2.240.1 (mu21p): [1. Entwurf eines Gesetzes über die Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten über ältere staatliche Renten.]

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[1. Entwurf eines Gesetzes über die Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten über ältere staatliche Renten.]

Staatssekretär Dr. Joël trug den Sachverhalt vor1. Er verlas einen Brief des Reichspräsidenten an den Reichskanzler in dieser Angelegenheit vom[792] 3. Juli d. J.2. Sodann verlas er ein Gutachten des Reichsjustizministeriums, das zu dem Ergebnis kommt, daß der Gesetzentwurf, betreffend Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten über ältere staatliche Renten nicht verfassungsändernder Natur ist3. Der Standpunkt des Reichsministers von Guérard, den er über den Sachverhalt unterrichtet habe, gehe dahin, daß das Reichskabinett, dem Wunsch des Reichspräsidenten entsprechend, eine noch auszuwählende Persönlichkeit mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragen möge. Auf jeden Fall müsse aber das Reichskabinett auch nach Erstattung dieses Gutachtens in seiner Entschließung frei bleiben. Reichsminister von Guérard lehne es für seine Person ab, den Reichsgerichtspräsidenten mit der Erstattung des Gutachtens zu beauftragen. Der jetzige Reichsgerichtspräsident solle nicht wieder wie sein Amtsvorgänger genötigt werden, zwischen eine eventuelle Meinungsverschiedenheit zwischen dem Reichskabinett und dem Reichspräsidenten eingeschaltet zu werden. Auch sei zu berücksichtigen, daß der 6. Zivilsenat des Reichsgerichts Schiedsgericht in der Frage der Hessenrente sei. Für bedenklich halte der Reichsminister der Justiz auch die Betrauung des Kammergerichtspräsidenten Tigges mit der Erstattung des Gutachtens, weil der preußische Fiskus Schuldner der Hessenrente sei. Der Kammergerichtspräsident könne als befangen erscheinen. Dagegen wolle sich der Reichsminister der Justiz mit der Wahl des Oberreichsanwalts a. D. Professor Dr. Ebermayer einverstanden erklären.

1

Im November 1928 hatte der RJM durch einen eigenen GesEntw. zur Regelung der vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen mit den bis 1866 meditiasierten Fürstenhäusern die seit Februar über diese Frage andauernden RR-Verhandlungen in ein neues Stadium gebracht. Nach der Vorstellung des RJM sollten Renten für ehemalige standes- und landesherrliche Rechte ebenso fortfallen wie „unsittliche“ Renten für Aufhebung der Leibeigenschaft etc. Die Rentenverpflichtung wurde auf 8% des Goldmarkwerts der Rente vom 1.7.1914 bzw. auf 25% des kraft privatrechtlichen Titels erworbenen Grundbesitzes festgelegt. Bei Pensions- und Unterhaltungsverpflichtungen konnten beschränkte Beihilfen gewährt werden (Vorlage vom 30.11.28; R 43 I /2208 , Bl. 418-429). Das RKab. hatte den GesEntw. trotz der vom RWiM vorgetragenen Bedenken der DVP an den RR überwiesen (Kabinettssitzung vom 10.12.28, P. 6; Kabinettssitzung vom 17.12.28, P. 2). In der Ministerbesprechung vom 11.3.29, P. 2, hatte das Kabinett trotz einiger Änderungen des GesEntw. durch den RR ihn ohne Doppelvorlage dem RT zugeleitet. Nach der ersten Lesung im Plenum (RT-Bd. 424, S. 1607  ff.) hatte der Rechtsausschuß den Entwurf am 8. 6. behandelt. Die Vertreter der SPD, der DDP, des Zentrums und der KPD hatten ihm zugestimmt. Vom Ausschuß war ebenso wie vom RIMin. die Ansicht vertreten worden, das Gesetz bedürfe keiner verfassungsändernden Mehrheit. Um bis zur reichsgesetzlichen Regelung Rechtsstreitigkeiten über die Renten auszusetzen, wie sie zwischen Preußen und den Häusern Hessen-Kassel und Holstein schwebten, hatte der RJM einen weiteren GesEntw. vorgelegt (5. 6.; R 43 I /2208 , gefunden in R 43 I /2209 , Bl. 15-17). Für diesen Entwurf war eine Zweidrittelmehrheit notwendig erschienen (siehe RT-Drucks. Nr. 1131, Bd. 436 ). Das Kabinett hatte der Vorlage in der Ministerbesprechung vom 7. 6., P. 1, zugestimmt. In einer Parteiführerbesprechung mit dem RJM hatte die DVP jedoch Bedenken gegen diese Vorlage vorgebracht, und die Beratung im Plenum am 19. 7. hatte eine ausreichende Mehrheit zweifelhaft erscheinen lassen (RT-Bd. 425, S. 2645  ff.; Vermerk Wiensteins vom 21.7.29; R 43 I /2208 , gefunden in R 43 I /2209 , Bl. 29). Auf Wunsch des Rechtsausschusses hatte das RJMin. vor der dritten Lesung ein Gutachten vorgelegt, in dem in Übereinstimmung mit dem RIMin. festgestellt wurde, daß der GesEntw. keiner verfassungsändernden Mehrheit bedürfe (Vermerk Wiensteins vom 25. 6.; R 43 I /2208 ). Der Referent der Rkei hielt dies Verfahren „für mißlich“; denn nun müsse das RKab. entscheiden, ob der Entwurf dem RPräs. zur Verkündung vorgelegt werden könne, wenn er nur mit einfacher Mehrheit angenommen werde (R 43 I /2208 ). In der Sitzung am 25. 6. stimmte der RT dem Gesetz mit einfacher Mehrheit zu (RT-Bd. 425, S. 2896  ff.).

