2.216.2 (mu21p): 2. Maßnahmen zur Behebung der Not der Landwirtschaft.

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2. Maßnahmen zur Behebung der Not der Landwirtschaft.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft trug den Inhalt seiner Vorlage vom 30. Mai 1929 […] vor und beantragte die Zustimmung der Reichsregierung zu den in dieser Vorlage näher bezeichneten Anträgen6.

6

Der REM hatte als Vorlage einen GesEntw. und einen VOEntw. eingereicht (30. 5.; R 43 I /1438 , Bl. 104-109, 2-11 und 2541, R 43 I /2541 , Bl. 467-482). Im GesEntw. wurden Zollerhöhungen für Rindvieh, Schafe, Schweine und Butter gefordert. Nach dem VOEntw. sollten einzelne Positionen im Zollgesetz vom 15.7.27 (RGBl. I, S. 180 ) außer Kraft gesetzt werden, die Spelz, Hafer, Mehl und verarbeitetes Getreide sowie Schmalz betrafen. Außerdem hatte der REM in der Begründung zum VOEntw. die Bildung einer Sachverständigenkommission gefordert, die die Lage des Getreidemarkts erörtern sollte.

[708] Der Reichswirtschaftsminister führte demgegenüber aus:

a) daß er der Einführung eines Erziehungszolles auf Butter vorbehaltlich einer näheren Einigung über die Höhe dieses Zolles grundsätzlich zustimme selbst auf die Gefahr hin, daß es dieserhalb mit Finnland Schwierigkeiten geben werde;

b) daß er eine Erhöhung des Zolles auf Schweine nicht für möglich halte, und zwar schon mit Rücksicht auf die Verhandlungen mit Polen;

c) daß nach seiner Meinung eine Lösung des Getreidepreisproblems niemals durch die Aufhebung der Zwischenzölle erreicht werden könne, und daß er eine Aufhebung der Zwischenzölle deshalb für eine nutzlose Maßnahme halte. Er sei aber mit dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft der Meinung, daß, wenn man auf dem Gebiete der Getreidewirtschaft etwas machen wolle, dies noch vor der Ernte tun müsse7.

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Die Lage des Getreidemarktes wurde durch den Überschuß an Weizen bestimmt, der am Ende des Erntejahres 1929 20 Mill. Tonnen betragen sollte, wie in der Begründung des VOEntw. des REM ausgeführt worden war. Die Ausfuhrländer würden durch Begünstigung der eigenen Erzeuger einen Druck auf den europäischen Markt ausüben. Dem Beispiel Frankreichs und Italiens folgend, die die Zollsätze erhöht hätten, bedürfe auch die deutsche Landwirtschaft eines Schutzes „und zwar nicht nur für Weizen, sondern auch für Roggen und Hafer, die in ihrer Preisbildung von jeher vom Weizenpreis abhängig waren“ (Vorlage des REM, 30.5.29; R 43 I /1438 , Bl. 6-11, hier: Bl. 8f und 2541, R 43 I /2541 , Bl. 467-482, hier: Bl. 479f).

Der Reichskanzler vertrat die Ansicht, daß alles, was zur Behebung der Not der Landwirtschaft zu geschehen habe, nur im Rahmen eines großen Gesamt-Wirtschaftsprogramms durchgeführt werden könne, und zwar erst dann, wenn man an die Durchbringung des Pariser Sachverständigenberichtes über die Reparationen herangehe, wenn die Reform der Arbeitslosenversicherung behandelt werde und vielleicht auch noch die gesamten Zollfragen spruchreif seien. Im jetzigen Zeitpunkt sei es ausgeschlossen, daß die Sozialdemokratische Partei einer Aufhebung der Zwischenzölle für Weizen, Roggen und Spelz zustimme. Notwendig sei dagegen, daß man die vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft vorgeschlagene Sachverständigenkommission zur Begutachtung der auf dem Gebiet der Getreidewirtschaft vorliegenden Fragen einsetze und daß man die Arbeiten dieser Kommission befriste. Die vom Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft gemachten Vorschläge über die Zusammensetzung der Kommission aus Agrariern und Konsumenten seien richtig8. Im übrigen könne man auf dem Gebiete der Getreidewirtschaft im Augenblick auch schon um deswillen nichts erreichen, weil die schwedische Regierung ohne Zustimmung ihres Parlaments keine Zugeständnisse machen werde und das Schweden-Parlament am 3. Juni bis zum Januar 1930 in Ferien gegangen sei. Auch mit Finnland werde jetzt nichts erreichbar sein. Jede Zollerhöhung werde im[709] Reichstage schwer durchzubringen sein, solange für die Massen schwerwiegende Fragen in der Schwebe seien. Praktisch sei eine zögerliche Behandlung der Agrarfragen nicht allzu schwer, da alle vorliegenden Anträge der Parteien einer eingehenden Ausschußberatung bedürften9. Eilig sei nur die Einberufung der Sachverständigenkommission, die gezwungen werden müsse, schnell zu arbeiten. Man könne ihr Gutachten innerhalb drei Wochen erwarten; alsdann seien die anderen Probleme (Paris, Erwerbslosenfürsorge usw.) soweit gereift, daß man auch in den Agrarfragen leichter vorwärts kommen könne.

