstandete die ständig steigende, den Einnahmen vorauseilende Tendenz der öffentlichen Ausgaben, die hohen Steuerüberweisungen des Reichs im Rahmen des Finanzausgleichs, die übermäßige, von der Reichsregierung ungenügend kontrollierte Kreditaufnahme der Länder und Gemeinden. Insonderheit tadelte der Reparationsagent den hohen Finanzaufwand für die Beamtenbesoldungsreform, mit deren Beratung der Reichstag soeben begann. „Würde man diesen Tendenzen gestatten, sich ungehemmt auszuwirken, so ist es einerseits nahezu sicher, daß sie zu empfindlichen wirtschaftlichen Rückschlägen und Depressionen führen würden, und andererseits wahrscheinlich, daß sie den Eindruck verstärken würden, Deutschland handle nicht mit gehöriger Berücksichtigung seiner Reparationsverpflichtungen.“ Das waren überaus ernste Warnungen an die Adresse der Reichsregierung, die sich der Brisanz dieses Dokuments auch sofort bewußt gewesen ist. Köhler stemmte sich anfänglich gegen seine Publizierung, aber nachdem einzelne Teile durch die Presse bekanntgeworden waren, entschlossen sich die Minister, das Memorandum Gilberts zusammen mit einer Antwort des Kabinetts zu veröffentlichen211.

211

Dok. Nr. 324; 327, P. 1; 329; 331; 332.

In ihrer in konziliantem Ton gehaltenen Erwiderung räumte die Reichsregierung einzelne Fehlentwicklungen ein, betonte aber zugleich ihre unausgesetzten Bemühungen um eine korrekte Vertragserfüllung. Die von Gilbert monierten Ausgabensteigerungen verteidigte die Regierung als staats-, sozial- und wirtschaftspolitisch notwendig; sie dienten der Beseitigung von Kriegs- und Inflationsfolgen, der Behebung sozialer Notstände, der Verbesserung des Lebensstandards und dem „Aufbau normaler Volks- und Staatswirtschaft, ohne die eine weitere erfolgreiche Durchführung des Sachverständigenplans nicht wohl möglich ist“. Auch fehlte in der Antwort der Reichsregierung nicht ein Hinweis darauf, daß die Reparationsgläubiger es selbst in der Hand hätten, durch die bereitwilligere Aufnahme deutscher Waren eine Steigerung des deutschen Exports und damit auch eine Transferierung der Reparationen aus einem Handelsbilanzüberschuß Deutschlands zu ermöglichen.

Eine willkommene Argumentationshilfe bot das Memorandum des Reparationsagenten vor allem den Interessenverbänden der Wirtschaft, die seit jeher die Expansion der Staatsausgaben und Sozialleistungen kritisiert hatten, da diese nach landläufiger Ansicht die Rentabilität und Eigenkapitalbildung der Wirtschaft behinderten. Unter Berufung auf das Memorandum forderte das Präsidium des Reichsverbandes der Deutschen Industrie in einer Besprechung mit dem Kabinett eine zehnprozentige Kürzung aller öffentlichen Haushalte und den Erlaß eines verfassungsändernden „Finanznotgesetzes“, das die Stellung des Reichsfinanzministers[LXXXIV] stärken und das Budgetrecht des Reichstags sowie der Länder- und Kommunalparlamente einschränken sollte. Der Kanzler und die anwesenden Minister zeigten zwar Verständnis für das Anliegen der Industriellen, versuchten ihnen aber auch klarzumachen, daß derart radikale Forderungen parlamentarisch nicht durchsetzbar seien212.

212

Dok. Nr. 350; 351; 357, P. 2; 364, P. 2; 366, P. 4; vgl. auch Dok. Nr. 323.