2

Der RPräs. hatte den GesEntw. unerledigt wegen „ernster Bedenken“ zurückgegeben. Dem RPräs. schien eine verfassungsändernde Mehrheit notwendig, da nach seiner Ansicht die Vorlage im Widerspruch zu den Art. 105 (Verbot von Sondergerichten) und Art. 109 Abs. 1 RV (Gleichheit vor dem Gesetz) stehe. Er bitte um eine Stellungnahme der RReg; trete sie dem Gutachten des RJM bei, dann bitte er um ein Gutachten „des RGPräs. oder des Präsidenten eines anderen hohen Gerichts“ (Schreiben an den RK vom 3. 7.; R 43 I /2208 , gefunden in R 43 I /2209 , Bl. 45 f.).

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Gemeint ist das in Anm. 1 genannte Gutachten.

Der Ministerialdirektor in der Reichskanzlei führte aus, daß er den Reichskanzler[793] sogleich über den Sachverhalt unterrichtet habe4. Er glaube, den Standpunkt des Reichskanzlers folgendermaßen darlegen zu können: Gegen die Auswahl eines besonderen Gutachters über die Fragen der Verfassungsmäßigkeit des Standesherren-Sperrgesetzes habe der Reichskanzler keine Bedenken. Bedenken habe er jedoch gegen die Betrauung des Reichsgerichtspräsidenten Dr. Bumke mit dieser Aufgabe aus den bereits von Staatssekretär Dr. Joël dargelegten Gründen. Am richtigsten erscheine es dem Reichskanzler, den Kammergerichtspräsidenten Tigges um die Erstattung des Gutachtens zu bitten. Schließlich wolle er sich aber auch mit der Wahl des Oberreichsanwalts a. D. Dr. Ebermayer einverstanden erklären, wenn der Herr Reichspräsident dieser Wahl zustimme. Auf jeden Fall müsse nach Ansicht des Reichskanzlers erst das Gutachten dieser Persönlichkeit abgewartet werden, bevor eine Stellungnahme des Kabinetts erfolge.

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Der RK war durch Schreiben des MinDir. v. Hagenow vom 3. 7. informiert worden (R 43 I /1907 , Bl. 41 f.).

Staatssekretär Dr. Weismann führte aus, das preußische Kabinett habe sich heute (4. Juli) mit der Angelegenheit besonders befaßt. Das preußische Kabinett habe stets auf dem Standpunkt gestanden, daß das Standesherren-Sperrgesetz nicht verfassungsändernder Natur sei. Die preußische Ansicht gehe ferner dahin, daß die amtlichen Gutachten des Reichsjustiz- und des Reichsministeriums des Innern genügen müßten, den Reichspräsidenten davon zu überzeugen, daß der Entwurf nicht verfassungsändernd sei. Der preußische Ministerpräsident sei auch gern bereit, in diesem Sinne mit dem Reichspräsidenten zu sprechen.

Die Betrauung des früheren Reichsgerichtspräsidenten Dr. Simons oder des jetzigen Reichsgerichtspräsidenten Dr. Bumke mit der Erstattung des Gutachtens sei nach preußischer Ansicht unmöglich. Bedenklich sei es auch, wenn der Kammergerichtspräsident Tigges das Gutachten erstatten solle. Mit der Person des früheren Oberreichsanwalts Ebermayer könne sich Preußen einverstanden erklären.

Auf jeden Fall müsse dem Gutachter aufgegeben werden, seine Arbeit bis zum Montag, dem 8. Juli, zu beenden, weil am Dienstag, dem 9. Juli, Termin wegen der Hessenrente vor dem Reichsgericht anstehe. Es sei bestimmt anzunehmen, daß ein für beide Teile annehmbarer Vergleich mit Kurhessen und auch mit Schleswig-Holstein zustandekomme, wenn nicht eine gerichtliche Entscheidung vorher falle.