8

Nach den Vorstellungen des REM sollte das Sachverständigengremium prüfen, ob es außerhalb einer Monopolisierung und einer Ausgleichsabgabe noch Wege zur Stabilisierung des Getreidemarkts gebe (R 43 I /1438 , Bl. 6-11, hier: Bl. 9f und 2541, R 43 I /2541 , Bl. 467-482, hier: Bl. 480f).

9

Damit sind wohl vor allem die Anträge des DNVP und der ChrBLP gemeint worden, die vor allem Erhöhung der Vieh- und Fleischzölle und deren Angleichung aneinander forderten (RT-Drucks. Nr. 1043 bis 1047, Bd. 436 ).

Ministerialdirektor Dr. Ritter bemerkte, daß in dem Expertenbericht der Pariser Sachverständigen ein Passus enthalten sein werde, der davon handele, daß Deutschland zur Aktivierung seiner Handelsbilanz an eine Einschränkung der Lebensmitteleinfuhr herangehen müsse10. Hierin werde sich ein geeigneter Anknüpfungspunkt finden lassen. Im übrigen sei das Auswärtige Amt zur Einleitung von Verhandlungen mit Schweden über die Beseitigung der Bindung der Getreidezölle sowie zu Verhandlungen mit Finnland über die Erhöhung des Butterzolles soweit nötig, bereit, wobei jedoch eine Kündigung der Handelsverträge zunächst vermieden werden müsse.

10

Ein entsprechender Hinweis ist in den endgültigen Sachverständigenbericht nicht aufgenommen worden.

Der Reichsverkehrsminister erklärte, daß auch nach seiner Meinung die Agrarfragen nur im Rahmen eines Gesamt-Wirtschaftsprogramms erledigt werden könnten. Zur Zeit bleibe nur folgendes übrig:

a)

Einsetzung der Sachverständigenkommission,

b)

Verhandlungen mit Schweden über die Neugestaltung der Getreidezölle,

c)

Verhandlungen mit Frankreich über die Beseitung des gegenwärtigen Mehlzolles11.

11

Der Antrag auf Verhandlungen mit Frankreich war vom REM in dem Anschreiben zu seiner Vorlage vom 30. 5. gestellt worden (R 43 I /1438 , Bl. 104 und 2541, R 43 I /2541 , Bl. 467-482, hier: Bl. 467). In der Begründung zum VOEntw. hatte der REM nachgewiesen, daß mit Ausnahme des Roggenmehls der Mehlimport seit 1925 stetig zurückgegangen sei und damit der Mehlzoll seinen Zweck erfüllt habe. „Würde jetzt durch die Erhöhung nur der Getreidezölle eine Verringerung der Schutzspanne für die Mühlenindustrie eintreten, so würde eine volkswirtschaftlich unerwünschte Zunahme der Mehleinfuhr die Folge sein. – Der jetzt geltende Zwischenzoll von 12,50 RM muß daher beseitigt werden. Desgleichen ist eine Abänderung des Vertragssatzes für Mehl erforderlich“ (a. a. O.).

Die Lösung des Agrarproblems werde große Schwierigkeiten machen. Jedenfalls werde es in seiner Fraktion große Diskussionen geben. Die Getreidepreise könnten jedenfalls nicht so bleiben wie sie jetzt seien. Ein Regulierungsmonopol sei ihm persönlich die sympathischste Lösung. Bisher habe man aber leider die praktische Erfahrung gemacht, daß die Regulierung der Großhandelspreise sich nicht zugunsten der Konsumentenpreise auswirke. Die Lösung werde wohl durch vorübergehende höhere Zölle gefunden werden müssen. Mit einer Angleichung der Viehzölle an die Fleischzölle sei er einverstanden, mit Ausnahme jedoch der Schweinezölle. Dem vorgeschlagenen Erziehungszoll auf Butter[710] stimme er zu. Eine Erhöhung des Schmalzzolles dagegen lehne er ab. Ferner lehne er die Übertragung der Bearbeitung der Angelegenheiten des Veterinärwesens vom Reichsministerium des Innern auf das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft ab.