Indes hielt das Kabinett es für ratsam, durch demonstrative Akte des Wohlverhaltens auf dem Gebiet der Finanz- und Kreditpolitik zu zeigen, daß es die kritischen Hinweise des Gilbert-Memorandums ernst nahm, ging es doch darum, das Vertrauen des Auslandes in die Kreditwürdigkeit Deutschlands zu erhalten und für die erwartete definitive Lösung des Reparationsproblems ein günstiges Klima zu schaffen213. So sind die Länder und Gemeinden von Oktober 1927 bis Anfang Mai 1928 an der Aufnahme von Auslandsanleihen dadurch gehindert worden, daß die Beratungsstelle für Auslandskredite während dieser Zeit keine Anleiheanträge genehmigte. Freilich führte diese offizielle Auslandsanleihesperre auch dazu, daß kapitalhungrige Gemeinden unter Umgehung der Beratungsstelle sich kurzfristiges Auslandsgeld verschafften oder ihren Kapitalbedarf zu ungünstigen Konditionen auf dem überlasteten Inlandsmarkt zu decken versuchten, wo sie auf die konkurrierende Nachfrage nicht nur der Privatwirtschaft, sondern auch der Länder und der Reichsbahn trafen, die durch den Prioritätsvorbehalt des Reparationsagenten an der Aufnahme von Auslandsanleihen gehindert waren. Die Gemeinden sind deshalb von der Reichsbank und dem Reichsfinanzministerium, die bei der Anleiheregulierung nun einträchtig zusammenarbeiteten, scharf gerügt worden. Wenngleich sich demnach die partielle, auf die Auslandsanleihen der öffentlichen Hand beschränkte Politik der Kreditrestriktion in ihrer Wirkung als problematisch erwies, so entsprach sie doch den Erwartungen des Reparationsagenten, der die von der Reichsregierung und der Reichsbank getroffenen Maßnahmen in seinen Berichten an die Reparationskommission beifällig kommentierte214.

213

Zu den ersten positiven Reaktionen des Kabinetts auf das Memorandum des Reparationsagenten gehörte die Bildung des Reparationspolitischen Ausschusses: Dok. Nr. 334, Ministerbesprechung, P. 1.

214

Dok. Nr. 399; 457; 467, P. 4.

Der Einfluß der Sparsamkeits- und Maßhalteappelle des Reparationsagenten machte sich anfänglich auch bei den Kabinettsberatungen über den Haushaltsplan für das Rechnungsjahr 1928 bemerkbar. Hierbei bemühte sich Köhler besonders darum, das Defizit im außerordentlichen Haushalt, das seit 1926 infolge des ungedeckten Anleihebedarfs entstanden war, durch Kürzung und Streckung der Ausgaben zu vermindern. Das Extraordinarium im Etat 1928 wurde stark beschnitten und in Abkehr von der bisherigen Praxis ohne Zuhilfenahme neuer Anleiheermächtigungen gedeckt. Dagegen war eine weitere Erhöhung der Ausgaben des ordentlichen Haushalts schon wegen der gestiegenen Reparationsannuität, der erhöhten Sozialrenten und Beamtengehälter nicht zu umgehen, doch war das Kabinett bestrebt, den Ausgabenzuwachs so weit wie möglich zu begrenzen. Allerdings mußte der Voranschlag sehr bald nach oben korrigiert werden, denn das nach der Koalitionsauflösung in Vorwahlkampfstimmung beschlossene „Arbeitsnotprogramm“ erforderte zusätzliche Aufwendungen für Sozialleistungen, für die Landwirtschaft[LXXXV] und die Liquidationsentschädigung. Die Balancierung des Etats 1928 wurde schließlich nur dadurch ermöglicht, daß die Einnahmen, die im Hochkonjunkturjahr 1927 bereits eine Rekordhöhe erreicht hatten, nochmals höher geschätzt wurden, und außerdem mußte der Rest des Vorjahresüberschusses sowie der Betriebsmittelreserve zur Deckung herangezogen werden. Die gesamte Haushaltsplanung basierte auf der Annahme, daß die außergewöhnliche, auslandskreditgestützte Prosperität des Vorjahres fortdauern würde. Glitt die Konjunkturkurve abwärts oder trat gar eine Depression ein, waren angesichts des Mangels an Kassenreserven und der begrenzten Kreditmöglichkeiten des Reichs Ausgabeneinschränkungen oder Steuererhöhungen oder auch beides unvermeidlich215. Eine solche Eventualität aber würde höchste Anforderungen an die Etatdisziplin der Regierung und der Parteien stellen, die sich in der zu Ende gehenden Legislaturperiode zunehmend an eine Politik der Ausgabenerhöhungen und der Steuererleichterungen gewöhnt hatten.

215

Dok. Nr. 330; 335, P. 6 u. 7337; 339; 340, P. 3; 418, P. 1 u. 2; 419, P. 2; 427; 432; 436; 468, bes. Anm. 5.

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