Ministerialrat Dr. Döhle betonte, daß er den Reichspräsidenten über alle Einzelheiten der Angelegenheit noch nicht habe unterrichten können, weil er insbesondere die Stellungnahme des Reichskanzlers erst heute morgen (4. Juli) erfahren habe. Für den Reichspräsidenten sei das Ganze eine rein akademische Frage. Er fühle sich ganz ohne Rücksicht darauf, daß gerade in den nächsten Tagen das Reichsgericht in der Frage der Hessenrente entscheiden solle, auf Grund der Reichsverfassung zu genauester Prüfung der Frage verpflichtet, ob das Standesherren-Sperrgesetz verfassungsändernder Natur sei. Auf die Auswahl eines besonderen Gutachters werde der Reichspräsident kaum verzichten.[794] Er glaube sagen zu können, daß der Reichspräsident mit der Person Ebermayers als Gutachter einverstanden sein werde.

Der Reichsminister des Innern führte aus, daß er schon vor der letzten Plenarsitzung des Reichstags dem Reichsminister der Justiz seine Auffassung mitgeteilt habe, der Gesetzentwurf sei nicht verfassungsändernd. Er stimme dem Gutachten des Staatssekretärs Joël in allen Punkten bei. Ein anderes Gutachten werde seine Ansicht nicht ändern können. Das Reichskabinett solle erst dann einen endgültigen Beschluß fassen, wenn das Gutachten der noch auszuwählenden Persönlichkeit vorliege.

Auf eine Frage des Reichsministers für die besetzten Gebiete erklärte Staatssekretär Dr. Weismann, daß der 6. Senat des Reichsgerichts in der Frage der Hessenrente am 9. Juli vielleicht eine Vertagung vornehmen könne. Die preußische Regierung habe jedoch darauf keinen Einfluß.

Staatssekretär Dr. Joël stimmte diesen Ausführungen zu und erklärte im übrigen, es sei immerhin zweifelhaft, ob das Reichsgericht sich zu einer Vertagung entschließen werde.

Der Reichsminister für die besetzten Gebiete bat, zu überlegen, ob das Gutachten des Reichsjustizministeriums dem Reichspräsidenten zur Kenntnis zu bringen und eventuell von dem Reichsminister des Innern gemeinsam mit Staatssekretär Dr. Joël inhaltlich vorzutragen sei.

Nach eingehender Aussprache wurde folgender Beschluß gefaßt:

Oberreichsanwalt a. D. Professor Dr. Ebermayer soll umgehend um Erstattung eines Gutachtens über die Frage gebeten werden, ob der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Aussetzung von Rechtsstreitigkeiten über ältere staatliche Renten, verfassungsändernder Natur ist.

Es ist ihm anheimzugeben, das Gutachten möglichst schnell zu erstatten, ohne ausdrücklich einen Termin für Erstattung des Gutachtens zu setzen.

Das Gutachten des Reichsjustizministeriums und des Reichsministeriums des Innern soll umgehend dem Reichspräsidenten zugeleitet werden. Es ist in Abschrift auch den übrigen Reichsressorts sowie dem preußischen Staatsministerium zu übersenden.

Die zuständigen Reichsminister bzw. Staatssekretäre sind selbstverständlich bereit, dem Reichspräsidenten das Gutachten des Reichsjustizministeriums und des Reichsministeriums des Innern entweder sofort oder gemeinsam mit dem Gutachten des Oberreichsanwalts a. D. Dr. Ebermayer vorzutragen.

Von einer Mitteilung an die Presse wird Abstand genommen5.

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Das Gutachten des ehemaligen Oberreichsanwalts Ebermayer, das von StS Joël in der Ministerbesprechung vom 6. 7., P. 1 verlesen wurde, deckte sich in der Auffassung mit der des RJMin. Daraufhin erklärte MinR Döhle, der RPräs. werde das Gesetz unterzeichnen. In einem vom Kabinett gebilligten Schreiben teilte der RWiM dem RPräs. mit, das Kabinett habe am 6. 7. einmütig festgestellt, daß der Entwurf nicht verfassungsändernden Charakter habe. Das Gesetz wurde am gleichen Tag ausgefertigt (RGBl. 1929 I, S. 131 ). Die Annahme des Standesherrengesetzes erfolgte im RT mit verfassungsändernder Mehrheit am 11.12.29 (RT-Bd. 426, S. 3521  ff.). Es wurde veröffentlicht im RGBl. 1929 I, S. 221  ff.

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