Der Reichsminister der Finanzen erklärte, daß er über die zur Erörterung stehenden Probleme noch nicht mit seiner Fraktion Fühlung genommen habe. Er könne daher nur seine persönliche Meinung äußern. Gegenüber den vorliegenden Anträgen des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft habe er sachliche Hemmungen. Deutschland habe gute Handelsverträge nur mit agrarischen Staaten. Durch Erhöhung der Agrarzölle komme Deutschland gerade mit diesen Ländern in Konflikt. Nach Erhöhung von Agrarzöllen werde man mit Schweden und Finnland schwer wieder ins reine kommen. Die Erhöhung der Zwischenzölle auf Getreide werde für die deutsche Getreidewirtschaft praktisch unwirksam bleiben und nichts helfen. Die vorgeschlagenen Maßnahmen hätten daher wenig Sinn und führten politisch in die Irre. Er befürwortete den alsbaldigen Zusammentritt der vorgeschlagenen Sachverständigenkommission. Seine Fraktion werde sicherlich bereit sein, Maßnahmen für gute und stabile Getreidepreise mitzumachen, wenn die Kommission geeignete Vorschläge machen werde. In den übrigen Fragen stimme seine Meinung mit den Ausführungen des Reichsverkehrsministers überein.

Der Reichsminister des Inneren äußerte sich zum Antrag auf Übertragung des Veterinärwesens auf das Reichsernährungsministerium und erklärte, daß er dem Antrage widersprechen müsse und zwar aus einem doppelten Grunde:

1. weil die Reichsregierung sich der Länderkonferenz gegenüber dahin gebunden habe, alle organisatorischen Reformen zurückzustellen, bis ein Gesamtvorschlag für die Verwaltungsreform vorläge,

2. weil beim Übergang des Veterinärwesens auf das Reichsernährungsministerium die Gefahr bestehe, daß die Veterinärpolizei benutzt werde, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.

Wenn dem Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft daran gelegen sein sollte, sei er gern bereit, ihm die Mitbearbeitung des Veterinärwesens im Korreferat zuzugestehen.

Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft erwiderte, daß er an einer derartigen Mitbeteiligung kein Interesse habe.

Der Reichskanzler stellte als Ergebnis der Beratung folgendes fest:

1. Zur Begutachtung der auf dem Gebiet der Getreidewirtschaft vorliegenden Fragen wird eine Sachverständigenkommission eingesetzt, die ihr Gutachten innerhalb drei Wochen erstatten soll.

Dieser Kommission sollen angehören: Die Reichstagsabgeordneten: Brandes, Hermes, Schiele, Fehr, Graf zu Stolberg, Schmidt (Köpenick), Meyer (Berlin), Schlack, Frau Sender, ferner Senator Eberling (Hamburg); als Berichterstatter soll Herr Baade hinzugezogen werden12.

12

Die Kommission konstituierte sich am 3. 6. Am darauffolgenden Tag beantragte der Deutsche Industrie- und Handelstag beim RK seine Beteiligung, da Vertreter des Handels, der Mühlen und der verarbeitenden Industrie in diesem Kreis völlig fehlen würden und durch ihre Beteiligung die Kommission in der Öffentlichkeit „einen stärkeren Widerhall“ finden werde (Schreiben an den RK vom 4. 6.; R 43 I /2541 , Bl. 489 f.).

[711] 2. Mit Schweden soll in gleicher Weise, wie dies bezüglich der Viehzölle geschehen ist, auch über die Beseitigung der Bindung der Getreidezölle verhandelt werden. Von einer Kündigung des schwedischen Handelsvertrages soll jedoch vorerst abgesehen werden13.

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In Schweden wurde der Antrag auf Erhöhung der deutschen Viehzölle abgelehnt und eine Antwort wegen der Erhöhung der Getreidezölle nicht erteilt. Daraufhin erwog das AA die Kündigung der Verträge, da innerhalb von sechs Monaten ein neuer Vertrag geschlossen werden könne. Jedoch würden die neuen Zollsätze nicht früher in Kraft treten (Vermerk in der Rkei vom 13. 6.; R 43 I /2420 , Bl. 188).

3. Zu gegebener Zeit soll mit Frankreich die Beseitigung des gegenwärtigen Mehlzolles erörtert werden. Die Reichsregierung soll jedoch nicht die Initiative zu derartigen Verhandlungen ergreifen.

4. Die Neugestaltung der Rindvieh- und Schweinezölle sowie die Einführung eines Erziehungszolles auf Butter soll im Rahmen eines großen Gesamt-Wirtschaftsprogramms, das in Zusammenhang mit den Beratungen über das Ergebnis der Pariser Sachverständigenverhandlungen in Angriff genommen werden soll, erledigt werden.

5. Die Übertragung der Bearbeitung der Angelegenheiten des Veterinärwesens vom Reichsministerium des Innern auf das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft wird abgelehnt.

6. Die Erhöhung des Schmalzzolles wird dem vorstehenden unter Ziffer 4 genannten Gesamtprogramm vorbehalten.

[Pressenotiz]

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